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IV

Der Jüngling, dem dieses bezaubernde Wort gegolten hatte, sagte geistesabwesend »Pardon« und spielte aus. Er war ein schlanker, junger Mensch von achtzehn oder zwanzig Jahren, »kameenartigem« Profil, wie Ogle sich in seinen Gedanken ausdrückte, und hatte die gleichen Haare und Augen wie seine Mutter, nur war er schmächtiger und nicht so groß wie sie. Zwischen seinen Augenbrauen lag ein kleiner, senkrechter Strich, der sich manchmal, wenn das Spiel schärfere Gedankenarbeit erforderte, zu einer richtigen Falte vertiefte. Im übrigen war sein Gesicht von olivenfarbener Sanftmut und vollkommen ausdrucksloser Zurückhaltung; doch wenn seine langwimprigen Augenlider sich hoben, enthüllten sie durchaus nicht die erwartete jugendliche Unschuld, sondern eine durch frühzeitige Erfahrung überraschend gereifte Intelligenz.

Die beiden anderen Spielerinnen waren zwei ältliche Damen in Schwarz; nicht nur die Trauer schien ihnen gemeinsam, sondern auch eine unverkennbare Wohlhabenheit, denn selbst wenn sie nicht mehr besessen hätten als die Ringe an ihren Fingern, wären sie unbestreitbar reich zu nennen gewesen. Für die Augen der drei verstohlen hinstarrenden jungen Amerikaner bildeten sie jedoch nur einen verschwimmenden Hintergrund.

Der wundervolle Klang von Madame Momoros Stimme hatte jeden Zweifel beseitigt, der noch über ihre Person möglich gewesen wäre. Denn wie einnehmend die Erscheinung eines Menschen auch sein mag, sein wahres Wesen erkennt man erst aus seiner Stimme. Macklyn war der erste, der den Kopf von ihr abwandte. Er trank sein Glas leer, betupfte mit einem blau geränderten Taschentuch leicht seine Lippen und sagte beinahe flüsternd:

»Ich habe ein paar Sachen in französischer Sprache geschrieben. Keine andere ist so schmiegsam. – Sprechen Sie arabisch, Herr Ogle?«

»Arabisch? – Nein. Ich hatte nie Gelegenheit dazu. Warum?«

»Ich glaube mich zu erinnern, daß in der Zeitung stand, Sie gingen nach Nordafrika. Man kann sich von den Arabern kein richtiges Bild machen, wenn man ihre Sprache nicht versteht. Es gibt ein paar sehr interessante Gedichte in kabylischen Dialekten … Sie gehen doch zu den Kabylen?«

»Wahrscheinlich«, erwiderte Ogle, obwohl er nie zuvor von diesem interessanten Volksstamm gehört hatte. Erst eine Woche vor Abgang des Schiffes, als der Erfolg der »Pastoralen Szene« gesichert schien, hatte er sich ganz plötzlich zu seiner Reise entschlossen.

»Sie werden sicher begeistert sein,« fuhr Macklyn fort, »die Kabylen sind ein prachtvolles Volk. In ordentlichen Anzügen – aber eigentlich wäre das schade – würden sie sich selbst auf dem Schiff hier nicht übel ausnehmen.«

»Komische Idee, Macklyn«, lachte Jones spöttisch. »Glauben Sie wirklich, daß viele unserer Landsleute hier so besonders distinguiert aussehen? Eine ziemlich gewöhnliche Gesellschaft, so viel ich gesehen habe.«

»Ja,« gab Macklyn zu, »ich war vorschnell. Sie sind tatsächlich höchst gewöhnlich. Nach dem Aussehen und nach der Passagierliste ist kaum ein Mensch darunter, dem man noch einmal begegnen möchte. Sie sind, fürchte ich, die einzige Berühmtheit an Bord, Herr Ogle.«

Ogle lachte geschmeichelt, lehnte aber bescheiden ab:

»Das ist nicht immer eine beneidenswerte Situation. Aber mit Ihrem Urteil über unsere Mitreisenden haben Sie leider recht. Ehe ich hier heraufkam, warf ich einen Blick in die Halle, dort war eine gut gekleidete, aber wenig anregende Gesellschaft. Hier oben scheint es ja besser zu sein. Und der Raum selbst mit seiner Täfelung und den bunten Fenstern ist viel stimmungsvoller.«

