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Als Laurence Ogle sich an einer Krümmung des Weges zum letztenmal umdrehte, um ihnen zuzuwinken, erschienen ihm die beiden als ganz kleine bunte Flecken vor den grauen Ruinen.
»Sonderbare Menschen!« sagte der junge Dramatiker zu sich selbst. Und die kleine Olivia Tinker schien ihm fast ebenso sonderbar, weil sie gewünscht hatte, Dr. Medschila solle ihm sagen, daß ihr Vater ein »Römer« sei! Was Archäologen für Einfälle hatten! Aber als Ogle darüber nachsann, erinnerte er sich, daß ihm vom Minarett in Biskra Tinkers Gestalt in ihrem scharlachroten Gewande auf dem großen weißen Kamel zuerst lächerlich erschienen war, und daß das Bild dann doch etwas Bedeutendes bekommen hatte. Vielleicht hatte Dr. Medschila recht mit seinem »Römer«; römisch freilich hieß gigantisch.
Der junge Mann im Landaulet zuckte plötzlich zusammen. In seinem Halse entstand ein Ton des Protestes, wie ihn Zahnärzte manchmal von ihren Patienten zu hören bekommen, denn Madame Momoros verletzende Abschiedsworte erwachten in seinem Gedächtnis. Hatte sie recht? Hatte er wirklich mitansehen müssen, wie dieser Barbar immer größer und größer wurde, wie er Dr. Medschilas »Römer« geworden war, er selbst aber immer kleiner und kleiner, ein Bankerotteur in seiner Kunst und seinem Leben? Konnte es wirklich wahr sein, daß Tinker groß war, gigantisch, der »neue Römer«?
Ogle dachte angestrengt nach. Er sah die halbbetrunkenen, ältlichen Männer der »Duumvir« wieder, mit Tinker als ihrem Anführer; er hörte wieder die peinliche Frage: »Schnucki, was macht Bibbih?« Er dachte auch an den Schwächling von Gatten, der sich widerstandslos in ein Automobil packen ließ, weil ihn ein lustiges Mädchen auf die Schulter geklopft hatte …
Ogle atmete tief auf und lehnte sich bequemer in die Kissen zurück; Tinker war wieder in sein Nichts zurückgeschrumpft! Doch bald wurde sein Blick wieder düster. Er dachte an Madame Momoro, die schon »etwas erreicht« hatte und wahrscheinlich auf mehr hoffte. Selbst der arme Dr. Medschila hoffte »etwas zu erreichen« – und warum befand denn er selbst sich auf dem Wege nach Tunis? Er hätte mit Cayzac telegraphisch vereinbaren können, daß ihn der Wagen ohne weitere Kosten den kürzeren Weg nach Algier zurückbringe. Fuhr er nicht nach Tunis, weil auch er hoffte, dort den einzigen Menschen zu treffen, dem Geld nichts ausmachte und der ihm vielleicht helfen würde, ohne ihm dabei wehe zu tun? Er hatte es sich selbst nicht gestehen wollen, aber er war sich die ganze Zeit über dessen bewußt gewesen: auch er hoffte bei Tinker »etwas zu erreichen«.
Diese Botschaft, die Olivia ihm durch den wunderlichen Alten hatte zukommen lassen, war sonderbar; sie betete ihren Vater an, und wollte, daß auch Ogle, sein scharfer Kritiker, ihn bewundern lerne. Es war zugleich etwas Wunderliches und etwas Zärtliches in dem, was sie da getan hatte: die Zärtlichkeit galt ihrem Vater und vielleicht auch ganz klein wenig ihm … Aber als Ogle sich entschloß, gehorsam zu sein und in dem Zechbruder von der »Duumvir« einen »neuen Römer« zu sehen, fand er, daß ihm dies unmöglich sei.
Er konnte über Tinker zu keinem Resultat gelangen; Tinker war ihm ein zu schwieriges Problem.
Zufällig war zur selben Stunde wie Ogle auch ein anderer zu der gleichen Meinung über Tinker gelangt; während es der junge verstörte Amerikaner auf der Fahrt nach Konstantine aufgab, aus Tinker klug zu werden, tat der Kurier Le Seyeux beim Grabe des heiligen Augustin auf einer Anhöhe vor der Stadt Bone dasselbe.
