Adalbert Stifter
Witiko
Adalbert Stifter

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Da hierauf eine kleine Weile niemand geredet hatte, stand in der ersten Reihe der Mann mit dem weißen Barte und dem weiten dunkelpurpurnen Sammetgewande auf, trat einige Schritte gegen den freien Raum, kehrte sich gegen die Versammlung, und sagte: »Ich bin Nacerat der Sohn des Tas.«

Ein allgemeiner Jubelruf folgte diesen Worten.

Als er verhallt, und tiefe Stille eingetreten war, sprach der Mann: »Liebe gewogene ansehnliche Herren! Ich bin ein unbedeutender Mann in diesen großen und mächtigen Ländern.«

»Der bedeutendste«, rief eine Stimme.

»Ein unbedeutender Mann«, fuhr Nacerat fort.

»Nein, nein, nein«, rief eine Menge von Stimmen.

»Meine Worte sind nicht wichtig«, sagte Nacerat.

»Ja, ja, ja, ja«, rief es durcheinander.

»Liebe Ansehnliche«, sagte Nacerat, »wenn ihr mir wohlwollet, so höret mich.«

»Hört ihn«, riefen Stimmen.

Als es stille geworden war, sprach Nacerat: »Ich bin unbedeutend in dieser hohen Versammlung. Meine Worte werden keine Triftigkeit haben, und werden in den Waagschalen, die ihr in euren weisen Händen haltet, und die ihr schon gerichtet haben werdet, nichts ändern; aber ich glaube, daß in diesen schweren Zeiten der Große und Kleine reden muß, damit er seinen Anteil zeige. Diese erhabene Versammlung ist eine wichtige aber friedfertige, ich bin ohne Waffen gekommen, weil sie ihr Werk in Frieden und Eintracht schlichten wird, wie einmal in vergangenen Zeiten unser Land in Glück und Frieden verwaltet worden ist. Ihr werdet wissen, und es ist in schönen lateinischen Worten aufgeschrieben, daß unser Volk ein stilles gewesen ist; es hat nur fremde Angriffe abgewehrt, und hat dazu einen Kriegsführer gewählt, der danach wieder keine Macht hatte. So war der Vater Cech, der vor siebenhundert Jahren unsere Leute in dieses Land geführt hat. Nach ihm erscheint kein Gewalthaber. So war Samo vor fünfhundert Jahren, dem wieder keiner folgte. Für das Wohl und das Recht der Gemeinden sorgten die Ältesten dieser Gemeinden, denen daher der Name Starosten blieb. Und die Versammlung der Starosten aller Gemeinden ordnete und verwaltete auf Landtagen das Land. Wer durch Besitz und Erfahrung hervorragend war, der konnte auch in jüngeren Jahren ein Starost werden. So entstanden die Namen Lechen Kmeten Wladyken. Wenn einer durch Weisheit bekannt war, gehorchten ihm die andern freiwillig wie einem Fürsten, und er hatte die väterliche Macht. So war Krok. Aber wie damals die Kinder nach dem Tode ihres Vaters ihr Erbe ungeteilt ließen, und sich zur Verwaltung desselben aus ihrer Mitte einen Wladyken wählten, so geschah es auch zuweilen, daß die Landeskinder zur Verwaltung des Landes gleichsam einen Wladyken des Landes wählten, der dann ihr Fürst war. Das ist in späteren Zeiten stets öfter geworden. Die Landeskinder aber sind immer die Lechen Kmeten und Wladyken gewesen. Sie sind in diesem Saale versammelt. Der Herzog herrscht nur durch sie und mit ihnen. Eure Rechte müssen vor denen des Herzogs gewahrt werden, weil er aus euch hervorgeht. Nur so wird eine glückliche friedfertige Zeit, in der ein einzelner nicht die Kraft und das Gut aller für sich gebrauchen und verwenden kann. Es sind aber unter den Herzogen solche gewesen, welche die Rechte der Landeskinder nicht gewürdiget, und nur ihr eigenes Wohl bedacht haben. Selbst unser edler erlauchter und ruhmreicher Herzog Sobeslaw, dem Gott die Wiedergenesung schenken möge, hat nicht immer den Rat der Großen verlangt, und sie öfter abseits stehen lassen. Darum bin ich auch für seinen Boten in dieser Versammlung nicht aufgestanden, wenn es mir gleich nicht unlieb ist, daß derselbe vor uns auf einem Stuhle sitzt. Weil nun euch als Landeskindern die Wahl des Herzogs zusteht, so habt ihr gewiß schon bis zur Schlußfassung erwogen, wer der künftige Herzog sein wird, und daß er eure Rechte achtet. Wir können euch nur für diese Tat den tiefsten Dank bringen, da durch sie wieder das Glück und die Ruhe und der Reichtum in unsere Fluren einkehrt, wie es einstens gewesen ist. Wir die wenigeren haben in der Zeit vor eurem Erscheinen in dieser Stadt und in diesem Saale mehrere Zusammenkünfte gehabt, und haben auch auf diese Dinge unsere Gedanken gerichtet. Es ist uns der Mann zu Sinne gekommen, den früher mein Bruder Znata genannt, und den der hochehrwürdige Bischof von Olmütz empfohlen hat, Wladislaw der Sohn unsers vorigen edlen Herzogs Wladislaw. Er ist gut und freundlich, er liebt unsere Kinder, teilt ihre Freuden und Leiden, hört ihre Meinungen, spielt ihre Spiele, und scheut ihre Rechte, er hat Ehrfurcht vor ihren Vätern und dem Rate derselben. Wenn ihr aber den andern Wladislaw den Sohn Sobeslaws wählen werdet, so ist es gewiß, daß ihr überzeugt seid, daß derselbe noch mehr eure Rechte schützen, noch mehr euren Rat hören, noch mehr die Landeskinder beglücken wird. Ich ende meine Worte, die schon zulange gedauert haben.«

