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IX

Macklyns Prophezeiung erwies sich als gerechtfertigt. Ogle hatte den Eintritt seiner Freunde gar nicht bemerkt, so vertieft war er in die Unterhaltung mit seinem schönen Gegenüber. Als sein Blick dann nach einiger Zeit durch den Raum schweifte und er die beiden entdeckte, würdigte er sie bloß eines zerstreuten Kopfnickens. Dann wandten sich seine Augen gleich wieder dem unleugbar sehenswerteren Objekt zu. Er sprach eindringlich, aber leise, denn an jenem Nachmittag konnte man auch halblaute Worte in diesem Raum verstehen, obwohl auch der lärmende Tinker mit sieben Freunden anwesend war. Aber alle diese acht Männer waren stockheiser und ihren Gedanken blieb keine Zeit für musikalische Übungen, kaum so viel Zeit, die Freiheit der Meere entsprechend auszunutzen.

Durch lederne Sesselrücken von der Umwelt abgeschlossen, saßen die acht um einen grün bespannten Tisch und konzentrierten ihr ganzes Denken auf die tiefsinnige Betrachtung von fünf Spielkarten, die jeder von ihnen dicht vor seine Augen hielt. Sie erwogen, sie überlegten, sie schnauften erregt und rauchten dabei in ernster Geistesabwesenheit dicke Zigarren. Von Zeit zu Zeit blickten sie auf und sahen einander sonderbar forschend und tief unaufrichtig an, aber ihre ganze Unterhaltung beschränkte sich nur auf ein Gemurmel im Spielerjargon. Vor dem sonderbar stillen und nachdenklichen Tinker glänzte auf dem grünen Tuch eine Burg aus Zelluloidplättchen, die aus vielen kleinen Türmchen in leuchtenden Farben aufgebaut war. Keiner der anderen, ebenso nachdenklichen Männer hatte ähnliche Bollwerke vor sich stehen und immer wieder warfen sie durch die sich langsam verdichtenden Nebel von Zigarrenrauch auf Tinkers glänzende Türme nachdenkliche Blicke, in denen eine Spur von Bitterkeit nicht zu verkennen war.

»Eine wahre Wohltat, daß sie sich gestern heiser geschrien haben,« meinte Albert Jones zu seinem Freund Macklyn, »aber als Pokerspieler wirken sie auch nicht sympathischer. Poker scheint unser Nationalspiel zu sein, weil es offenbar dem Temperament unserer Geschäftsleute entspricht. Ihre Erholung besteht darin, einander zu beweisen, daß sie eigentlich bloß Raubtiere sind. Kein sehr erfreulicher Anblick.«

»Sie müssen ja nicht hinsehen,« meinte Macklyn scherzend, »es gibt Lohnenderes hier im Zimmer.«

»Danke«, erwiderte Jones ironisch. »Ich bemühe mich doch gerade, unsere Göttin nicht merken zu lassen, wie sehr ich mir dieser Tatsache bewußt bin. – Für wie alt halten Sie Madame Momoro eigentlich?«

»Keine Ahnung. In jedem Jahrhundert gibt es einige Frauen, bei denen sich solche Schätzungen verbieten: Ninon de Lenclos, Diane de Poitier …«

»Und Eva selbst,« unterbrach der Maler, »von der Frau des Menelaos gar nicht zu reden – Madame Momoro sieht wie sechsundzwanzig aus oder, wenn man will, wie eine prachtvolle Dreißigerin. Aber sie kann nicht viel weniger als achtunddreißig sein, wenn sie die Mutter des erwachsenen jungen Mannes ist, der mit ihr reist; und daran ist, glaube ich, nicht zu zweifeln. Er sieht ihr vollkommen ähnlich und sie nannte ihn ›Bébé‹. Wahrscheinlich ist sie vierzig, wenn nicht älter. Zweifellos ist Ogle viel jünger als sie – mindestens um zehn oder zwölf Jahre.«