»Ja,« stimmte Jones bei, »und die Stille hier ist mir auch lieber als die ewige italienische Musik da unten.«

»Stille?« wiederholte Macklyn fragend, während er sein Glas auf das Tischchen niederstellte. »Ich fürchte, es wird nicht lange so bleiben. Hören Sie …«

Und er deutete mit einer Handbewegung nach der Türe, die gegen das Achterdeck offen stand und durch die man die Kiellinie des Dampfers als einen weißen, schäumenden Streifen sah, der den blauen Ozean fast bis an den Horizont teilte. Doch nicht dieser schöne Ausblick hatte Macklyns Handbewegung veranlaßt, sondern anschwellende Töne, die aus jener Richtung kamen und die offenbar als Gesang gemeint waren, jedoch weit hinter der Absicht zurückblieben. Rauhe, laute Stimmen näherten sich, in dem Glauben befangen, Harmonien von Tenor und Baß hervorzubringen. Sie gehörten vier nicht mehr jugendlichen, aber noch lungenstarken Männern, die einen Gassenhauer sangen oder zu singen meinten:

»Was macht die Melanie die ganze Nacht …«

Ogle durchlief ein Beben, und seine beiden Gefährten teilten lebhaft seinen Widerwillen, denn der ungezügelte Ausbruch drang als entheiligende Störung in diesen stimmungsvollen Raum, in dem Madame Momoro erhaben und entrückt wie die hoheitsvolle Statue einer sitzenden Göttin in einem stillen Tempel thronte, um sich von drei schwärmerischen jungen Künstlern anbeten zu lassen.

Die Stimmen wurden immer lauter. Die Sänger kamen näher, marschierten offenbar im Takt ihres unerträglichen Chores.

»Was macht die Melanie die ganze Nacht …«

Vier Herren mittleren Alters mit roten Gesichtern stampften im Gleichschritt durch die offene Türe in den Rauchsalon. Ohne den Eindruck zu bedenken, den sie machten, und ohne auf die Stimmung der Anwesenden Rücksicht zu nehmen, ließen sie den Refrain ihres Liedes aus vollen Kehlen ertönen, während sie vor dem kleinen Bartisch Aufstellung nahmen. Schließlich überschrie ein großer Mann mit breitem, glattrasiertem Gesicht, der röteste von ihnen allen und offenbar ihr Anführer, das Gröhlen:

»Aufhören! Laßt eure Melanie jetzt eine Weile in Ruh', damit man ein paar gemütliche Worte reden kann! – Was trinken wir, Laitchen?«

Die Stimme kam Ogle bekannt vor, ja, er erkannte sie. »Barmherziger Gott,« murmelte er, »das ist doch mein Peiniger aus der Nachbarkabine!« Albert Jones fing das Wort auf: »Ihr Peiniger? Sie kennen den Mann?« Ogle erklärte den Zusammenhang.

»Das ist ja derselbe Kerl,« fügte Macklyn hinzu, »von dem wir Ihnen schon erzählten, wie er versuchte, sich Jones und mir anzubiedern. Er sagte damals, außer seiner Frau und seiner Tochter kenne er keine Seele auf dem Schiff. – Das scheint sich gründlich geändert zu haben! Ja, das ist wohl der gräßlichste Typ, den unsere Heimat hervorbringt, und alle vier gehören sie dazu.«

Die Vier umstanden indes geschäftig die Bar, ohne die mißbilligende Aufmerksamkeit zu ahnen, die man ihnen zollte, und erst als sie die gefüllten Gläser in der Hand hielten, dämpften sie ein wenig ihr Lärmen. Zwei von ihnen lehnten die Köpfe aneinander und begannen in gerührter Stimmung halblaut zu fingen: »Komm nach Pasadena …«, während der Anführer, den die drei Künstler einstimmig als den Widerwärtigsten von allen bezeichneten, dem Vierten eine richtige Rede hielt. Er begann die Freiheit der Meere zu preisen, wobei er die Aufmerksamkeit seines Zuhörers dadurch wachzuhalten suchte, daß er dessen obersten Rockknopf zwischen den Fingern behielt und den armen Mann abwechselnd an sich zog und wegstieß.

