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XII

Ogle war von Gibraltar sehr enttäuscht. Aber das lag nicht an Gibraltar, sondern nur an seiner eigenen Stimmung, an der natürlich Madame Momoro Schuld trug. Für Macklyn und Albert Jones war hier die Reise zu Ende, Tinker konnte sich bei dieser ersten Landung seiner Familie gewiß nicht entziehen – darum hatte Ogle sicher damit gerechnet, einen ganzen Tag allein mit Madame Momoro an Land verbringen zu können, schlimmstenfalls den stillen, unaufdringlichen Hyacinthe als Garde mit in Kauf nehmen zu müssen. Sie selbst hatte ihn in dieser Hoffnung bestärkt, denn sie hatte ihm mit einem raschen tiefen Blick zugeflüstert: »Wir könnten nach Algeciras fahren; hätten Sie Lust, mich in Spanien herumzuführen?« Ogles Jubel dauerte indes nur wenige Augenblicke, denn während er noch neben ihr wartete, bis die Reihe an sie käme, in das Boot hinabzusteigen, das die Passagiere an Land bringen sollte, tauchte wie die Verkörperung einer Erinnys die ältere der beiden Bridgepartnerinnen Madame Momoros auf dem Verdeck auf. Sie trug immer noch einen Verband über dem Ohr und hatte ihren Trauerschleier um den Kopf geschlungen. Hinter ihr, wie ein Leichengefolge, schritten ihre Schwester und der junge Hyacinthe. Kaum hatte Madame Momoro diese Gruppe erblickt, als sie dem aus allen Himmeln fallenden Dramatiker eröffnete, sie müsse ihren Plan, Spanien in seiner Gesellschaft zu besehen, aufgeben.

»Aber wenn die Damen an Land gehen wollen, um den Ort zu besichtigen, kann doch auch Ihr Sohn allein …«

»Unmöglich! Wo denken Sie hin!« unterbrach sie ihn rasch und schien über diesen frevelhaften Einfall ganz entsetzt. – »Fräulein Daurel und ihre Schwester Lucy sind unsere besten Freunde. Wir reisen mit ihnen, wir sind mit ihnen hinübergefahren und werden in Algier ihre Gäste sein. Sie sind sehr nervös, und schwächlich und ganz auf mich angewiesen. Es tut mir ja leid, aber ich muß mit ihnen gehen.« Noch nie hatte er sie so ernst gesehen und, auch das tröstete ihn nicht, daß sie mit wirklichem Bedauern auf eine Freude zu verzichten schien, um eine lästige Pflicht zu erfüllen.

Kein Wunder, daß er sich nicht in genußfreudiger Stimmung befand, als seine Füße zum ersten Male spanischen Boden betraten. Mitten im Gedränge einer schreienden und gestikulierenden Menge von Trägern, Fremdenführern, Kutschern, Passagieren und Straßenhändlern aller Art nahm er auf dem Molo von seinen Freunden Jones und Macklyn trübselig Abschied. Albert Jones ging nach Sevilla, »um dort ein bißchen zu pinseln«, wie er sagte; Macklyn wollte ihn dorthin und später nach Florenz begleiten, wo sie den Winter über zu bleiben gedachten. Ogle versprach, ihnen aus Algier von sich und Madame Momoro Nachricht zu geben und sie vor der Heimreise in Italien zu treffen. Dann sah er sie mit ziemlich unerwartetem Bedauern davonfahren. – Sie saßen in einer lächerlichen kleinen Kutsche, dessen schäbiges, zerfranstes Verdeck nur noch von dem Kutscher übertroffen wurde, der an den Ellenbogen noch zerfranster war und einen noch schäbigeren Eindruck machte als sein Wagen; sein federngeschmückter, alter, kleiner Gaul machte bei der Abfahrt krampfhafte Versuche, sich munter zu gebärden. Als die beiden außer Sehweite waren, erinnerte sich Ogle, daß er vergessen hatte, sie nach ihrer Adresse zu fragen. Aber er tröstete sich bald, denn Algier, so hoffte er, würde ihm interessantere Dinge zu tun geben, als Briefe zu schreiben.

