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XIX

Ogle war nicht wenig überrascht, morgens auf seiner Hotelrechnung einen Posten »Dinner für sechs Personen nach besonderer Anordnung« zu finden, dessen Preis ein ebenso besonderer war; sein Staunen wuchs, als er bei weiterer Prüfung auch eine erstaunliche Anzahl Flaschen »Beaune rouge 1907« aufgerechnet fand. Die große Wertschätzung, die Sir William diesem Jahrgang entgegengebracht hatte, schien nach dem Preis, den die Hoteldirektion hiefür einsetzte, nur allzu berechtigt gewesen zu sein.

»Hier liegt ein Irrtum vor«, klärte Ogle den Hoteldirektor auf. »General Broadfeather wäre gewiß sehr verstimmt, wenn ich mir anmaßte, mehr als die Hälfte dieser beiden Beträge zu begleichen. Es war ja sein Vorschlag, daß unsere beiden Gesellschaften gemeinsam dinieren sollten. Sie tun besser, die Hälfte des Betrages auf seine Rechnung zu schreiben.«

Der Direktor blickte verständnislos drein. »Das kann ich nicht. Der General ist seit zwei Stunden fort!«

»Sonderbar«, meinte Ogle. »Hat er seine Rechnung geprüft, ehe er wegfuhr?«

»Geprüft? Na, ich bin gerade noch mit dem Leben davongekommen.«

»Dann muß ein Mißverständnis vorliegen. Es ist doch seltsam, daß …« Ogle stand vor einem Rätsel. »Seltsam«, sagte er. »Hat Sir William sein Lunch im Auto mitgenommen?«

»Nein, Herr, er gab keinen Auftrag.«

»Seltsam«, wiederholte Ogle nachdenklich und zahlte zögernd die Rechnung.

Draußen wurde das Gepäck auf das Dach des Autos geschnallt. Hyacinthe stand daneben und betrachtete nachdenklich seine Zigarette. Madame Momoro, die schon auf ihrem gewohnten Platz im Wagen saß, winkte ihm mit ihrer langen, schwarzbehandschuhten Hand einen heiteren Gruß zu.

»Broadfeather hat wegen des Lunches nichts veranlaßt«, teilte er ihr mit. »Er ist schon seit zwei Stunden fort und wir müssen uns eilen, wenn wir ihn mittags treffen wollen.«

»Oh nein. Keineswegs«, lachte sie. »Diese Engländer werden, Gott sei Dank, nicht auf uns warten.«

Als der Wagen in voller Fahrt war, kehrte Ogle zu »diesen Engländern« zurück.

»So wußten Sie also, daß die Broadfeathers lange vor uns aufgebrochen sind?«

»Zumindest wußte der General, daß mir eine neuerliche Begegnung unerwünscht wäre. Ich glaube, er hat gestern abend zuviel getrunken. Er wurde beim Bridge schließlich so verwirrt, daß er mit dem Zählen gar nicht mehr zurechtkam. Er begann Streit mit dem armen Hyacinthe und einen Augenblick später war er zu mir wieder zu liebenswürdig. Er wurde einfach unausstehlich; es war ungemütlich und wir mußten das Spiel vorzeitig abbrechen. Wir werden die Leute nicht wiedersehen. Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, sprechen wir nicht mehr von ihnen. Es war zu peinlich.«

Ogle hatte seine eigenen Gründe, das Thema Sir William als peinlich zu empfinden, aber er behielt sie für sich. Nachdem sie beide längere Zeit geschwiegen hatten, sah Madame Momoro ihn fragend an.

»Sie sind heute nicht liebenswürdiger als gestern«, sagte sie schließlich. »Habe ich wieder etwas angestellt?«

»Oh, gewiß nicht.«

»Ich weiß nicht, was vorgefallen sein mag, aber es ist ganz und gar nicht mehr das gleiche. Ich hätte nie mit Ihnen kommen dürfen.« Ihre Stimme zitterte, sie sank in die Kissen und preßte die Hand gegen ihre Stirn. »Ah, ich hätte es wissen müssen!«

»Was?«

»Daß Sie Hyacinthe und mich als Ballast empfinden werden.«

»Unsinn«, widersprach er. »Sie sollen nicht solche Sachen sagen.«

»Auch wenn sie wahr sind? Sie boten mir die Hand zur Flucht und ich war schwach genug …«