»Egal wie Sie sagen, mei Gutester: die Leute zu Hause denken gar nicht daran, daß sie nichts zu tun haben, als auf ein Schiff zu gehen, wenn ihnen das Alkoholverbot nicht mehr paßt. Ganz mein Fall. Es ist schon so lange her, seit ich so was Richtiggehendes hinter die Binde gekippt habe, daß ich schon gar nicht mehr wußte, wie das schmeckt. Zu Hause ist ja das Gesetz sicher ganz gut – ich habe selbst dafür gestimmt –, aber mit der Freiheit der Meere ist das auch eine feine Sache. Wenn ich an diesen Teil der Freiheit gedacht hätte, wäre ich wohl schon längst einmal nach Europa rübergerutscht. Komisch, wie sich diese Prohibitionsgewohnheiten in einem festsetzen! Heute nachmittag, als ich den guten alten Doktor Taylor kennen lernte,« (ein heftiger Klaps auf die Schulter des einen Sängers stellte diesen sozusagen allen im Rauchzimmer Anwesenden vor) »und als wir dann euch zwei Gentlemen trafen und der Doktor uns zuflüsterte, er hätte was Feuchtes in seiner Kabine – was haben wir getan? Schleichen uns hinunter zu ihm, wie wir es von zu Hause gewohnt sind, und sitzen beisammen und schenken uns ganz schuldbewußt ein, bis es uns endlich einfällt, daß wir ja gar nichts gegen das Gesetz tun! Es gibt ja eine öffentliche Bar hier, wo jeder trinken kann, was er mag, und kein Mensch hat das Recht, es ihm zu verbieten – außer seiner Frau! Und meine ist so seekrank, die Arme, Gott sei Dank!« Er machte dem sentimentalen Duett ein jähes Ende, indem er jedem der Sänger eine seiner schweren Hände auf die Schulter legte. »Gentlemen, ich habe einen Toast auszubringen: auf den Atlantischen Ozean, das liebliche Land der Freiheit!«

»Auf jedem Dampfer sollte ein Scharfrichter sein«, sagte Macklyn leise mit zusammengebissenen Zähnen. »Nur solche Kerle bringen Amerika bei kultivierten Fremden immer wieder in Mißkredit. Man muß natürlich glauben, ein Kerl wie der sei typisch.«

»Na, gewissermaßen ist er es doch«, erwiderte Ogle. »Zumindest für seinen eigenen Typus.«

Macklyn stimmte ihm brummend bei, und die drei jungen Leute starrten düster auf den typischen Mann. Seine Erscheinung war – ob nun typisch oder nicht – unleugbar eindrucksvoll, obwohl sie in diesem Augenblick sichtlich unter dem Einfluß ungewohnten Alkoholgenusses stand. Er war wohlerzogen genug gewesen, mit Rücksicht auf die anwesende Dame seine grüne, wollige Kappe abzunehmen und die Stirne, die das sandgraue Haar frei ließ, war breit, gutgeformt und geradezu gebieterisch. Schlau, doch wohlwollend blickten seine blauen Augen auf die Welt, und seine Gesichtszüge waren harmonisch und durchaus einnehmend, obwohl die drei empfindsamen jungen Beobachter sie innerlich mit einem ganz anderen Ausdruck bezeichneten. Der Mann, dem sie immer noch ihre gehässigen Blicke sandten, mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, und seine Gestalt begann schon, sich zu runden; trotzdem konnte man ihn deshalb noch lange nicht als einen dicken Herrn bezeichnen. Nachdem seinem Toast auf den Ozean lärmend entsprochen worden war, befahl er sofort eine Nachfüllung der Gläser.

»Dieses Schiff ist herrlich«, verkündete er. »Es hat Ölfeuerung und Glashäuser, eine Konditorei und heißes und kaltes Wasser, tadellose Maschinen, ein Orchester und automatische, wasserdichte Lukendeckel – es ist in jeder Beziehung herrlich, und ich habe nur eins dran auszusetzen: am Bartisch hier fehlt eine Fußstütze! Und deshalb wollen wir jetzt alle unseren Schnaps nehmen, Gentlemen, und uns dort auf jenem Sofa niederlassen, um nett und gemütlich zu plaudern.«