Einsam schlenderte er durch die Stadt, um den trübseligen Tag so gut wie möglich zu verbringen. Überall stieß er auf Mitreisende von der »Duumvir«, die von allem entzückt und begeistert waren, ärgerte sich maßlos über ihre überlauten, freudigen Entdeckerrufe, von denen ganz Gibraltar widerhallte. Sie entdeckten die Kaufläden, die Teehäuser, die fremdartigen »süßen« Farben der Häuser und Fensterläden, prächtige Pferde, die vor einem Klub auf ein paar englische Offiziere warteten, malerisch gekleidete Mauren aus Tanger, guten alten Sherry, entzückende Gärten und den stimmungsvollen stillen kleinen Friedhof, der vor dem alten Stadttor im Sonnenschein lag. Gern wäre Ogle ein wenig zwischen den alten Grabsteinen geblieben, denn er fand ihre Inschriften rührend, und sah, daß sie manches von Englands Geschichte enthielten; aber eine Invasion der Familien Wackstle und Kammgarn trieb ihn zu eiliger Flucht.

Ogle war nie imstande gewesen, Leute im allgemeinen als Mitmenschen zu betrachten, im Gegenteil, er sah sie alle als Karikaturen dessen, was sie seinem Gefühl nach hätten sein sollen. Und da er sich selbst keineswegs für eine Karikatur hielt, fand er natürlich nur selten Menschen, die er eines Verkehrs würdigte. Er war Mitglied nur weniger und streng exklusiver Klubs. Er besuchte nur Tees und Abendgesellschaften, bei denen sein Erscheinen eine Sensation bedeutete und ließ sich als Salonlöwe von den Damen anhimmeln. Seine Bekannten waren Leute, die höchst exklusive Ansichten von Literatur und Kunst hatten – die einzigen Gegenstände, von denen es, ihrer Meinung nach, überhaupt der Mühe lohnte, Ansichten zu haben – und auch unter diesen blieb er exklusiv. So exklusiv vermied er auch jetzt in Spanien jede Berührung mit seinen Landsleuten und Reisegenossen.

Einsam durchschritt er die engen Straßen von Gibraltar, in so tiefe Gedanken versunken, daß er ein entgegenkommendes Auto übersah und sich gerade noch im letzten Augenblick davor retten konnte, überfahren zu werden. Dieser Zwischenfall stimmte ihn noch düsterer, denn er mußte daran denken, daß seine einzigen lebenden Verwandten, zwei Vettern in Rhode Island, die er nie gesehen hatte, die Tantièmen seiner »Pastoralen Szene« geerbt hätten, wenn er hier seinen Tod gefunden hätte. Die und sein Theaterdirektor in New York waren wohl auch die einzigen Leute, die an seinem Leben oder Tod interessiert waren. Auch der Umstand verbesserte seine Stimmung nicht, daß in dem Automobil, dem er beinahe zum Opfer gefallen wäre, die Familie Tinker saß, und daß Tinker sich im davonfahrenden Wagen halb aufgerichtet nach ihm umwandte, ihm joviale Begrüßungen zurief und dabei heftig mit einem Stock gestikulierte, dessen eiserne Stacheln und bunte Bänder verrieten, daß er eigentlich zur Verwendung bei Stierkämpfen bestimmt war. Auch einen Stierkämpferhut hatte Tinker in der Arena erstanden, und der saß so lächerlich auf seinem breiten Schädel, daß Ogle boshaft hoffte, Madame Momoro würde den »ungewöhnlichen« Mann in diesem Aufzug erblicken. Der Zufall wollte es, daß seine Hoffnung im nächsten Augenblick, vor seinen eigenen Augen in Erfüllung ging, denn eben kam sie in einem der kleinen, schäbigen Wägelchen vorbei, neben ihr saß das ältere Fräulein Daurel und in einem zweiten Wagen folgte Fräulein Lucy Daurel mit Hyacinthe. Ernst neigte Madame Momoro ihren Kopf gegen das Automobil der Tinkers, in der Weise, wie Damen nicht ihre Freunde, sondern eben zufällige Begegnungen im Lift oder im Speiseraum eines Hotels zu begrüßen pflegen, und Ogle konstatierte diese Nuance mit aufrichtiger Genugtuung. Sein Vergnügen wandelte sich indes bald in peinliches Befremden, als Madame Momoro seinen eigenen Gruß mit der gleichen kühlen Förmlichkeit erwiderte. Und als er Fräulein Daurel betrachtete, die streng mumiengleich und unendlich unnahbar neben ihr saß, überlief ihn geradezu ein Schauer, denn selbst bei den frostigsten Amerikanerinnen hatte er noch nie einen ähnlich eisigen Ausdruck gesehen. Madame Momoro schien von dieser Gouvernantenhaftigkeit angesteckt und wieder in die regungslose Statue rückverwandelt, als die sie ihm beim ersten Anblick im Rauchsalon erschienen war.