»Wie, sagen Sie, hieß der Mann?« fragte Tinker nun schon zum dritten Male seinen Kurier.
»Der heilige Augustin.«
»Was hat er getan, John?«
»Er war Bischof; der große Kirchenvater des vierten Jahrhunderts.«
»Aha, also ein Prediger«, meinte Tinker nachdenklich. »Und welcher Sekte gehörte er an?«
In Le Seyeux' Augen malte sich einige Verwirrung, aber er antwortete einfach: »Er gehörte der Kirche an.«
»Ja, aber welcher?« Dann, als er merkte, daß der Kurier ihn nicht begreifen konnte, erklärte ihm Tinker bereitwillig, was er meinte: »Wissen Sie, John, bei uns zu Hause gibt es Methodisten und Presbyterianer, Unitarier und Katholiken, Anhänger der christlichen Glaubensgemeinschaft, Baptisten, Quäker, Adventisten des siebenten Tages, Kalvinisten, Lutheraner und ich weiß nicht, was noch alles. Genau so habt ihr hier Mohammedaner und Katholiken und wahrscheinlich noch viele andere. Na, und dieser Mann da – wie hieß er nur?«
»Der heilige Augustin.«
»Heilig, hm«, wiederholte Tinker nachdenklich, »also wahrscheinlich katholisch. Kommt er in der Bibel vor?«
»In der Bibel? Nein! Viertes Jahrhundert! Er war Bischof. Er schrieb die berühmten ›Konfessionen‹! Er hat die Lehre von der Erbsünde aufgestellt. Er hat gesagt, daß ein Kind, das ungetauft stirbt, in die Hölle kommt.«
»Oh, das ist er?« Tinker schien plötzlich erleuchtet. »Ich verstehe. Wie mein Großvater mütterlicherseits, Presbyterianer.«
»Nein, nein! Der heilige Augustin war kein Presbyterianer. Er ist von der alten Kirche. Er ist …«
»Macht nichts«, sagte Tinker. »Ich wollte sagen, daß mein Großvater Presbyterianer war, nicht der Bursche da. Aber es sieht so aus, als hätten sie so ziemlich das gleiche geglaubt.« Er blickte versunken auf die runde, steinerne Grabplatte, zwickte mit einem kleinen goldenen Instrument, das er an seiner Uhrkette trug, bedächtig das Ende seiner Zigarre ab, schüttelte den Kopf und bemerkte scherzend: »Unmodern.«
»Wie bitte? Der heilige Augustin liegt seit fünfzehn Jahrhunderten hier begraben.«
»Das meine ich eben,« sagte Tinker, »alter Quark – die ganze Sache.«
»Wie – meinen Sie?«
»Ja, das ist nämlich so«, erklärte Tinker, während er seine Zigarre anzündete. »Wie hieß doch nur der andere alte Bursche, dessen Grab wir in jener fürchterlich stinkenden Schmutzstadt besucht haben?«
»Sidi Okba, der große mohammedanische Eroberer.«
»Ja. Der modert dort schon dreizehnhundert Jahre, und dieser hier, wie Sie sagen, fünfzehnhundert. Dieser alte Sidi Okba war Mohammedaner und wollte jeden töten, der nicht seinen Glauben annahm; und hier dieser alte Bursche wollte wieder jeden zur Hölle fahren lassen, der nicht zu seinem Gott betete. Alles unmodern, John. Die einzige Hölle, die uns heutzutage Sorge macht, ist die, daß wir in unserer Entwicklung nicht weiterkommen. Wir müssen in jedem Jahr größere und bessere Geschäfte machen als im Jahr vorher. Die göttliche Allmacht kümmert sich keinen Pfifferling um irgend etwas anderes als um diese Entwicklung; sie würde uns auslöschen und an ihre Geschäfte gehen, ohne uns auch nur einen einzigen Gedanken zu schenken, wie sie so viele Rassen ausgelöscht hat, deren Reste wir auf unserem Weg von Algier hierher gesehen haben! Sie beschützt nur die Jungen, die am Morgen nach einem Erdbeben die Pläne zu einer besseren und größeren Stadt fertig aus der Tasche ziehen! Über die anderen fährt sie nur so mit einem Radiergummi hin, und wir haben ja hier in Afrika ein paar Orte gesehen, in denen der Radiergummi ganz anständig gewütet hat. Verstehen Sie mich, John?«