»Na, er scheint das jedenfalls nicht bemerkt zu haben«, meinte Macklyn. »Er scheint überhaupt nichts anderes zu bemerken, als daß sie ihm zuhört. Sie ist eine bezaubernde Frau, und er ist bezaubert. Ich bin kein Fachmann im Lippenablesen, aber ich habe den Eindruck, daß er Verse rezitiert.«

»Stimmt,« flüsterte der Maler, »hören Sie nur.«

Am Pokertisch war es in einer Krise der Erwartung totenstill geworden. Auch das Geräusch von Meer und Wind war durch die getäfelten Wände nur leise vernehmbar und obwohl der Herzschlag des Dampfers, der aus der Tiefe heraufdrang, auch hier oben noch als leichtes Vibrieren zu spüren war, konnten die beiden angestrengt Lauschenden doch einige von Ogle mit gedämpfter Stimme gesprochene Phrasen erhaschen. Die Krise am Kartentisch endete aber bald mit einer Flut von erregten Ausrufen, die alle erbittert klangen, bis sie durch die heiserste Stimme am Tisch überschrien wurden: »Zahlen, zahlen, keine Müdigkeit vorschützen!«

»Ja, so weit hält er schon«, sagte der Maler, meinte aber nicht den triumphierenden Tinker, sondern Ogle. »Es sind Verse. Eigene wahrscheinlich. Glauben Sie nicht auch?«

»Das glaube ich in der Tat«, erwiderte Macklyn und sein Glaube gründete sich auf eigene Erlebnisse. »Und an ›sie‹ gerichtet – zweifellos. Aber sie spielt großartig!«

»Wieso?«

»Gott, sie hat doch sicher schon viel solches Zeug zu hören bekommen – bestimmt! Und macht sich nicht das mindeste mehr daraus und wenn man ihr's scheffelweise eingeben würde. Aber in ihrer entrückten Haltung, die gar nicht so entrückt ist, wenn man sie genauer beobachtet, bringt sie es zuwege, daß er meint, einen unerhörten Eindruck auf sie zu machen. In Wirklichkeit aber interessiert sie sich, über ihre schöne Zigarettenspitze hinweg, viel mehr für den Pokertisch, als für seine Hymne.«

»Ich glaube, damit haben Sie recht«, stimmte sein Freund bei, während er die grünlichen Augen hinter seinen dicken Augengläsern zusammenkniff. »Sie hört vermutlich gar nicht, was er sagt.«

Doch darin irrte er. Gewiß, ihr Blick glitt, während Ogle sprach, über seine Schulter weg nach dem grünen Tisch, aber sie war eine Frau, die es ausgezeichnet verstand, zwei Dinge gleichzeitig zu tun.

»Ganz reizend,« sagte sie, als Ogle mit seiner Rezitation zu Ende war, »schade, daß Sie nicht mehr geschrieben haben. Sie sehen, wie unersättlich meine Eitelkeit ist. Von Schmeicheleien, so unbegründet sie sein mögen, kann ich nicht genug bekommen. Sehen Sie, mich freuen Ihre Verse, trotzdem ich weiß, daß Schriftsteller die Manie haben, jeden Eindruck säuberlich auf einem Stück Papier für die Nachwelt niederzulegen und daß sie manchmal, wenn ihnen sonst nichts einfällt, auch über eine Wildfremde auf einem Schiff voller Leute schreiben. Aber auch das wird sich ändern, wenn Sie erst die Wüste sehen werden, Herr Ogle, dann werden Sie nur noch sie und keine Frau mehr besingen.«