In einem Teehaus dachte er über diese Wandlung nach; die These fiel ihm ein, die Madame Momoro selbst ihm einmal entwickelt hatte, die These von den vielen Masken, die die Menschen tragen, und von der Schwierigkeit, ihr wahres Antlitz zu erkennen …

Bei Sonnenuntergang kehrte er in einer Barkasse zur »Duumvir« zurück. Eine bunte Schau bestickter, spanischer Schals belebte die eine Seite des Verdecks, und schreiende, gestikulierende, dunkeläugige Händler feilschten mit den Passagieren. Andere dunkeläugige Händler, die in Ruderbooten auf dem goldschimmernden Wasser schaukelten, boten Körbe voll Obst und Zweige mit Orangen an. Unaufhörlich wurden diese leuchtenden Kugeln, die zwischen den zarten Blättern hervorschimmerten, an langen Schnüren auf das Deck hinaufgezogen. Tinker, der noch immer seinen riesigen spanischen Hut trug, bildete den Mittelpunkt der Kauflustigen, mit gleicher kindlicher Freude erstand er Schals, Obstkörbe und Orangen. Aus den Schals wählte er die vier mit den längsten Fransen, dies schien sein Wertmesser zu sein, obwohl sie zugleich auch die farbenkräftigsten waren – die »schreiendsten« nach Ogles Ansicht, der verdrossen beobachtend in der Nähe stand. Frau Tinker wählte einen der Schals für sich, die anderen waren für die Tochter bestimmt, was alle Passagiere aus der lauten Weisung Tinkers an einen der Stewards, sie in deren Kabine zu tragen, erfahren konnten.

»Sagen Sie ihr, das schickt ihr der Pappa!« rief er dem Steward noch nach. Dann trat er an die Reeling und begann den Obstverkäufern »Polly wuh frossäh« und »Nix verstäh« zuzubrüllen und Münzen auf sie herabregnen zu lassen, und er lachte unbändig, als sie sich um das Geld balgten. Die Obstkörbe kaufte er wahllos und ließ sie an die Passagiere des Zwischendecks verteilen, wobei er selbst, ohne sich vom Platz zu rühren, das Geschrei der Beschenkten und der Händler mit seiner Stentorstimme überbrüllte, um seine Weisungen zu geben. »He dort, der Jüngling mit den abgewetzten Samthosen hat noch nichts bekommen. He! Du da! Don Pedro! Du mit dem Professorenbart! Schick den nächsten Korb dem Jüngling dort mit den Samthosen! Hipp hipp hurra für Christoph Columbus!«

Alle lachten über ihn, und peinlich berührt, daß ein Amerikaner sich zum Hanswurst dieser Leute hergab, wandte Ogle sich ab. Er bemerkte Madame Momoro, die zu den wenigen gehörte, die Tinker nicht zu beachten schienen. Sie stand neben Fräulein Lucy Daurel, die, viel menschlicher als ihre ältere Schwester, mit kindlichem Eifer die Wirkung eines prachtvollen, dunkelgrün und schwarz gestickten Schals an ihrer Freundin erprobte. Die Wirkung war allerdings verblüffend, der Schal machte aus der hochgewachsenen anmutigen Französin sogleich ein richtiges spanisches Porträt, das in leuchtenden Farben und Konturen vor den blauen Bergen stand, die jenseits des Wassers verdämmerten. Ogle hätte ihr das gerne gesagt, aber die Distanz, die sie durch ihr kühles Nicken in Gibraltar geschaffen hatte, erweiterte sie jetzt noch, indem sie ihn völlig übersah, obgleich er neben ihr stand. Er hatte den schmerzlichen Eindruck, daß sie nicht mit ihm zu sprechen wünschte.

