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XX

In Biskra zog sich Madame Momoro gleich in ihr Zimmer zurück und Ogle hatte, zum ersten Male seit er sie kannte, den Eindruck, daß sie Ruhe nötig habe.

»Ich hoffe, daß sie ihre Kräfte nicht überschätzt hat«, meinte er zu Hyacinthe auf dem Wege zur Bankfiliale, wo er seine Briefe abholen wollte.

»Meine Mutter?« Hyacinthe lachte auf. »Da können Sie ganz unbesorgt sein. Die hält zweimal so viel aus wie Sie und ich. Sie würde in fünf Tagen zu Fuß von hier bis Hamman-Meskutin laufen, dort in der heißen Quelle baden, sich zehn Minuten hinlegen und nachher wie ein frisch geprägtes Goldstück aussehen. – Sie wird nach dem Abendessen imstande sein, die ganze Nacht Bridge zu spielen, wenn sich Partner finden.«

Die Bank war schon geschlossen, als sie hinkamen.

»Wir kommen zu spät«, sagte Hyacinthe und las einen Anschlag an der Türe. »Auch morgen werden Sie Ihre Briefe nicht abholen können – es ist Feiertag.« Sie gingen durch die Bazarstraße zum Hotel zurück. Prächtig gekleidete Kaufleute forderten sie auf, in ihren Läden Kaffee zu trinken, böse dreinblickende Burschen in schmutzigweißen Burnussen drängten sich heran und boten Dolche an, die aus alten Pfeilen geschliffen waren und in roten Lederscheiden steckten. Bettelkinder in Lumpen, die aus verfilztem Staub zu bestehen schienen, hängten sich an Ogles Rock und heulten laut: »Good morni, Mister Lady! Panny, Panny, Give Panny!« Andere Bettler und Hausierer kamen in flatternden Gewändern wie hungrige Vögel von allen Seiten herbei.

Hyacinthe verscheuchte sie; drohend schwang er seinen leichten Spazierstock und die wilde Rauheit seiner Stimme verblüffte Ogle, obwohl er die Worte nicht verstand.

»Es waren bloß ein paar Flüche in schlechtem Arabisch«, erklärte ihm der Jüngling. Sie hatten indes den Bogengang ihres Hotels erreicht und Hyacinthe stieß einen langen Seufzer aus. »Ich werde jetzt auf mein Zimmer gehen und mich wieder zwecklos mit diesem öden Bericht plagen.«

»Zwecklos?«

»Ganz zwecklos. Keiner meiner Vorgesetzten wird ihm die geringste Beachtung schenken. Kein Mensch wird ihn je lesen.«

»Sie hassen Ihren Beruf?« erkundigte sich Ogle.

»Hassen?« Hyacinthe zuckte die Achseln und lächelte schwach. »Wie könnte man solch ein Nichts hassen?« Trotz seines zurückhaltenden Wesens und der kühlen Frühreife seines Benehmens hatte Hyacinthe manchmal einen so kindlichen Tonfall aufrichtigen Kummers, daß Ogle Mitleid für den Jungen fühlte und ihm zu helfen wünschte.

»Das heißt, Sie hassen ihn tatsächlich. Warum haben Sie diese Stelle angenommen?« fragte Ogle weiter.

»Ein Freund meiner Mutter hat sie mir verschafft. Aber knapp einen Monat nachher lenkte er sein Automobil mit 150 Kilometer Geschwindigkeit in ein anderes hinein, danach war er nicht mehr in der Lage, noch irgendetwas für mich zu tun, oder für irgend jemanden andern, ausgenommen für die Aktionäre des Krematoriums, denn es war sein letzter Wunsch verbrannt zu werden. So mache ich noch immer das gleiche Nichts …«

»Aber Ihre Mutter hat mir gesagt, daß Sie Aussicht hätten, mit einem Impresario in Paris etwas zu beginnen.«

