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II

Am nächsten Morgen stürmte es immer noch. Fahles, graues Licht fiel durch die beiden Luken in Ogles Kabine, soweit die trüben Wassergüsse, die regelmäßig gegen die dicken Gläser schlugen, dies nicht verhinderten. Ogles Leiden hatte an Heftigkeit wohl etwas nachgelassen, aber jeder Willen und alle Kraft schienen aus seinem Körper gewichen und sein Inneres glich einem leeren Haus, das der Schauplatz eines Dramas gewesen war, und in dem es jetzt jeden Augenblick zu geistern anfangen konnte. Draußen vor seiner Kabine heulte der in den Gängen verfangene Wind, durch das Schiff jagte ein Pfeifen und Kläffen wie von wilden Hunden und tollen Jägern.

Den ganzen Tag stampfte das Schiff heftig rollend durch das Toben des Unwetters, bis der Höhepunkt spät am Nachmittag erreicht schien. Ogle klammerte sich matt an die Stangen seines Bettes und fragte sich, ob nicht auch ein Ozeanriese in solchem Sturm untergehen könnte. Die »Duumvir« war wohl der Stolz Italiens, wenigstens der italienischen Handelsmarine, und Ogle erinnerte sich auch eines gewissen Christoph Columbus, aber er entsann sich nervös, daß dieser vor mehr als vierhundert Jahren seine Triumphe gefeiert hatte, und in so langer Zeit kann ein Volk seine Fähigkeiten wohl einbüßen. Als das Schlingern und Rollen am ärgsten wurde, entdeckte er, daß auch andere Leute seine Befürchtungen teilten. Tagsüber hatte er nichts von seinen Nachbarn gehört, vielleicht waren andere Geräusche zu stark gewesen. Nun aber, als der Sturm seine ganze Gewalt gegen das arme ächzende Schiff einzusetzen schien, krachte etwas Schweres, vermutlich ein Koffer, gegen die Verbindungstüre, und die Stimme der Mutter des verdrossenen Mädchens schrie in den Gang:

»Steward! Sie, Mann da! Hören Sie, soll ich mich nicht anziehen, wenn das Schiff jetzt untergeht?«

Der Steward, Italiener, wie die ganze Besatzung, verstand sie nicht.

»Madame?«

»Ob ich mich nicht anziehen soll.«

Statt des Stewards antwortete die Tochter; Ogle hörte sie ärgerlich rufen:

»Wenn der Mann nur einen Funken von Anstand hat, wird er dir sagen, daß du dich augenblicklich anziehen und nicht in einem solchen Aufzuge vor die Türe gehen sollst …«

Die weiteren Worte gingen in dem allgemeinen Aufruhr verloren, und Ogle hörte für den Rest dieses schrecklichen Tages nichts mehr von seinen unleidlichen Nachbarn. Es wurde zeitig dunkel und dann stolperte jemand gegen seine Kabinentür, öffnete sie und eine Hand tappte an der Wand herum.

»Wer ist da?« fragte Ogle mechanisch, obwohl die Antwort ihm ganz gleichgültig war.

»Ecco«, antwortete eine matte Stimme, und das aufflammende elektrische Licht blendete Ogle in unerträglicher Weise.

»Mörder!« stöhnte Ogle schwach, öffnete seine gequälten Augen und blickte auf den seekranken Steward, der am Fußende des Bettes lehnte und ihn unsicher ansah. Das wirre Haar des Mannes glänzte tiefschwarz; für gewöhnlich mußte er eine dunkle Gesichtsfarbe haben. Aber in diesem Augenblicke war er gar nicht dunkel; im Gegenteil, seine Blässe war ebenso beunruhigend wie sein Gesichtsausdruck.

»Mangiare?« fragte er beinahe im Flüsterton und schloß die Augen. Er hätte einem wirklich leid tun können.

Ogle fühlte kein Bedürfnis, sich mit dem Mann zu verständigen.