»Zur Flucht vor dem Pariser Winter …?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin vor Schlimmerem geflohen. Als ich von Paris sprach, war ich mir darüber klar, daß Fräulein Daurel alles mögliche versuchen würde, uns zurückzuhalten. Ich fürchtete, ich würde schwach genug sein, mich wieder von ihr einfangen zu lassen. Ich kenne das. Meine Sorge um Hyacinthe hätte schließlich alles andere besiegt, und ich hätte dieses schreckliche Leben wieder aufgenommen. Wie schon einmal.«

»Sie haben schon früher einmal versucht, sich loszumachen?«

»Oh, wie oft schon! Das letzte Mal … Hyacinthe ist doch in seinem öden Beruf so unglücklich, und seit dem Tod eines Freundes, dem er den Posten verdankt, hat er auch keine Aussicht auf Karriere mehr. Hyacinthe ist ein stiller Junge, aber er ist sehr klug und er hat sehr viel Verständnis für Musik. Ein Pariser Impresario hat ihm vorgeschlagen, mit hunderttausend Francs Einlage Teilhaber seiner Agentur zu werden. Für den armen Jungen wäre das die Seligkeit, und was sind hunderttausend Francs für die Daurels! Ja, das war der letzte Streit, den wir hatten. Ich sagte Fräulein Daurel, es müßte ihr eine größere Freude sein, schon zu Lebzeiten etwas für Hyacinthe zu tun. Sie bekam einen Wutanfall.«

»Warum denn?«

»Ja, sie glaubte, wir suchten eine Möglichkeit, uns ihr zu entziehen. Diese fürchterliche alte Frau …! Und dann brachte sie uns doch wieder dazu, bei ihr zu bleiben. Sehen Sie, darum nahm ich so unüberlegt Ihren Vorschlag an, denn mit Ihnen in ein Automobil einzusteigen und frei wie eine Zigeunerin durch das Land zu ziehen – das schien mir die dauernde Rettung. Zigeuner sind schwer aufzufinden.« Sie lachte erregt. »Meine Rechnung war falsch, ich dachte nur an mich, nicht an Sie … Ich wußte nicht … daß Sie die Berge hassen … und daß Sie schließlich auch mich hassen würden.«

»Ich weiß gar nicht, was Sie meinen«, widersprach er. »Ich bin oft ohne Grund schweigsam und verstimmt. Sie dürfen mir glauben, daß …«

»Geben Sie sich doch keine Mühe, liebenswürdig zu sein«, unterbrach sie ihn. »Wir wollen uns Ihnen nicht länger aufdrängen.«

»In welch schiefe Position Sie mich bringen«, protestierte er. »Bloß weil die Berge meine Nerven ein wenig …«

»Nein, nicht bloß!« unterbrach sie nochmals, jetzt mit ungewohnter Schärfe. »Wir werden mit dem ersten Dampfer von Tunis nach Marseille fahren. Aber um nach Tunis zu gelangen, muß ich Ihnen leider bis Biskra zur Last fallen. Nun, es ist bloß noch ein Tag. Sie sehen, ich verlasse Sie, sobald ich kann, und das mag Ihnen ein gewisser Trost sein.«

»So wollen Sie mir in Biskra Lebewohl sagen?«

»Weil es früher nicht möglich ist.«

Die Schärfe ihres Tones begann nun auch ihn aus der Ruhe zu bringen. Der Gedanke daran, wie sehr sie ihn ausgenutzt hatte, verdrängte ein Mitgefühl, das sich leise in ihm geregt hatte.

»Ich begreife. – Sie scheinen sehr sicher zu sein, daß Sie ›ihn‹ in Biskra treffen werden«, sprach er mit Bitterkeit.

»Ich …« Sie starrte ihn entgeistert an. »Ich glaube fast, Sie meinen Tinker?«

»Allerdings.«

Sie sagte nichts mehr. Aber nachdem sie Ogle noch einige Augenblicke fassungslos angestarrt hatte, machte sie eine Bewegung, die in einem mit hundert Kilometer Stundengeschwindigkeit fahrenden Auto seltsam anmutete; als hätte sie ganz vergessen, wo sie sich befand, erhob sie sich halb von ihrem Sitz, wie wenn sie fortgehen wollte. Dann besann sie sich, streckte die Hand aus, um an die Glasscheibe zu klopfen, und öffnete die Lippen, um dem Chauffeur etwas zuzurufen. Ogle griff rasch nach ihrer Hand und hielt sie fest.