»So, hat sie Ihnen davon erzählt?« Hyacinthe blickte ihn einen Augenblick mit fragender Schärfe an. Dann senkte er wieder die Augen. »Nun ja, ich würde gerne an eine solche Chance glauben …«, meinte er pessimistisch. »Auf Wiedersehen beim Dinner!« Doch nach einigen Schritten kehrte er nochmals um und fügte hinzu: »Es ist bald Sonnenuntergang, der hier eine Berühmtheit ist. Sie dürfen nicht versäumen, während der nächsten Stunde auf dem Hoteldach zu sein.«

Die flüchtige Skizze, die Hyacinthe von Madame Momoros Freund, seinem Gönner, entworfen hatte, beschäftigte die Gedanken des jungen Amerikaners, während er die breite Freitreppe hinaufging. Seine politische Bedeutung mußte nicht gering gewesen sein, und doch verwarf Ogle den Gedanken an einen ältlichen Philanthropen. Seine Phantasie ließ eines jener Bilder vor ihm erstehen, wie sie oft unerklärlicherweise durch zwei, drei nüchterne Worte herbeigezaubert werden: er sah einen schlanken, blonden Mann von vierzig Jahren, unter dessen blasser, hoher Stirn melancholische Augen blickten, mit seinem Rennwagen in irrsinnigem Tempo auf einer Chaussee der französischen Provinz dahinrasen, weil er Gründe hatte, Vergessen zu finden, die Erinnerung an sich auszulöschen … Das Schicksal dieses Mannes, der gewiß ein großer Verehrer Madame Momoros gewesen war, faszinierte Ogle, aber er begriff, daß sein Wunsch, mehr über diesen Toten zu erfahren, kaum jemals in Erfüllung gehen würde.

In diese Gedanken versunken war er auf das große geräumige Hoteldach gelangt. Er schien zu früh gekommen zu sein, denn die in vorsorglicher Weise bereitgestellten Stühle und Bänke waren noch leer, obwohl eine kaum merkliche Veränderung der Farben in der Wüste, auf den fernen Bergen und über der tiefgrünen Oase schon den Beginn des Schauspiels ankündigte. Als Ogles Blicke über den Vordergrund in der Nähe des Hotels schweiften, fühlte er seine erwartungsvolle Stimmung unsanft gestört. Auf den Wänden der Garage und an den Mauern der umliegenden Gebäude priesen riesenhafte Ankündigungen Benzin, Pneumatiks, Hotels und andere vom Fremdenverkehr lebende Industrien an. »Sonnenuntergang in der Sahara wird täglich um fünf Uhr fünfundvierzig präzise eingeschaltet!« sprach er mit säuerlich verzogenem Mund zu sich selbst. »Es ist zu arg. Von den Franzosen hätte ich das nie erwartet! Ich glaube, selbst Tinker hätte das nicht ärger gemacht.«

Eine Art Minarett ragte über das Dach hinaus. Ogle erkletterte die innere Wendeltreppe und trat durch eine Tür auf eine schmale Galerie, die um alle vier Seiten des schlanken Turmes lief. Er wandte sich nach Süden und hatte dort und im Osten das prächtigste Ausstattungsstück vor sich und obwohl die allzu aufdringlichen Ankündigungen im Vordergrund immer wieder verhinderten, daß er den Gedanken an eine künstliche Inszenierung zur Hebung des Fremdenverkehrs los wurde, mußte er zugeben, daß sie zumindest unübertrefflich war. Wie eine steile Küste, die im weiten Bogen das Meer umschließt, lagen die kahlen Berge in der Ferne, aus denen sich ein langer Rücken zur flachen Wüste herabsenkte. Und diese ganze gewaltige Bergkette wurde zu einer von Minute zu Minute gesteigerten überwältigenden Farbensymphonie. Ogles Blicke ruhten, wie von einem Zauber gebannt, auf dem Bild. Er wünschte, das Schauspiel möge endlos währen.