Der Ort, den er für diese Gemütlichkeit vorschlug, war den drei Künstlern gar nicht recht, denn es war das gleiche Sofa, auf dem Macklyn und Jones saßen, ein Doppelsofa, dessen beide Teile nur durch die Rückenlehne getrennt waren. Und erbost blickten sie auf den Sprecher, der seinen Vorschlag schon in die Tat umsetzte. Mit dem gefüllten Glas in einer Hand und mit der andern den früher als Dr. Taylor bezeichneten grauhaarigen Mann vor sich herschiebend, der nicht mehr ganz sicher auf seinen Beinen zu stehen schien, zog er mit seinen Freunden quer durch den Raum zur Sofaecke hin und kam dabei dicht an dem Bridgetisch vorüber. Mit Schrecken gewahrte Ogle, wie das Glas in der ausgestreckten Hand über der seidenen Schulter Madame Momoros heftig schwankte. Doch glücklicherweise wußte sein Träger eine Katastrophe zu vermeiden, im nächsten Augenblick aber stieß er doch heftig gegen den Stuhl des jungen Hyacinthe.

»Entschuldigen Sie, gudr Mann,« redete er ihn wohlwollend an, »ich bin zum erstenmal in so einem schwimmenden Haus. Ich finde ja den Ozean prächtig, aber ich habe es noch nicht erlernt, mich richtig auf ihm zu bewegen.«

Hyacinthe erhob sich steif, nahm diese Entschuldigung mit eisiger Förmlichkeit entgegen, markierte dann eine leichte rasche Verbeugung und ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern oder den Störenfried auch nur anzublicken, setzte er sich wieder nieder und spielte aus.

»Der hat es ihm gut gegeben«, murmelte Macklyn entzückt.

Aber der Mann aus dem Mittelwesten war unerschütterlich. Seine Stimme erfüllte den ganzen Raum.

»Doktor, Sie, Wackstle und Brown setzt euch da aufs Sofa her, ich bleibe auf dem Sessel gegenüber, damit ich euch gut sehen kann, um euch wieder zu erkennen, wenn ich mal wieder Lust auf eine gemütliche Unterhaltung kriege – das heißt, wenn meine Olle, die Ärmste, lange genug seekrank bleibt.«

Als er die Freunde nach seinem Wunsch untergebracht sah, setzte er selber sich in den tiefen Fauteuil und blickte strahlend im Raume umher. Er fand das Leben offenbar schön und seine Umgebung liebenswert. Selbst als sein Blick auf Macklyns und Jones' frostige Gesichter fiel, die über die Lehne des Sofas nach ihm sahen, war das Erkennen seinerseits herzlich.

»Guckemah! Ihr bleibt scheinbar auch gern in der Nähe, wo's was zum Beduhdln gibt!« rief er mit einer Handbewegung, die auch den feindseligen Ogle einbezog. Die drei Köpfe duckten sich, als hätte sie ein eisiger Wasserstrahl getroffen. Ohne sich der Abweisung bewußt zu werden, ließ der herzliche Mann seinen Blick weiter wandern, bis er staunend Madame Momoro gewahrte. »Ach Gottchen, das hätte man in der guten alten Zeit auch nicht erlebt«, sagte er, während er sie beifällig musterte. »Aber ich weiß doch nicht, ob's eigentlich das Richtige ist, daß Damen hier zwischen uns sitzen und rauchen und Karten spielen in einer Bar.«

Ogles Atem setzte vor Entsetzen aus. In seinen Augen bildete es für den Verstoß dieses unmöglichen Mannes keinen Milderungsgrund, daß er sich offenbar seiner Unmöglichkeit nicht bewußt war. Blitze hätten den vorlauten Narren zerschmettern müssen, und da die Blitze fehlten, müßte man selbst etwas gegen ihn unternehmen, dachte der Dramatiker. Er empfand den dringenden Wunsch, den Kerl hinauszuwerfen. Seine feindseligen Triebe wurden von seinen beiden Freunden geteilt. Jones murmelte etwas Drohendes vor sich hin, während Macklyn laut sagte: »Wenn er noch eine solche Bemerkung macht, drehe ich dem Büffel den Kragen um!«

Aber die hoheitsvolle Statue schien die Blasphemie gar nicht bemerkt zu haben, denn nicht die geringste Spur hochmütiger Verachtung zeigte sich auf ihren gleichgültigen Zügen. Ihr ruhiger Blick wandte sich nicht von den Karten ab, nicht einmal ihre Augenlider zuckten und auch der Ausdruck der Augen selbst änderte sich nicht. Jeder Beobachter hätte glauben müssen, sie verstehe kein Englisch.