»Aurélie«, sagte er. »Sie können doch hier nicht aussteigen …«

»Warum nicht?« fragte sie zornig. »Zwischen zwei Übeln wählt man immer das kleinere.« Dann befreite sie ihre Hand aus der seinen, bedeckte ihre Augen damit und sank auf den Sitz zurück. »Einen Augenblick nur«, murmelte sie. »Ich muß ein wenig überlegen …«

»Das meine ich auch … ehe Sie etwas so Sinnloses tun …« Er sprach weiter, wie Männer immer tun, wenn sie Reue fühlen: »Ich begreife nicht, warum Sie meine Bemerkung so übel genommen haben; sie war doch nicht so böse gemeint. Aber ich bin gerne bereit, mich zu entschuldigen und alles zurückzunehmen. Ich hatte nicht die Absicht …«

»Danke«, sagte sie und lachte hilflos nervös, wie zur Entschuldigung der Tränen, die jetzt an ihren Wimpern zitterten. Sie suchte eine Weile vergeblich nach ihrem Taschentuch, eine Beschäftigung, die selbst die stärksten Männer in ihren Vorsätzen wankend werden läßt. Als sie es schließlich gefunden hatte, reichte sie ihm, ohne ihn anzublicken, die Hand.

»Verzeihen Sie mir, bitte«, flüsterte er leise, denn diese großmütige Geste der Versöhnung vollendete seine innerliche Kapitulation. »Können Sie mir verzeihen? Und vergessen?«

»Natürlich«, murmelte sie und drückte zärtlich seine Hand, ehe sie die ihre wieder zurückzog. »Wir müssen beide ein wenig vergessen, mein Lieber!« Damit heiterte sich ihr Gesicht wieder auf und sie lächelte tapfer. »Mit diesem Unsinn verderben wir uns einen herrlichen Tag. Sie werden die Schlucht Schabath-el-Ahkra sehen, deren Abhänge von Affen wimmeln – und nicht von Engländern – und dann kommt eine große, einsame Hochfläche in Pastellfarben. Wir sind auf dem Weg in die Wüste! Können wir für eine kleine Weile wieder glücklich sein?«

Er beteuerte, daß sie es könnten, und glaubte es beinahe selbst. Am späten Nachmittag, als sie die öde, kleine Stadt Selif auf dem Atlasplateau erreichten, glaubte er es mit stärkerer Überzeugung. Madame Momoro war niemals reizender gewesen. Sie hatte jede Spur der zarten Koketterie abgelegt, die bis dahin der prickelnde Reiz ihres Wesens gewesen war, und war ganz zur gütigen, heiteren Gefährtin geworden, die ängstlich darauf bedacht, daß ihm nichts Sehenswertes entgehe, nur der bescheidenen Hoffnung lebte, daß ihm gefallen möge, was sie zu zeigen vermochte. Sie war aufrichtig zärtlich zu ihm und je nach seiner Stimmung gefühlvoll oder lustig. Mit verwirrender, leiser Stimme, die er eben noch vernehmen konnte, sang sie ihm arabische Lieder vor. Etwas von dem alten Zauber, den sie früher auf ihn ausgeübt hatte, kehrte zurück und wie in den ersten Tagen wünschte er wieder, daß dieses traumhafte Umherreisen mit ihr ewig dauern möchte. Wenige Kilometer vor Biskra sagte er ihr, die ein wenig müde aussehend neben ihm lehnte:

»Ich wünschte, mit Ihnen geradewegs in die Wüste hineinzufahren und nie mehr zurückzukehren.«

»Für Autos ist es nicht leicht, dort zu fahren«, erwiderte sie. »Und wo würden dann die Dramen bleiben, die Sie schreiben sollen?«

»Ach, wie weit entfernt und wie unwirklich scheint mir das alles – New York … die Bühne … Wie unwichtig … Wenn ich dahin zurückkehren muß …«

»Ja?«

»Nun, da Sie doch nicht wieder heiraten wollen, um Ihr Seelenheil nicht zu gefährden …«

»Bestimmt nicht. Nicht einmal, wenn sich jemand finden würde, der mir einen Heiratsantrag machte.«

»Dann wünschte ich …« Er machte eine Pause und lächelte versonnen. »Dann wünschte ich, Sie wären keine Frau, sondern ein Junge und könnten mich begleiten.«

Ihr müdes Aussehen verstärkte sich ein wenig.