»Meinen Sie, daß sich noch so vieles andere in mir ändern wird?«

»Ja, verändern sich denn nicht alle Leute immerfort und überall, wenn auch kaum merklich? Und diese unaufhörlichen winzigen Veränderungen machen doch nach vielen Jahren schon eine ganz beträchtliche Veränderung aus, nicht wahr? Nun gibt es eben Orte von solch fremdartigem Zauber, daß in empfänglichen Menschen, die sich dorthin verirren, die Veränderung ihres Wesens, die sonst Jahre brauchte, ganz unerwarteterweise sich mit einem Schlage vollzieht. Diese Menschen beginnen alles mit anderen Augen zu sehen; was sie bis dahin für weiß hielten, beschwören sie, sei nun schwarz; Leute, die ihnen bis dahin als Zwerge erschienen, verwandeln sich mit einem Male in Riesen – und auch umgekehrt. Es gibt nicht viele solcher Orte; einer, den ich kenne, ist Kapri, ein zweiter Taormina, ein anderer ist Konstantinopel und dann zähle ich fast jeden Ort in Afrika dazu. Jeder dieser Orte strömt jenen mächtigen fremdartigen Zauber aus.«

»Und Sie rechnen mich zu jenen Menschen, die für fremdartige Zauber empfänglich sind?« fragte er und fügte, ihr tief ins Auge blickend, hinzu: »Haben Sie das so rasch erkannt?«

Sie schob seinen Ernst mit einem Lachen beiseite.

»Wollen Sie wieder meiner Eitelkeit schmeicheln, weil ich sie Ihnen als so unersättlich schilderte?« sagte sie leichthin. »In Wahrheit halten Sie mich für überspannt; aber es war mein voller Ernst. Was wissen wir voneinander? Was wissen wir von uns selbst? Jeder Mensch hat tausend Masken und verlangt, daß man jede, die er gerade trägt, als sein wahres Gesicht hinnimmt. Wie oft legt jemand eine Maske nur an, um Sie zu ärgern, und kurz darauf zeigt er Ihnen eine andere, mit der er Ihnen gefallen will. Wie jenes junge Mädchen, das so grob zu seiner Mutter war; sie kann es sich gestatten, auch eine so häßliche Maske zu tragen, denn sie ist so hübsch, daß selbst ihr Ärger noch reizvoll ist. Das nächste Mal, wenn wir sie sehen, trägt sie vielleicht die Maske eines sanften Engels. Was ist nun ihr wirkliches Antlitz? Wenn Sie ihr in El-Kantara begegnen, werden Sie vielleicht nur noch den Engel in ihr sehen.«

»Das junge Mädchen, das grob zu seiner Mutter war?« wiederholte er verwundert, dann besann er sich. »Oh, Sie meinen Bibbih, die Tochter dieses Tinker?« Madame Momoro lachte und ihr Blick, der über seine Schultern hinweg nach dem Spieltisch strich, leuchtete auf.

»Sie ist seine Tochter? Oh, der arme Mann. Und Bibbih nennt er sie – wie hübsch! Wie heißt sie wirklich?«

»Ich habe noch nicht danach gefragt«, sagte Ogle kühl. »Ich fürchte, nur eine geradezu überirdische Landschaft könnte mich so verändern, daß mir solch eine kleine Provinzlerin als Engel vorkäme.«

»Nehmen Sie sich in acht,« warnte ihn Madame Momoro heiter, »Sie können nicht wissen, was aus Ihnen wird, sobald Sie dieses Schiff verlassen. Das Schiff ist noch Amerika. Ihr habt alle Amerika noch nicht verlassen, ihr Amerikaner.«

Sie hielt inne und sah aufmerksam nach dem Kartentisch, wo sich offenbar wieder eine Krise vorbereitete. Plötzlich klatschte sie triumphierend in die Hände.