So und nicht anders, meinte der trotz seines Entsetzens immer noch romantisch phantasierende Ogle bei sich selbst, mußte wohl eine Ahnfrau dieser Madame Momoro auf dem Wege zur Guillotine ausgesehen haben, kühl, unberührt und unnahbar, während die Canaille um den Armesünderkarren tobte. Die Canaille des gegenwärtigen Falles sandte der bewunderten Dame ein selbstzufriedenes Lächeln und fuhr mit lauter Stimme fort:

»Nein, nein, in früheren Zeiten war das wohl auch anders. Sie müssen es ja besser wissen als ich, Herr Wackstle, Sie waren schon siebenmal in Europa, sagten Sie, und bei mir ist's das erstemal. Aber ich wette, daß zwischen den Passagieren hier und jenen auf dem Schiff, mit dem Sie das erstemal hinüberfuhren, ein mächtiger Unterschied ist. Wann waren Sie zum erstenmal in Europa?«

»Einundneunzig, Herr Tinker.«

»Tinker!« Mit Bitterkeit wiederholte Albert Jones den Namen. »Tinker heißt diese Kreatur, das paßt zu ihr!«

Die Kreatur fuhr indessen in ihrer Dissertation fort: »Sehen Sie, heute ist auf diesem Schiff allein mehr Kapital, als Sie einundneunzig auf allen Schiffen aller Ozeane der Welt hätten finden können. Lesen Sie nur die Passagierliste und sehen Sie sich die Namen drin an. Sie werden staunen, was für gewaltige Geschäfte und Betriebe hinter ihnen stehen. Mir hat's einfach den Atem benommen. Donnerwetter, ja. Ich wette, wenn man's zusammenrechnet, geht's in die Hunderte von Millionen. Ich will Sie bloß das eene saachn, meine Herren, es sind ein paar große Leute auf dem Schiff, Leute, mit denen ich bekannt werden muß, ehe wir drüben landen und in alle Winde gehen. Nehmen Sie zum Beispiel sich selbst, Herr Wackstle. Kaum hatte ich Ihren Namen gelesen, sagte ich zu meiner Frau: ›Also den Mann muß ich kennen lernen, Mamma.‹ Die Arme, sie war schon damals recht apathisch und hat nicht sehr aufgepaßt. Und Sie sind ja nicht die einzige Größe auf diesem Schiff!«

»Nein«, gab Herr Wackstle bescheiden lächelnd zu. »Es ist noch mindestens ein Dutzend größerer Berühmtheiten an Bord.«

»Nun, ich möchte nicht gerade sagen größere,« fuhr Tinker gutmütig fort, »aber gewiß sind noch andere da. Nehmen Sie zum Beispiel James T. Weatheright. Ich glaube, der ist der bekannteste Mann im ganzen Staat New York. Jedes Kind kennt doch seine Wollstoffe. Dann haben Sie T. H. Smith, den Präsidenten der G. L. und W. Dann Harold M. Wilson, den ehemaligen Generaldirektor der Western Industrie Corporation. Dann Thomas Swingey von der Swingey Brothers A. G. Und die Holebrooks vom Nordwest Trust und Richter Mastin, den gewesenen Generalprokurator, und J. Q. A. McLean von der Chicago Mühlen Companie – na, das ist schon eine erstklassige Besetzung. Und wenn man überlegt, was eine derartige Passagierliste bedeutet, dann muß man sich geradezu wundern, wie die Staaten weiter bestehen können, während solche Leute hier draußen auf dem Ozean schwimmen.«

Sein Freund Wackstle kicherte. »Sie haben die Liste so ziemlich erschöpft, Herr Tinker, ich wüßte nicht, wen Sie von prominenten Passagieren noch ausgelassen hätten. Aber sehen Sie näher zu, so sind doch die meisten Herren entweder im Ruhestand wie ich, oder sie teilen die Leitung mit jüngeren Kräften, ausgenommen natürlich Smith. Der ist immer noch vornedran und es wäre eine recht böse Sache, wenn das Schiff unterginge. Wie Sie schon sagten, es ist ein schöner Haufen Dollars hier vertreten, aber wenn das Schiff im Nebel in irgendwas hineinfahren und kentern würde, zu Hause ginge doch wohl alles den gewohnten Gang weiter und ich glaube kaum, daß eine Lücke zu merken wäre, höchstens was Sie und Th. H. Smith anlangt. Sie wären die einzigen, deren Namen in den Zeitungen mit fetten Lettern stehen würden.«