Nacerat ging wieder zu seinem Sitze.

Es entstand nun ein so starkes Rufen, daß es betäubend war: »Nicht der Sohn Sobeslaws«, »dein Wladislaw«, »Wladislaw«, »Wladislaw«, »Wladislaw.«

Der Sohn des Nacerat hatte sein Schwert samt der Scheide aus dem Gürtel gelöst, und schwang es vor Freude jauchzend um sein Haupt. Die meisten der Anwesenden begannen mit ihren Händen an die Scheiden der Schwerter zu schlagen, daß es rasselte und klirrte.

Die meisten standen auf, viele traten auf ihre Sitze.

Als wieder Stimmen vernehmbar wurden, hörte man neuerdings nur die Worte: »Wladislaw«, »Wladislaw«, »Wladislaw.«

Da das Rufen sich abschwächte, drangen Stimmen mit den Worten vor: »Nicht mehr sprechen«, »nicht mehr sprechen.«

Der großgewachsene schwarzhaarige Predbor rief mit einer furchtbaren Stimme: »Wladislaw ist gewählt.«

Es erscholl nun wie aus einem Munde: »Wladislaw ist gewählt«, »Wladislaw ist gewählt.«

Endlich nach geraumer Zeit ging Zdik zu der Glocke, und schlug mit Gewalt auf dieselbe.

Als die Unruhe sich gemindert hatte, rief er: »Und wenn ihr auch auf diese Weise gewählt habt, so müssen doch noch, die zu reden befugt sind, gerufen werden, und es muß die Abstimmung folgen.«

Ben trat vor, und rief: »Ich fordere als zweiter Führer der Versammlung diejenigen auf, zu reden, welche noch angemeldet sind.«

»Wir sprechen nicht mehr«, riefen mehrere Stimmen.

Ben rief wieder: »Wenn niemand mehr sprechen will, muß die Antwort durch Schweigen geschehen. Ich rufe daher noch einmal die nächsten Redner auf, zu sprechen.«

Es erfolgte keine Antwort.

»So ist die Sprache über die Herzogswahl geschlossen«, rief Ben.

»Geschlossen«, ertönte eine Menge von Stimmen.

Zdik gab jetzt mit drei langsamen Schlägen das Zeichen, daß man sich zur Abstimmung richte. Dann rief er: »Daß man stimmen könne, müssen die Männer dieser Versammlung sitzen.«

Als sich alle niedergesetzt hatten, rief er: »Ich Zdik der Bischof von Olmütz der erste Führer dieser hohen Versammlung fordere alle diejenigen auf, sich von ihren Plätzen zu erheben, welche des Sinnes sind, daß Wladislaw der Sohn des erlauchten verstorbenen Herzogs Wladislaw nach dem Tode unseres ruhmreichen Herzogs Sobeslaw Herzog der Länder Böhmen und Mähren werde.«

Nacerat erhob sich von seinem Sitze, Znata, der alte Milota, Ctibor, alle jungen Männer standen auf, immer mehrere erhoben sich, auch Priester, bis endlich fast die ganze Versammlung neben ihren Sitzen stand.