»Gehen Sie lieber, Steward. Ich spreche nicht italienisch. Nicht italienisch! No italiano.«

Der Steward schwankte und klammerte sich fester an das Fußende des Bettes.

»Voulez-vous manger?«

Ogle verstand, daß er französisch angesprochen wurde. Er hatte diese Sprache mehrere Jahre lang in der Schule gelernt, war aber nie so weit gekommen, praktischen Gebrauch von ihr machen zu können. Immerhin erinnerte er sich einer Phrase:

»Qu'est-ce que ça?«

»Manger?« der Mann öffnete den Mund und deutete mit einem schlaffen Zeigefinger darauf.

»Essen?« fragte Ogle angewidert. »Nein.«

»Nein«, wiederholte der Steward und schien ihm beizustimmen.

Dann verließ er balancierend, stolpernd und taumelnd die Kabine.

Ogle wünschte, er wäre nie gekommen und hätte nicht den Mund geöffnet, um mit dem Finger darauf zu zeigen. Seereisen waren auch ohne Pantomimen schwer genug zu ertragen! Die zweite Nacht war indessen nicht so arg wie die vorangegangene, obwohl der Sturm anfangs nicht nachzulassen schien und Ogle selbst keine wesentliche Besserung seines Befindens merkte. Trotzdem schlief er, ohne es zu wissen, in kurzen Zwischenräumen und verfiel gegen Morgen in einen langen, tiefen Schlummer. Als er erwachte, war es hell, das Glas der Luken war trocken und glitzerte und zwei Sonnenkringel tanzten auf dem Boden. Das Gefüge des Schiffes knackte und klagte wohl noch immer ein wenig, aber die starken Geräusche des Vortages hatten aufgehört und in der lang entwöhnten Stille hörte Ogle deutlich das Öffnen und Schließen der benachbarten Kabinentür.

»Nu, nu, mei' Daibch'n«, ertönte die Stimme des herzlichen Mannes aus den Mittelstaaten. »Es ist zehn Uhr vorbei. Wollt ihr denn überhaupt nicht aufstehen? Oben ist 's fein! Massenhaft Leute sind draußen und es ist beinahe Frühling auf Deck. Schnucki, was macht Bibbih heute morgen?«

Ogle setzte sich im Bett auf und hielt sich die Ohren zu. »Schnucki, was macht Bibbih?« murmelte er. »Ich halte das nicht länger aus, ich muß fort von hier!« Er fühlte genügend Leben und Gesundheit in sich, um den Fuß auf den leicht schwankenden Kajütenboden setzen zu können.

Die polternde Stimme im Nebenraum fuhr indessen in ihren Aufmunterungen fort, aber Ogle hörte sie nur noch undeutlich und als er das Salzwasser in seine Badewanne brausen ließ, gar nicht mehr. Er war davon überzeugt, es würde ihm wieder schlecht werden, wenn er noch mehr »Schnuckis« und »Bibbihs« zu hören bekäme, und so stand er eine Stunde später, wenn auch ein wenig blaß, auf dem Verdeck.

Das lange Promenadedeck, von vermummten Passagieren in ihren Liegestühlen eingefaßt, hob und senkte sich wie ein Brett, das, über einen Baumstamm gelegt, Kindern als Schaukel dient. Die schäumende, grüne, weißverbrämte See ging noch immer hoch, und der Horizont glich einer tiefgezahnten Säge. Die meisten Passagiere waren durch allerlei Unannehmlichkeiten, die zu arg und zu neu gewesen waren, um schon vergessen zu werden, nachdenklich und ernst gestimmt. Trotz Sonnenschein und erfrischender Luft lagen sie bleich umher, und auch die gesenkten Augenlider verbargen ihre Ängste nicht. Andere aber gingen doch schon munter auf und ab. Als Ogle auftauchte, stürmte eine Gruppe schwatzender junger Leute so luftig an ihm vorbei, als hätte es nie etwas wie einen Nordoststurm gegeben.