»Was,« rief Tinker, »und James T. Weatheright …?«

»Ja, zugegeben, über den stünde auch was auf der ersten Seite, aber nicht allzu viel. Er hat doch das Geschäft schon vor mehr als fünf Jahren seinen Söhnen übergeben.«

»Nein, nein,« Tinker gab sich nicht zufrieden. »Ich will mich ja nicht selber rühmen, aber das muß ich schon sagen, meine Heimat würde schon was bemerken, wenn dieses Schiff unterginge. Ich will Ihnen ja nicht widersprechen, Herr Wackstle, aber ich bin sicher, Ihre Stadt und die Städte der anderen Herren hier würden auch was merken. Du lieber Gott, nehmen Sie selbst unseren alten Dr. Taylor hier …«

Aber der alte Doktor war für eine ernste Diskussion nicht mehr in der Stimmung. Eben begann er wieder zu singen: »Komm nach Pasadena …«, und Brown stimmte mit ein. Tinker sah sie einen Augenblick mißbilligend an, dann heiterten sich seine Züge auf und er sang mit.

Auf der anderen Seite des Sofas wurde der Gesang ebenso wenig gewürdigt wie die vorangegangene Unterhaltung über Berühmtheiten.

»Großer Gott!« klagte Albert Jones. »Davon sollte man doch verschont bleiben. Man müßte mit dem Obersteward sprechen.«

»Das würde nicht das mindeste nützen«, erwiderte Macklyn düster. »Der hält zu dieser Sorte, die heutzutage alle großen Dampfer füllt, denn diese Klasse von Leuten, die in den letzten Jahren reich geworden sind, hat zu reisen begonnen. – Was halten Sie von dieser Liste berühmter Amerikaner an Bord, Herr Ogle?«

Ogle, der ein wenig rot geworden war, während Tinker die Namen aufzählte, brachte es über sich, lachend zu antworten:

»Eigentlich ein harter Schlag für meine Eitelkeit. Sie sagten, ich schreibe für die Menge, Macklyn, aber was wir da zu hören bekamen, scheint eher darauf hinzudeuten, daß auch ich nur für die Wenigen vorhanden bin, genau so wie Sie und Albert Jones.«

Der düstere Macklyn faßte das ernst auf:

»Ich würde es mir nicht zu Herzen nehmen. Wir haben nie danach gestrebt, für diese Art von Provinzlern eine Berühmtheit zu werden und können glücklich sein, daß wir es nicht erreicht haben. Diese Sorte von Leuten würde sich die ›Pastorale Szene‹ natürlich nicht ansehen.«

Ein neckischer Zufall belehrte ihn nach wenigen Augenblicken, daß er sich geirrt hatte. Ein Steward, der frisch gefüllte Gläser von der Bar brachte, unterbrach den heiseren Gesang jenseits der Sofalehne. Nachdem die Sänger ihre Kehlen frisch gefeuchtet hatten, begann der gesprächige Tinker, durch die musikalische Betätigung inspiriert, einen neuen Vortrag:

»Ja, meine Herren, das ist ein famoses Lied, obzwar mir ›Was macht die Melanie‹ noch besser gefällt. Auch in New York habe ich ganz nette Musik gehört. Wir waren schon drei Tage dort, ehe das Schiff abging und besuchten jeden Abend ein Theater. Zweimal war's etwas Musikalisches. Ganz gute Musik, heitere Musik, wissen Sie, nicht solch trauriges Zeug, das niemand verstehen kann, wie's von dem italienischen Orchester da unten immer gespielt wird. Und mehr hübsche Mädchen gab es da, als Sie in ihrem Leben beisammen gesehen haben. Ich weiß wirklich nicht, wo diese New Yorker Direktoren sie alle auftreiben! So oft ich nach New York komme, haben sie noch mehr, noch bessere und noch hübschere Tänzerinnen. Am letzten Abend allerdings sind wir zu einer Vorstellung ohne Musik gegangen, zu einem Stück – na, ich sag' Ihnen!«

»War es gut?«

»Gut?« wiederholte Tinker mit besonderer Betonung, wobei er durch die Zähne pfiff. »Ich begreife wirklich nicht, wie man sich trauen kann, so etwas aufzuführen!«

»Gepfeffert?« erkundigte sich Doktor Taylor mit regem Interesse.