»Oh, sehen Sie, sehen Sie,« rief sie, »er ist ein Zauberkünstler! Er gewinnt alles!«

Unter den acht älteren Herren brach ein Aufruhr aus. »Nur bezahlen, Herrschaften!« krächzte Tinker, der Sieger, heiser. Die Spieler erhoben sich von ihren Sitzen, kramten in ihren Taschen, warfen Banknoten, Gold- und Silberstücke auf den Tisch und begleiteten dieses mißliche Geschäft mit Knurren und Fluchen. Rot im Gesicht und mit unbekümmerter Freude sammelte Tinker das Geld mit beiden Händen ein, stopfte es lose in alle seine Taschen und ließ als einzige Antwort auf alle Insulte immer wieder die heiseren Worte hören: »Einen Trostspender! Einen Trostspender! So wartet doch auf den Trostspender!«

Doch die übrigen schickten sich lärmend an, den Saal zu verlassen. »Sie sind einfach ein Räuber!« warf Wackstle seinem Freund Tinker an den Kopf. »Einen Trostspender? Da danke ich. Morgen nach dem Lunch werden wir uns schon unseren Trost von Ihnen holen. Für heute habe ich genug.« Tinkers heiseres Geschrei rief zwei Stewards mit hohen Gläsern voll farbig schimmernden Flüssigkeiten herbei.

»Für die ganze Runde!« befahl der lärmende Sieger und wies einen der Stewards zu den entgeistert dreinschauenden Jones und Macklyn. »Auch den beiden Jungens dort! Für alle, alle! Jedem einen Trostspender!«

Madame Momoro begriff nicht. »Einen Trostspender?« wiederholte sie und wandte fragende Augen nach dem Dramatiker. »Was bedeutet dieses Wort in Ihrer Sprache?«

»Dies hier«, antwortete Ogle, mit einer Handbewegung auf ein Tablett mit zwei gefüllten Gläsern weisend, das einer der Stewards eben vor sie hinstellte. »Nein, wir nehmen gewiß nichts,« sagte er dann entrüstet zu dem Mann, »gehen Sie fort damit!«

»Aber nein,« protestierte Madame Momoro, »das würde ihn verletzen, und er ist so freundlich.« Sie nahm rasch eines der Gläser von dem Tablett, hob es an die Lippen und nickte lächelnd zu Tinker hinüber. »Dem großen Zauberer!«

Tinker verließ sofort seine Gefährten, die unwillig seine Gastlichkeit angenommen hatten und jetzt unhöflich rasch aufbrachen.

»Zauberer?« fragte er laut, damit alle es hören sollten, während er zu ihr hinüberging. »Wer? Ich? O nein. Ich habe diesen kindischen Mummelgreisen nur ein paar Anfangsgründe des Pokers beigebracht. Ich mußte mir doch für die Lektion was aufrechnen! Sie sind nur so wild, weil ihre Frauen heute deswegen nichts mit ihnen reden werden. Aber da habe ich vor ihnen auch nichts voraus. Mein größter Kummer ist, daß die Meine ja mit mir redet.« Der Blick seiner fröhlichen Augen wanderte durch den Saal und blieb auf dem Dichter und dem Maler haften, die steif und frostig dasaßen. »He, Ober,« rief er einem der Stewards zu, »haben Sie denn nicht gehört, daß Sie auch den beiden Jungens dort servieren sollen?« Mit diesen Worten zog er ganz unschuldig einen Stuhl zwischen Madame Momoro und Ogle, setzte sich behaglich zurecht und sprach nun Macklyn und Jones direkt an: »Es sind ja nur noch unser Fünf übrig. Warum kommt Ihr Jungens nicht an unsern Tisch herüber? Fünf Leute sind gerade recht für einen gemütlichen kleinen Plausch.«

Die beiden Freunde blickten scheu erst einander, dann Madame Momoro an und kamen zu einem raschen Entschluß. Sie nahmen von dem Steward die gefüllten Gläser und von dem Barbaren die Einladung an und schritten – ein wenig steif – zu dem Tisch von Madame Momoro.