Dann dankte er im Geiste Madame Momoro, daß sie ihn hierher geführt hatte.

Noch ein anderes Lebewesen schien in seiner Nähe dem gleichen Zauber zu erliegen, denn er vernahm ein schwach gehauchtes »Ah!« Er konnte nicht sehen, wer diesen Laut ausgestoßen hatte, es mußte jemand auf der Nordseite der Galerie gewesen sein und die Wände des Minaretts verbargen ihn. Doch plötzlich fühlte er, daß dieser Eindringling in seiner einsamen Nähe ein Mädchen war. Und ohne jeden verständlichen Grund dachte er sofort an Olivia Tinker. Nichts hätte sonderbarer sein können, er war doch gewiß mit den Seufzern der »kleinen Provinzlerin« nicht so vertraut, daß er sie daran hätte erkennen können, besonders dann nicht, wenn es Seufzer des Entzückens waren.

Andere Laute, Schritte auf der Treppe und halbunterdrückte Ausrufe zeigten Ogle an, daß noch zwei andere Damen auf der Nordseite der Galerie aufgetaucht waren. Nach einigen Augenblicken der Stille begann eine Frauenstimme wie in der Schule Verse aufzusagen. Eine Mädchenstimme, die gleiche, die das »Ah« hatte hören lassen, protestierte lebhaft:

»Mein Gott, Mutter, das ist entsetzlich! Das Gedicht ist entsetzlich und deine Rezitation ist noch schrecklicher!«

Frau Tinker lachte: »Sei nicht so heikel.« Dann wandte sie sich offenbar an die dritte anwesende Person: »Sie werden sich daran gewöhnen müssen, Frau Shuler, daß meine Tochter ihres Vaters und ihrer Mutter wegen täglich einige Male in Ohnmacht fällt. – Sie tut ihr Möglichstes, uns zu erziehen, und seitdem wir in der Wüste gewesen sind, ist sie sogar viel duldsamer geworden. Diese Reise hat ihr entschieden gut getan.«

»Gar keine Spur«, verwahrte sich Olivia sogleich, aber sie schwächte ihre Verwahrung durch ein freundliches, halbunterdrücktes Gelächter ab, das ihrem eigenen Widerspruch zu widersprechen und die Behauptung ihrer Mutter zu bestätigen schien.

Ogles erste Empfindung war Verwunderung darüber, daß ihn das Auftauchen der beiden Tinker-Damen auf der Galerie dieses Hoteldaches nicht mehr überraschte. Dadurch wurde er sich dessen bewußt, daß er in seinem Innern fest damit gerechnet hatte, die Familie Tinker in Biskra vorzufinden, obwohl er während des letzten Teiles der Reise bemüht gewesen war, sich durch Madame Momoros Diplomatenkunst vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Nun wußte er's: Biskra war also der Ort, in dem sie Tinker hatte erreichen wollen, und die Begegnung stand unmittelbar bevor, wenn auch Tinker selbst noch nichts davon ahnen mochte.

Während Frau Tinkers Stimme im Tonfall der Vorsitzenden eines Wohltätigkeitsvereines, die den Rechenschaftsbericht verliest, unentwegt an sein Ohr klang, dachte Ogle erbittert und doch auch schadenfroh daran, welche unvorhergesehenen Komplikationen in allernächster Zukunft das Leben dieses Tinker verwirren würden.