Zdik rief mit lauter Stimme: »Wladislaw der Sohn des letzten gestorbenen Herzoges Wladislaw ist von den Herren der Länder Böhmen und Mähren für den Tod des Herzoges Sobeslaw zum Herzoge dieser Länder gewählt worden. Die Wahl wird in die Pergamente eingetragen werden.«

Ein Jubel entstand nun, der den Saal erzittern und die Luft beben machte.

Nach langer Zeit konnte man erst die Rufe vernehmen: »Nun ist alles glücklich geendet«, »nun ist wieder das Glück im Lande«, »nun sind wir endlich einmal erlöst«, »nun ist alles gut.«

Zdik gab ein Zeichen, daß er reden wolle.

Als man ihm durch vieles Bemühen Frist zum Sprechen gemacht hatte, sagte er: »Nun beantrage ich, daß eine Botschaft an den Gewählten, der sich in Wien befindet, abgeordet werde, und auch eine Botschaft, welche dem Herzoge Sobeslaw Nachricht von dem Geschehen gebe.«

Nacerat stand auf, und sprach: »Ich meine, daß der Antrag gut ist, senden wir die Botschaft an Wladislaw, und ich schlage vor, daß wir uns in drei Tagen zur Beratung der Botschaft an Sobeslaw versammeln.«

»In drei Tagen an Sobeslaw, in drei Tagen an Sobeslaw«, riefen fast alle.

Und es ward wieder ein Rufen und Jubeln.

Der Bischof Silvester trat in den freien Raum, hob seine Arme empor, und bewegte sie zum Zeichen, daß er reden wolle. Aus seinen blauen Augen flossen Tränen über seinen weißen Bart auf sein Kleid hinunter.

»Der Bischof will reden, der Bischof will reden«, riefen mehrere Stimmen.

Als es stille geworden war, rief der Bischof Silvester mit lauter Stimme: »Ich Silvester der erwählte Bischof von Prag als oberster Seelenhirt des Landes Böhmen widerspreche der Wahl. Sie ist vor dem dreieinigen Gotte ungültig und sündhaft. Und wenn der heilige Adalbert, der unser Vorbild ist, sein Amt niedergelegt hat, weil er nicht verantworten konnte, daß seine Untertanen heidnische Gebräuche nicht ablegten, so kann ich nicht verantworten, daß die mir Anvertrauten freiwillig und feierlich das Gebot des Herrn verletzen, und lege mein Amt nieder. Mein Gebet wird fortan sein, daß Gott dem Lande nicht entgelten lasse, was seine besten Söhne gesündigt haben.«

Ein wildes Geschrei entstand auf diese Worte. Der Bischof ging gebeugten Hauptes zu seinem Sitze, und setzte sich auf denselben nieder.

Die meisten schickten sich an, den Saal zu verlassen.

Zdik trat zu dem Bischofe Silvester, legte ihm beide Hände auf die Schultern, schaute ihm in das Angesicht, und sprach: »Mein Vater und Freund, mit dem ich zu Jerusalem an dem Grabe des Herrn gebetet habe, es ist keine Sünde. Eher hat Sobeslaw gefehlt, daß er nur an die Seinigen gedacht hat. Unser Erwählter wird das Land von dem Untergange retten, und die werden arg getäuscht sein, welche auf ihn leichtfertige und eigennützige Hoffnungen gebaut haben.«

Silvester wischte sich mit seinem Kleide die Tränen ab, und sagte: »Mein Sohn, es ist doch eine Sünde. Und wenn Gottes Barmherzigkeit durch euren Erwählten das Land auf den Gipfel des Heiles führt, so wird doch die Strafe auf die Häupter des Meineides fallen.«

»Es geschehe, was muß«, sagte Zdik, »ein jeder kann nur nach dem gestraft werden, was er gesündiget hat.«

»So ist es«, sagte Silvester, und stand auf, um den Saal zu verlassen. Viele Priester schlossen sich um ihn, und begleiteten ihn zur Tür hinaus.