Fräulein Daurel kaufte den Schal und am Abend lag er über der Lehne von Madame Momoros Stuhl, als sie mit ihrem Sohn und den beiden Schwestern beim Bridge in der Halle saß. Ogle hatte seinen Platz an einem benachbarten Tischchen ihr gerade gegenüber gewählt und blickte sie jedesmal an, wenn er sein Likörglas an die Lippen hob – und viele Male zwischendurch – aber niemals begegneten seine Augen den ihren; sie schenkte ihm keinen einzigen Blick und schien gar nicht zu wissen, daß er auf der Welt war. Der Verlauf des Spiels und eine unaufhörliche Besorgtheit um die Schwestern Daurel nahmen sie vollständig in Anspruch. Als die ältere mit ihrer Hand einmal nach ihrem Ohr griff, als fühle sie Schmerzen, umschloß Madame Momoro schnell ihre andere Hand mit beiden Händen und blickte sie dabei mit der glühenden Innigkeit eines Menschen an, der bereit ist, sein eigenes Leben zu opfern, um die Freundin zu erlösen. Ein anderes Mal, als Fräulein Lucy ein wenig erschauerte, weil eine Türe nach dem Deck geöffnet wurde, hüllte Madame Momoro sie sorglich in den neuen Schal, und als die ältere Schwester an der Spielverrechnung, die stets von Hyacinthe geführt wurde, etwas bemängelte, sprach seine Mutter in so strengem Ton zu ihm, daß er errötete. Kein einziges Mal fand sie Zeit, nach dem einsamen jungen Mann zu blicken, der sie unaufhörlich kummervoll beobachtete.

Auch in den nächsten zwei Tagen erwies sie sich nicht freundlicher. Immer war zumindest eine der Schwestern Daurel in ihrer Gesellschaft, und mit unverminderter Geflissenheit übersah sie das Vorhandensein Ogles. Hätte er in Gibraltar die Reise abgebrochen und wäre die ganze Breite des Mittelländischen Meeres zwischen ihnen gelegen, er hätte sich kaum wirksamer von ihr getrennt fühlen können.

Dann, als die letzte Nacht der Überfahrt gekommen war, jene Nacht, die zu erleben er bei Beginn der Reise nicht mehr zu hoffen gewagt hatte, und als sie wiederum unnahbar am Bridgetisch saß, überkam ihn die Verzweiflung. Er schrieb die fiebernde Frage: »Was habe ich verbrochen?« auf ein Stück Papier, das er in einen Umschlag tat und einem Steward mit dem Auftrag übergab, es unter ihre Kabinentüre zu schieben. Dann stürmte er aufs Deck hinaus und sein Ungestüm war so groß, daß er, um das Kompaßhäuschen biegend, an eine entgegenkommende Dame anrannte. Der Zusammenstoß war heftig, sie taumelte und wäre gewiß gestürzt, hätte er sie nicht rasch in seinen Armen aufgefangen. Es war Olivia Tinker.

»Lassen Sie mich los!« rief sie sofort, noch ehe sie wieder fest auf den Beinen stand.

»Selbstverständlich«, sagte er indigniert. »Ich bitte um Verzeihung …« Er trat von ihr zurück. »Ich wollte Sie bloß vor dem Fallen bewahren.«

»Mein Gott, das brauchen Sie mir nicht erst zu erklären!« rief sie empört. »Ich habe nicht angenommen, daß Sie … daß Sie mich …« Sie brach in großer Verwirrung ab.

Auch er war verwirrt und gar nicht erbaut darüber, daß er es wegen dieser »kleinen« Tinker sein konnte.

»Gute Nacht«, sagte er steif; dann lüftete er seine Kappe und wandte sich ab. Aber schon nach wenigen Schritten begann er zu fürchten, er sei zu grob zu ihr gewesen, und der Gedanke an ihr liebliches unglückliches junges Gesichtchen rührte ihn. Aus ihrem Gespräch mit Frau Tinker kannte er zwar ihre Meinung über sich, aber in dieser Nacht, in der er sich selbst so unglücklich fühlte, verzieh er ihr. Er sehnte sich sogar nach der Gesellschaft eines anderen unglücklichen Menschen. Als er ihr bei der nächsten Runde um das Promenadedeck noch einmal begegnete, trat er auf sie zu:

»Fräulein Tinker, möchten Sie hineinkommen und mit mir tanzen?«

Sie sah ihn einen Augenblick befremdet an und stellte dann brüsk eine sonderbare Frage: »Wozu?«

»Entschuldigen Sie«, sagte er mit einer Verneigung und wollte wieder gehen, aber sie hielt ihn zurück.

»Ich meinte, daß ich auf Höflichkeiten keinen Wert lege«, erklärte sie mit einer Stimme, die ungnädig knurrte. »Wenn Sie mit mir tanzen wollen, weil Sie gern tanzen und niemanden sonst kennen, bin ich einverstanden.«

»Wenn ich wollte, könnte ich auch andere Damen finden … Ich habe Sie aufgefordert, weil ich …«

»Schön, es ist ja gleichgültig«, unterbrach sie ihn. »Wozu plagen Sie sich mit Erklärungen? Übrigens tanzen Sie gut.« – Sie standen gerade vor dem Palmengarten und sie ließ bei den letzten Worten ihren Schal auf einen Liegestuhl fallen. Er öffnete die Türe vor ihr, sie ging schnell hinein, wandte sich um und streckte ihm die Hände entgegen.