Sie sprach zu ihrer Begleiterin offenbar von ihrem Mann:

»Ja, liebe Frau Shuler, ich wollte, er würde endlich dem Beispiel eines wahren Gentleman – wie es Ihr Gatte ist – folgen. – Erst heute früh habe ich ihm wieder gesagt: ›Warum bemühst du dich nicht wenigstens, dich so zu benehmen wie er, wenn du ihn gar so sehr bewunderst?‹«

»Mein Mann bewundert aber auch ihn,« erwiderte Frau Shuler mit Wärme. »Er sagte mir, er halte Herrn Tinker für einen der tüchtigsten und bedeutendsten Männer Amerikas. Er hat mir von der Papiergesellschaft und dem Gaswerk und von all den anderen vielen Industrien erzählt, die Ihr Mann geschaffen hat. Und am meisten bewundert er ihn, weil Ihr Mann trotz aller märchenhaften Erfolge so einfach und liebenswürdig geblieben ist, als wäre er nichts besonderes. Jedem anderen würde eine solche Stellung den Kopf verdrehen, und daß es bei Ihrem Mann, in dessen Unternehmungen doch acht- oder zehntausend Leute arbeiten, nicht der Fall war, ist eben das Wunderbare an ihm. Diese erstaunliche Arbeitskraft und Energie …«

»Ja, Energie!« unterbrach Frau Tinker. »Das ist das ganze Übel! Jeden Tag predige ich ihm, er solle sich doch wie die anderen Menschen nach dem Mittagessen niederlegen und ein kleines Schläfchen machen – aber er – Gott bewahre! In jedem Ort, durch den wir kommen, muß er sofort herausfinden, ob es ein Elektrizitätswerk, ein Wasserwerk und Kanalisationsanlagen gibt. Und wenn es so etwas gibt, dann schleppt er unseren armen Kurier dahin. ›Passen Sie auf, John‹ – er nennt ihn John Edwards, obwohl er tatsächlich Jean Edouard Le Seyeux heißt, aber mein Mann behauptet, das einzige, was man mit diesem unaussprechlichen Zunamen machen könne, sei, ihn zu vergessen. – ›Passen Sie auf, John,‹ sagt er, ›ob Römer, Karthager oder Mohammedaner oder weiß der Teufel was für Kerle hier ihre alten Steine liegen gelassen haben, das ist mir ganz gleich; aber morgen früh um sieben Uhr will ich mir das Elektrizitätswerk ansehen …‹«

Jetzt mischte sich die klagende Stimme ihrer Tochter ins Gespräch:

»Kannst du nicht wenigstens für eine Weile aufhören, von Papa zu reden? Es gibt doch jetzt wirklich Besseres zu tun!«

»Ja, ja, mein Kind,« beschwichtigte die Mutter, »der Sonnenuntergang ist feenhaft und man sollte wirklich nur schweigen und schauen. – Nie im Leben habe ich solche Farben gesehen …« Die Stimme wurde etwas leiser, als sie gleich darauf ihr Gespräch mit Frau Shuler fortsetzte: »Ja, so ist es, Frau Shuler, er läßt sich nicht das Mindeste sagen. Auch heute wieder wollte ich, er solle sich ein wenig ausruhen, aber da ist er mit einem jungen Paar ins Gespräch gekommen – Deutsche oder Preußen oder so etwas Ähnliches – und hat ihnen natürlich gleich erzählt, was Afrika an amerikanischen Einrichtungen und Maschinen und derlei brauchte. Sie wissen ja, wie er ist. – Und schließlich hat er sie dazu gebracht, heute mit ihm einen langen Kamelritt zu machen. Weiß der Himmel, wo sie sich herumtreiben und wann sie zurückkommen werden. Er …«

»Ich gebe es auf!« unterbrach Olivia ein zweites Mal und lachte resigniert.

Ogle hörte das Öffnen einer Türe, und Schritte, die die Wendeltreppe des Minaretts hinabeilten. Dann wurde seine Aufmerksamkeit durch ein lärmendes Toben abgelenkt, das von einem trockenen Flußbett im entferntesten Teil der Oase herüberklang und aus einer mächtigen Staubwolke zu dringen schien, in der neben grellen Farbenflecken und blitzendem Metall nur unklar die hohen Formen von Kamelen kenntlich waren.

Frau Tinkers Stimme klang erregt: »Frau Shuler! Sehen Sie! Dort kommen sie gerade aus der Wüste!«


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