Er selbst war noch nicht imstande, ihren Leichtsinn zu verstehen, aber als ihn ein aufmerksamer Steward zu einem Liegestuhl geführt und mütterlich in eine Decke gehüllt hatte, schwanden doch die schwersten seiner Sorgen und nach einer halben Stunde behaglichen Ausruhens nahm er von einem vor ihm auftauchenden Servierbrett eine Tasse Suppe und trank sie nahezu mit Genuß. Er begann zu empfinden, daß das Leben schließlich doch seine Reize hatte und die luxuriöse Behaglichkeit einer Seereise vielleicht nicht bloß eine Falle für Leichtgläubige war. Ja, er dachte einen Augenblick sogar an eine Zigarette, entschied aber, daß die Zeit für ein so großes Wagnis noch nicht gekommen war. So holte er statt Zigaretten ein kleines Heftchen – die gedruckte Passagierliste der »Duumvir« – aus seiner Manteltasche, um sich damit die Zeit zu vertreiben. Vor allem sah er nach, ob sein eigener Name richtig geschrieben darin vorkam; ja, da stand er fehlerlos: »Herr Laurence Ogle« und er wiederholte ihn unhörbar mehrere Male und fragte sich, wieviele der Mitreisenden interessiert, vielleicht sogar ein wenig erregt, seinen Namen in der Liste entdeckt haben mochten. Vermutlich versuchten einige der Intelligenteren schon, ihn unter den Passagieren herauszufinden, und dieser Gedanke freute ihn, obwohl er über seine eigene Eitelkeit ein wenig lächelte.

Die anderen Namen, über die seine Augen interesselos schweiften, waren nichtssagend. Doch nein, es gab eine Ausnahme.

Nicht weit über seinem eigenen Namen fesselte ein anderer Name seine Aufmerksamkeit, wie der schwache Klang einer auf exotischen, nie gehörten Instrumenten gespielten Melodie. »Mme. Momoro« stand dort, und darunter: »M. Hyacinthe Momoro.« Ogle murmelte »Momoro« mehrere Male vor sich hin. »Momoro«, dachte er, war der romantischeste Name, dem er je begegnete; ein Name, der ein opernhaftes Parfum hatte oder an heldenhafte Taten in der Geschichte oder sogar an sagenhafte Gestalten gemahnte. »Momoro« faszinierte ihn dermaßen, daß er die Passagierliste sinken ließ und träumerisch ein paar Spinnwebfäden einer Handlung um eine entzückende Hauptperson zu weben begann. »Madame Momoro« – »Madame la Marquise de Momoro« müßte er sie vielleicht nennen. Die geistigen Gewohnheiten des Dramatikers machten sich geltend: »Momoro« zog ihn auf, als wäre er ein Uhrwerk. Er lehnte sich lässig zurück, betrachtete das rhythmische Auf und Nieder des Geländers gegen den Hintergrund von grünem Meer und blauem Himmel, und es dauerte nicht lange, bis er eine Besetzung für »Momoro« gewählt hatte, ein Name, der, wie er entschied, ein ausgezeichneter Titel sein würde. Elfie Grannell, die schöne Brünette, müßte die »Madame de Momoro« spielen – eine Heldin dieses Namens mußte dunkelhaarig sein!

Im Laufe des Nachmittags wurde das Schwanken des Schiffes immer schwächer. Immer mehr Passagiere bekamen Zutrauen zu ihren Füßen und belebten das Verdeck. Immer häufiger ertönte Lachen, und auch Ogle fühlte sich in gehobener Stimmung und vergaß das geplante Stück. Er zündete sich eine Zigarette an und sie mundete ihm. Eine Gruppe von vier lebhaften jungen Mädchen kam an ihm vorüber und mit Vergnügen bemerkte er, daß drei darunter hübsch waren, und alle vier gut angezogen. Da wußte er, daß er wieder vollständig hergestellt war. Er warf seine Decke ab und nach einem kurzen Augenblick der Unsicherheit begann er, wie ein alter Seebär auf dem Verdeck umherzugehen und gab so den vier lebhaften Mädchen, denen er auf seiner Promenade immer wieder begegnete, Gelegenheit, über den gleichmütigen und leichten, aber doch sicheren Schritt eines erfahrenen Seereisenden nachzudenken, dem das Gehen auf Deck gleichsam zur zweiten Natur geworden war.