Sie tanzten zwei Trotts und zwei Tangos und obwohl sie einander nicht mehr zu sagen hatten als das erste Mal, hielt sie die Wimpern nicht wie damals ununterbrochen gesenkt. Ihre klaren Augen, in denen noch immer ein Rest von Verdrießlichkeit war, hoben sich mehrmals zu ihm. Und ihre Augen verwirrten ihn, wie stets, wenn er ihrem vollen Blick begegnet war. Sie hatte kein Recht, ihn anzublicken, als verstünde sie ihn und verstünde ihn obendrein mit leiser Verachtung – da sie offenkundig nichts über ihn wußte und auch nichts über ihn wissen konnte. Sein Selbstbewußtsein lehnte sich gegen sie auf. Sie wußte ja nicht einmal, daß er ein erfolgreicher Autor und in seinen Kreisen, die so weit entfernt von ihrer kleinen Welt waren, eine Art Berühmtheit war. Trotzdem hätte er gern noch länger mit ihr getanzt, denn er kannte niemanden, bei dem man so sehr den Wunsch fühlte, immerfort weiter zu tanzen.

»Nein,« sagte sie, als die Musik abbrach und er sie bat, auf den nächsten Tanz zu warten. »Genug.«

Ohne sich umzusehen, ob er ihr folge, ging sie zu dem Sessel hinaus, auf dem ihr Schal lag. Er kam ihr zuvor, legte ihn um ihre Schultern, sie sagte ein tonloses »Danke« und machte ohne den Kopf zu wenden, ein paar Schritte von ihm fort, als wollte sie endgültig gehen. Plötzlich aber blieb sie stehen, wandte sich um und kam zu ihm zurück.

»Ich will Ihnen doch noch etwas sagen. Heute ist ja der letzte Abend unserer Reise, ich werde Sie wohl nie mehr sehen. Und ich möchte mir 's gerne von der Seele reden. – Es handelt sich um mein Benehmen während der Überfahrt. Sie sollen verstehen, daß ich ganz allein die Verantwortung dafür trage und meine Eltern nichts dafür können. Auch ich wurde dazu erzogen, gegen alle Leute nett zu sein, und nur mein scheußlicher Gemütszustand war daran schuld, daß ich mich auf dieser Reise derart benommen habe. Das mußte ich Ihnen sagen, weil ich das Bewußtsein mit mir nehmen wollte, daß wenigstens ich eine Erklärung für mein schlechtes Benehmen bei Tisch gegeben habe und daß ich damit etwas vor Ihnen voraus habe. Denn Ihr Benehmen war mindestens ebenso unmöglich wie meines, aber Ihnen wäre es nicht im Traum eingefallen, eine Erklärung dafür zu geben. Und noch etwas muß ich hinzufügen. Eigentlich habe nur ich bemerkt, wie schlecht Sie sich benommen haben, meine Eltern verstanden es nicht; sie meinten einfach, Sie wären auf den Kopf gefallen.« Dabei blickte sie ihm wieder voll in die Augen. »Und jetzt leben Sie wohl!« fügte sie nicht mehr ganz so unfreundlich hinzu, während sie ihn verließ.

Verblüfft und sehr verärgert starrte er ihr nach und bedauerte, daß seine Hoffnung, in der Gesellschaft eines anderen unglücklichen Menschen Trost zu finden, so gescheitert war. »Dumme Person«, murmelte er vor sich hin, aber er war nicht ganz sicher, ob damit auch alles erledigt war.

Mißmutig stieg er zu seiner Kabine hinab und dort entdeckte er etwas, das seine Gereiztheit und auch die unberechenbare Olivia Tinker sogleich fortwehte. Auf seinem Tisch lag ein in dünner, klarer Schrift an ihn adressierter Briefumschlag und auf dem einzigen Blatt darin las er die Worte:

 

»Nicht wahr, Sie werden verstehen? Und Sie werden nicht böse sein. Schreiben Sie mir nach Colline des Roses, Algier.

Aurelie de St. D. M.«

 

Er verstand zwar gar nichts, aber alles Üble, was ihm Madame Momoro angetan hatte, war vergessen; nein, er war nicht böse …


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