Witiko erhob sich von seinem Sitze, und schritt bei der Tür, durch welche er hereingekommen war, in das Vorgemach hinaus. Dort fand er noch den Priester, der ihn hergeleitet, und hier auf ihn gewartet hatte. Sie gingen mit einander fort.

Da sie in dem Gange gingen, trat aus einem Seitengange der Bischof Silvester mit seinen Priestern hervor. Witiko stellte sich zurück, und wollte den Greis vorüber lassen. Dieser aber blieb vor dem Jünglinge stehen, und sagte: »Mein gutes liebes Kind, reite zu dem Herzoge, melde ihm, was hier geschehen ist, und sage ihm, daß ich aller Würden ledig bin, und bald kommen werde.«

Nach diesen Worten machte er mit den Fingern ein Zeichen wie das des Segens, und ging mit seinen Priestern weiter. Witiko folgte ihm mit seinem Begleiter in einiger Entfernung.

Als sie in den Hof gekommen waren, fanden sie dort eine Menge von Menschen. Sie standen fast Körper an Körper gedrängt. Teils waren sie von außen hereingekommen, teils waren sie von den Räumen des Gebäudes herabgegangen. Mitten im Hofe hielt Nacerat in seinen weiten Gewändern hoch zu Pferde, von Freunden und andern umgeben, die Glück wünschten. Der Sohn des Nacerat in seiner prachtvollen Kleidung zu Pferde sitzend war neben ihm. Welislaw war da, Casta, Smil mit seinen beiden Söhnen, Ben der Kriegsanführer war da, und mehrere Diener hielten Pferde für ihre Herren bereit, und manche stiegen auf. In der Richtung von dem Tore her drängte sich der junge schöne schwarze Odolen der Sohn des Striz auf einem weißen Pferde sitzend und mit dunkelbraunen Gewändern angetan durch die Menge gegen Nacerat. Der blonde Drslaw war da, der schwarzhaarige Bogdan, der emporragende Predbor, Milota, Nemoy, Jurik, Bartholomäus, und die rote Feder Domaslaws ragte neben den Häuptern anderer Reiter empor. Der blondhaarige grüngekleidete Kochan suchte sich auf einem schwarzen Pferde seinen Weg durch das Gedränge nach auswärts, ihm folgte Milhost. An einem Fenster in der Burg oben stand der Bischof Zdik, neben ihm der Priester Daniel der Abt von Brewnow und andere. Alle Fenster waren mit Menschen erfüllt. Zahlreiche sehr schöne Frauen konnte man darunter erblicken. Mädchen und Frauen aus dem Volke standen unten im Hofe. Jubelgeschrei ertönte, und von Zeit zu Zeit rief man den Namen des neuen Herzogs, und rief Glück und Segen. Der alte Bolemil trat aus einer Tür in den Hof. Er wurde von mehreren jungen Männern, die wie Söhne und Enkel aussahen, umringt, und in ihrer Mitte gegen das Tor geführt.

Auf Witiko achtete niemand. Er ging mit seinem Priester längs der Mauer nach dem Ausgange. Von dort eilte er gegen die Stadt. Menschen begegneten ihm, die nach dem Wyšehrad eilten. Andere gingen oder ritten von der Versammlung in die Stadt. Auch den Bischof Silvester sah er noch einmal, wie er mit seinen Priestern langsam der Stadt Prag zuwandelte. Witiko ging unter den Menschen, die da waren, an ihm vorüber.

Als er an seiner Herberge angekommen war, verabschiedete er sich von dem Priester, der ihn begleitet hatte, dankte ihm, und bat ihn, daß er dem hochehrwürdigen Bischofe Silvester sagen möge, daß er nicht mehr zu ihm kommen könne, weil er unverzüglich zu dem kranken Herzoge reiten müsse. Der Priester entfernte sich, und Witiko ging in das Haus. Dort sah er nach seinem Pferde, verlangte ein weniges zu essen, und da beide er und das Tier gestärkt waren, tat er wieder die Pelzdinge über seine Lederkleidung, verwahrte seine Füße, nahm seinen Wurfspieß, bestieg das Pferd, und ritt aus der Stadt hinaus.

Er schlug den Weg nach Mitternacht ein, und ritt in einem großen Bogen gegen Hostas Burg. Er gestattete sich nur den Aufenthalt, der zur Stärkung und zum Ausruhen des Pferdes notwendig war. Die Nachtherbergen machte er so kurz, als seine Wegkenntnis und die Jahreszeit zuließ.


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