»Setzt euch, Jungens, setzt euch«, begrüßte Tinker sie herzlich, und als sie sich ein wenig in der Art des jungen Hyacinthe verbeugten, stellte er sie ohne Umschweife vor: »Frau Mummero, das da sind zwei junge Herren aus den Oststaaten, mit denen ich ab und zu einige Worte gesprochen habe. Leute aus diesen Gegenden tauen schwer auf. Das Klima bei ihnen zu Hause macht sie argwöhnisch, aber wenn sie einmal herausgefunden haben, daß man ihnen nicht gleich das Hemd vom Leibe stehlen will, dann sind sie ganz die gleiche Sorte Menschen wie alle anderen. – Sie haben wohl eine verdammt lange Zeit in Gottes Land verbracht, Frau Mummero?«

»Wie meinen …«, begann sie ein wenig verdutzt; dann verstand sie und lachte. »Oh, in Amerika? Nein, nur drei Monate.«

»Vermutlich zum Vergnügen, keine Geschäfte,« sagte er nickend. »Na, ich wollte, ich könnte so gut französisch schwatzen wie Sie englisch. Leider kann ich fast überhaupt nichts – ›Polly wuh frossah‹ und ›nix fersteh‹, das ist so alles. Wie in aller Welt, haben Sie in drei Monaten so viel von unserer Sprache aufschnappen können?«

»Oh, nicht in drei Monaten«, protestierte sie. »Ich bin ja schon oft länger in England gewesen. Aber leider ist mein Englisch ab und zu immer noch fehlerhaft.«

»Na, da machen Sie sich nichts draus«, erwiderte Tinker liebenswürdig. »Ich lege Ihnen eins zu hundert, daß Sie weniger Fehler machen als ich, wenn ich anfange französisch zu reden. Wenn ich hätte warten wollen, bis ich es erlernt habe, wäre ich nie nach Europa gekommen und den Jungens hier geht es bestimmt genau so.« Auf diese Art teilte er sich großmütig mit den drei jungen Künstlern in seine linguistischen Defekte. Die aber saßen ein wenig frostig da und verrieten über Tinkers Bemerkung keine allzu große Begeisterung, obzwar einem von ihnen ein Stein vom Herzen fiel, daß Europa und nicht Afrika das Reiseziel dieses Mannes aus dem Mittelwesten sei. Denn Ogle hatte gefürchtet, auch die Tinkers könnten in Algier landen, statt nach dem italienischen Hafen weiterzufahren, und schon der Gedanke, auf dem gleichen Kontinent – und wäre er noch so groß – mit ihnen weilen zu müssen, war für ihn unerträglich gewesen. Nun, da sich die Aussicht auf Erlösung vor ihm auftat, ließ er sich soweit herbei, an der Unterhaltung teilzunehmen:

»Ich für meine Person würde allerdings in Anwesenheit Madame Momoros mit meinem Französisch etwas vorsichtig sein – sogar mit meinem Englisch.«

Sie neigte den Kopf ein wenig gegen ihn und erklärte dann Tinker: »Ich habe Herrn Ogle gesagt, wie empfänglich ich für Schmeicheleien bin. Ich versorge mich mit ihnen, wo ich nur kann, und bin so kindisch, mich an ihnen zu freuen, selbst – wenn sie unaufrichtig sind.«

»Ich wette, Sie kriegen genug davon zu hören!« rief Tinker aus, dann blickte er sie über sein bernsteinfarbenes Glas hinweg mit strahlender Bewunderung an und fuhr im Ton einer freundlichen Anfrage fort: »Witwe, vermute ich?«

In den drei empfindsamen jungen Leuten schien infolge dieser Entgleisung einer so grob naiven Persönlichkeit selbst die Luft zu erstarren. Aber die Antwort der so überfallenen Dame ließ ihnen nichts zu wünschen übrig, denn sie war ebenso ungeschminkt wie die Frage:

»Aber Sie, Herr Tinker, so weit man nach einigen Ihrer Bemerkungen urteilen darf, sind alles eher als ein Witwer!«