Die munteren Mädchen schenkten ihm sichtlich Beachtung. Die Sorgfalt, mit der sie ihn nicht zu sehen und vollauf mit ihrer eigenen Fröhlichkeit beschäftigt schienen, bewies, daß sie ihn bemerkten. Dies war auch nicht weiter verwunderlich, denn er war wohl klein und schmächtig, doch ungewöhnlich hübsch. Den Mangel an Figur, wenn es überhaupt einer war, konnte man leicht übersehen, denn eine gewisse weltmännische Kultur in Kleidung und Bewegungen söhnte mit der geringen Stattlichkeit aus; die gefälligen Züge seines Gesichtes ergaben mit den dunklen Haaren, den schönen, nachdenklichen Augen und der matten Hautfarbe im Verein mit der zarten Gestalt einen Gesamteindruck, wie ihn junge Mädchen an einem Manne besonders schätzen.

Auch andere Passagiere begannen ihre Mitreisenden zu betrachten und abzuschätzen und wagten es sogar, Gespräche mit Fremden anzuknüpfen. Als das Meer immer umgänglicher wurde und die Vergnügungssüchtigen wieder weniger Eigenwilligkeit unter ihren Füßen und mehr Zuversicht in ihrem Magen spürten, zerstreuten sie sich über das Schiff, um auf den höheren und niederen Sonnendecks Luft zu schöpfen. Aber kurz nach vier Uhr saßen die meisten in der gewaltigen Halle, um den Klängen des ausgezeichneten italienischen Orchesters zu lauschen. Diese Halle war der größte der großen Gesellschaftsräume des Dampfers, ein Saal mit Nußholzvertäfelung und Stoffbespannung, in dem eine ansehnliche Dorfkirche, bloß mit etwas Unbequemlichkeit für den Kirchturm, ganz gut Platz gefunden hätte. Dorthin lockten die ersten Klänge der Musik die rekonvaleszenten Passagiere an kleine, mit weißem Tischzeug und Silber einladend zum Tee gedeckte Tischchen.

Von einer Türe aus betrachtete Ogle nachdenklich den Saal. Die Vergnügungsreisenden dieses Schiffes waren zumeist ältliche Leute, hauptsächlich lang verheiratete Paare, auch einige Witwen und alte Jungfern und einige verbrauchte, aber eingefleischte Junggesellen und Witwer, die sich zu leidlich heiteren Gruppen zusammenfanden. Sie schienen aus allen Teilen Amerikas zu stammen und die meisten dachten wohl nach, wer die andern sein mochten. Ogle hatte Lust, eine Tasse Tee zu trinken und der Musik zuzuhören. Aber sie spielten Puccini: etwas erträglich Modernes war nicht zu erwarten. Unter den ältern Leuten sah er wenig Anziehendes. Diese Menschen waren wohl ganz gut angezogen und hatten auch annehmbare Manieren, aber ihre Klasse war bedauerlich erkennbar wie ihr Alter: erfolgreiche Bourgeoisie. Kaufleute, Bankiers, Börsianer, Fabrikanten, lauter Angehörige ungeistiger Berufe. So beurteilte sie der kritische junge Dramatiker an der Türe, und er fand, daß sie einen recht trübseligen Anblick boten.

Wahrhaftig sie bedrückten seine Stimmung. So wandte er sich wieder ab, durchschritt einen Korridor und stieg auf das nächsthöhere Deck, um den Rauchsalon zu suchen. Er wußte einen Freund an Bord und war sicher, ihn dort oben am ehesten zu finden, denn im Rauchsalon gab es eine Bar mit Alkohol.


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