»Es ist sonderbar,« sagte sie, »wenn ein Mann einmal platonisch wird, dann wünscht er stets, die Frau sollte ein Junge sein; niemals aber wünscht er, selbst ein Mädchen zu werden. – Ich fürchte, ich würde einen etwas bejahrten Jungen abgeben, mein Lieber.«

»Sie halten mir mit Absicht immer wieder vor, wie idiotisch jung ich bin,« erwiderte er etwas ärgerlich. »Warum …«

»Ja, begreifen Sie denn nicht, wie unpassend unsere Reise wäre, wenn Sie nicht so jung wären? Es ist ein großer Unterschied für mich, ob ich mit meinem Sohn und seinem jungen Freund eine Autotour mache, oder ob mein Sohn nur als Garde mit ist. Ich bin in Wirklichkeit viel konventioneller, als Sie vermuten. Es bleibt nichts anderes übrig: entweder Sie sind sehr jung – oder ich muß den Wagen halten lassen und aussteigen, wie ich es Ihnen schon einmal angedroht habe.«

»Sie machen sich wieder einmal über mich lustig! Manchmal habe ich das Gefühl, daß Sie das von Anfang an getan haben. Ist das richtig?«

»Nein«, gab sie kurz zurück. Und ohne ihre Antwort durch irgendwelche Erklärungen zu komplizieren, ging sie auf ein anderes Thema über: »Sehen Sie sich doch um; hier wird es Ihnen besser gefallen als in den Bergen.«

Sie durchfuhren eben einen Torweg aus gigantischen, wild zerrissenen Felsen und waren dann plötzlich in der grünen Oase von El-Kantara. Hunderte von Palmen schwenkten ihre grünen Wedel über flachbedachten Lehmhäusern und langen Lehmwällen. Weißgekleidete Gestalten bewegten sich durch kühle, grüne Alleen und durch das dichte Blätterwerk malten die Sonnenstrahlen orangenfarbige Lichter und violette Schatten auf sie. Der Lärm eines Tam-Tam erklang von irgendwo und das Rieseln fließenden Wassers war zu hören.

Madame Momoro wandte sich lächelnd zu ihrem entzückten Gefährten: »Ihre erste Oase!«

»Es war doch der Mühe wert!« rief er impulsiv, ohne sich dessen bewußt zu werden, daß der Sinn seiner Worte nicht eben galant war. Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu, den er nicht bemerkte; ihre schönen Brauen zogen sich ein ganz klein wenig in die Höhe, aber sie sagte nichts.

Hinter der Araberstadt kamen sie an den langen, weißgetünchten Mauern eines Forts vorbei, und nahe dem Tor stand ein nubischer Wachposten, schwärzer als schwarzer Lack, vor der unerträglich blendenden weißen Mauer in der afrikanischen Sonne. Ogle war begeistert. »Sehen Sie nur«, rief er. »Ein Klecks Druckerschwärze auf weißem Kalk!«

Sie fuhren jetzt einen sanft geneigten Weg hinab, und einige Augenblicke später klopfte Madame Momoro an die Glasscheibe. Der Wagen hielt. »Nun?« sagte sie und nichts weiter.

Aber sie hätte Ogle nicht erst aufmerksam machen müssen. Er starrte weit vorgebeugt, mit großen Augen auf die unendliche Weite des blaßblauen Horizonts – nur das wogende Wasser fehlte, sonst war das Bild ganz das gleiche wie jenes, das er so oft mit derselben Gefährtin neben sich vom Deck der »Duumvir« genossen hatte.

»Es ist also wahr!« rief er. »Immer habe ich davon gehört, daß die Wüste genau wie der Ozean aussehe. Aber die meisten Schilderungen erweisen sich als unwahr, wenn man sie mit eigenen Augen überprüft. Hier werden sie durch die Tatsachen übertroffen! Dieser blaue Ozean dort …,« er zögerte zweifelnd, die Illusion war zu stark, »das ist doch wirklich die Wüste?«

»Ja,« erwiderte sie, »es ist die Sahara.«


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