»Ich?« rief er laut, ohne im geringsten zu ahnen, daß er zurechtgewiesen worden war. »Ich – Witwer? Nicht im Schlaf würden Sie das denken, wenn Sie nur einiges von dem gehört hätten, was ich von einer gewissen Dame heute morgens zu hören bekommen habe, als ich auf Deck kam. – Alle diese Dampfer haben den Fehler, daß ein Mann, der am Abend zuvor mit ein paar guten Freunden ein wenig länger aufgeblieben ist, in der Früh, ehe seine Frau aufwacht, nicht in die Stadt fahren kann. – Witwer!« Er lachte mit wehmütiger Heiterkeit und begann diesen Gegenstand noch von einer anderen Seite zu betrachten. »Sie würden mich noch weniger für einen Witwer halten, wenn Sie eine Ahnung hätten, was mir bevorsteht, wenn es herauskommt, daß ich hier sitze und mit einer so auffallend hübschen Frau plaudere, wie Sie, Frau Mummero.«

Nun überraschte und betrübte Madame Momoro die Mehrheit der improvisierten Gesellschaft durch ein ehrlich erfreutes Lachen.

»Sie sind ein ungewöhnlicher Mensch, Herr Tinker. Wenn eine Frau Ihnen sagt, sie lebe bloß, um angenehme Dinge zu hören, und wären sie auch noch so weit von der Wahrheit entfernt, dann sind Sie klug genug, zu erkennen, sie habe die reine, einfache Wahrheit gesagt. Wirklich, Sie sind ein ungewöhnlicher Mann, Herr Tinker.«

»Sie glauben?« sagte er und war so bescheiden, abwehrend aufzulachen. »Um Ihnen solche Sachen zu sagen, muß man gar nicht so ungewöhnlich sein.« Er seufzte plötzlich auf, aber so, als bedrücke ihn eine physische Ursache. Er wischte mit einem Taschentuch über seine Stirne und stellte sein Glas auf das Tischchen. »Ogottogott, heut ist mir aber ganz bimblich! Frische Luft würde mir gut tun.«

»Und was hält Sie davon ab?« fragte Madame Momoro freundlich besorgt.

Er blickte sie wohlwollend an und seine Züge heiterten sich auf. »Auf dem Promenadendeck würde ich mich erholen, aber jemand müßte mit mir gehen, der mich davon abhält, über Bord zu springen. – Ich fühle mich heute wie eine Eintagsfliege um sieben Uhr abends. Ich glaube, Sie und ich, wir könnten zwischen den Rettungsbooten schon irgendein Eckchen finden, wo meine Frau nicht vorbeikommt und wo es genug Ozon gibt, um uns beide zu versorgen.« Er erhob sich und blickte sie einladend an. »Wie wär's damit?«

Maler, Dichter und Dramatiker, die unbehaglich schon bemerkt hatten, wie dieser Barbar die Aufmerksamkeit der geduldigen Französin ausschließlich auf sich gelenkt hatte, waren nun sicher, daß seine Stunde geschlagen hatte. Er war zu weit gegangen! Die unglaubliche Kühnheit seines Vorschlages und seine beleidigende Formlosigkeit hatten ihm nun endgültig den Rest gegeben. Aber während die drei in hoffnungsvoller Erwartung dasaßen, erhob sich Madame Momoro mit liebenswürdigem Lächeln.

»Wenn Sie glauben, daß es Ihnen gut tun wird – ich bin stets eine Philanthropin gewesen …« Und schon schritt sie, von Tinker gefolgt, zur Türe und nickte den dreien bloß über ihre Schulter ein reizendes Abschiedslächeln zu.

»Donnerwetter,« sagte Tinker, als er die Türe öffnete, die auf das kleine Hinterdeck hinausführte, »ich fühle mich schon viel wohler.« Er war groß genug, um selbst auf sie hinabzusehen, und er tat dies mit dankbarem Blick. Sie nahm seinen Arm und sie verschwanden mitsammen aus dem Gesichtskreis der im Rauchsalon Zurückgebliebenen, die ihnen verblüfft nachsahen.


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