Der Kurier wischte sich die Stirne. »Ja, Herr. – Ich fürchte, die Damen werden finden, daß wir sie zu lange warten lassen.«
»Da haben Sie recht.« Tinker schritt, vom Kurier begleitet, den Hügel hinab. »Um wieviel Uhr, glauben Sie, werden wir morgen in Tunis sein?«
»Wenn wir früh genug wegfahren, kommen wir gegen fünf Uhr nachmittags an.«
»So, so«, erwiderte Tinker und warf einen ängstlichen Blick nach vorne, auf den wartenden Wagen; Frau Tinker lehnte aus dem Fenster des Automobils und beobachtete mit strenger Miene, wie er näherkam; sie blickte auf ihren Gatten, wie der Lehrer auf den schlechtesten Schüler seiner Klasse. Tinker faßte mit starkem Griff den Arm des Kuriers. »Hören Sie mich an, John,« sagte er, »Sie müssen das letzte Stück mit dem zweiten Wagen vorausfahren, damit alles hergerichtet ist, wenn wir in Tunis ankommen, und Sie müssen die Damen im gleichen Augenblick, in dem sie die Hotelhalle betreten, in ihre Zimmer hinaufführen. Ich habe so das Gefühl, als könnte es einen Grund geben, daß es für alle besser wäre, wenn die Frauen sich anfangs nicht zuviel umsehen könnten, sondern lieber sofort in ihre Zimmer verschwinden. Verstehen Sie?«
Tinker blieb in einiger Entfernung vor den Automobilen stehen und hielt auch den Kurier zurück: »Also tun Sie, was ich Ihnen sage; sofort in die Zimmer hinauf – das ist das Wichtigste, und das dürfen Sie nicht vergessen. Und sobald Sie das getan haben, holen Sie ein paar von den großen arabischen Juwelenhändlern und sagen Sie ihnen, sie sollen das Beste mitbringen, was sie zu verkaufen haben. Verstanden?«
Le Seyeux verstand mit größtem Vergnügen; seine Augen leuchteten, er lächelte und nickte eifrig.
»Verlassen Sie sich nur auf mich, Herr Tinker. Eine halbe Stunde nach unserer Ankunft …«
Schrill und scharf wurden sie von Frau Tinkers Stimme unterbrochen. Sie hatte sich noch weiter aus dem Fenster gelehnt und tastete an dem Türdrücker herum, als wollte sie öffnen und aufsteigen.
»Was gibt es denn da schon wieder für Geheimnisse?« rief sie zornig. »Earl, hörst du denn nicht? Möchtest du mir nicht gefälligst antworten?«
»Mama«, sagte Olivia in beschwörendem Ton. »Bitte, vergiß doch nicht …«
»Schweig! Laß mich in Ruhe!« rief Frau Tinker ihrer Tochter zu und schrie dann ihrem näherkommenden Gatten heftig entgegen: »Was hast du immer für Heimlichkeiten mit dem Kurier? Was bedeuten alle diese mysteriösen …«
»Aber Mamma«, sagte er kläglich. »Aber Schnucki …«
»Wirst du mir endlich antworten? Wen erwartest du in der nächsten Stadt, um dir wieder die Schulter streicheln zu lassen? Was …«
»Aber Schnucki …«
»Nenn' mich nicht immer Schnucki! Was sind das für geheime Pläne, die ihr da eben geschmiedet habt?«
Tinker versuchte würdig und vorwurfsvoll dreinzuschauen, und zum Teil gelang es ihm auch.
»Wir haben nur über diesen Bischof gesprochen«, sagte er, während er zu Frau und Tochter in den Wagen stieg.