»Also meine Frau wollte mitten im ersten Akt auf und davon. Ich mußte sie beinahe mit Gewalt auf dem Sitz niederhalten. Aber dann bekam sie selbst Lust, sich das weiter mitanzusehen, weil sie neugierig war, wo das noch hinführen sollte. Schließlich hat uns ja niemand dort gekannt und unsere Tochter hatten wir natürlich nicht mitgenommen. Ein Freund aus meiner Stadt war dabei gewesen und hat mir gesagt, das müßt ihr euch ansehen. Also, meine Herren, sogar ein Pferd müßte dabei rot werden. Ein paar Sachen kamen darin vor – na, auf der Galerie wurde einfach gebrüllt! Was aber mir am komischesten schien, war, daß die meisten Leute im Parkett so feierlich wie die Bonzen dasaßen und keine Miene verzogen. Hätte mir vor ein paar Jahren jemand gesagt, ich würde derartige Reden wo anders als in einem verrotteten Pferdestall bei den Hinterwäldlern hören, ich hätte ihn einfach für verrückt erklärt. Verrückt scheinen jetzt allerdings alle Leute in New York zu sein, wie man mir sagt. Aber so was zu schlagen, wird ihnen schwer fallen. Ja, man kann ruhig sagen, es war gesalzen und manche Sachen darin waren sogar schon gepfeffert.«

»Eine Posse?« fragte Wackstle.

»Nein, anscheinend nicht. Die Schauspieler haben dabei so ernst ausgesehen, wie Briefträger bei einem Platzregen. Darüber hat die Galerie so gelacht, glaube ich. – Nein, eine Posse kann man es nicht nennen, obwohl der Held mit seiner Schwiegertochter durchgeht, einer wirklich reizenden Schauspielerin. Aber dann nimmt sie Zyankali oder was ähnliches und stirbt; also scheint es nicht als Posse gemeint zu sein.«

»Wie hat denn das Stück geheißen?«

»Ganz ä puziger Name«, antwortete Tinker grübelnd. »Etwas mit Pastor …, ich glaube so ähnlich wie ›Pastorenszene‹ heißt es …, nein, nicht ›Pastorenszene‹ … ah, jetzt erinnere ich mich: ›Pastorale Szene‹ hat es geheißen, ja. Literarischer Titel, aber was sie darin gesprochen haben, o du meine Güte – das war alles andere als literarisch!«

Das Rot auf den Wangen des geschändeten Dramatikers war immer tiefer geworden. Kochend vor Wut und Mordlust saß er da. Also, das sah so ein Tinker in einem Kunstwerk, das seinen Verfasser so viele Tage und Nächte angstvollen Schaffens gekostet hatte! Ogles starrer Blick haftete auf der unveränderlichen Gelassenheit Madame Momoros. Sie mußte die laute Stimme, die solche niederschmetternde und überzeugte Kritik äußerte, unbedingt gehört haben. Wenn er ihr nun als Autor der »Pastoralen Szene« vorgestellt wurde …! Der Gedanke war vernichtend. Da es unmöglich war, im Rauchsalon eines Ozeandampfers einfach um ein Sofa herumzugehen und einen dort sitzenden Mann zu erwürgen, erhob sich Ogle.

»Ich glaube, es ist Zeit, sich zum Dinner umzuziehen«, sagte er heiser.

Jones und Macklyn waren ebenfalls aufgestanden. »Ja,« sagte der letztere, »es ist hier wirklich unerträglich geworden.« Sie schritten zur offenen Türe, von wo Ogle dem ahnungslosen Tinker noch einen mörderischen Blick zuwarf. Die schöne Bridgespielerin saß unbeirrbar im fließenden Nebel des Zigarrenrauchs, der aus der Richtung des Sofas kam, wo jetzt auch wieder heiserer Gesang ertönte. Der greuliche Tinker stand in voller Größe vor seinen Freunden und benutzte eine Füllfeder als Dirigentenstab. Und noch auf dem Deck verfolgte die flüchtenden Künstler der verhaßte Refrain: »Was macht die Melanie die ganze Nacht …«


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