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2

Es gibt eine Blindheit der Treue, des Hasses, der Rache, der Leidenschaft, die zuweilen den stärksten Verstand so übermeistert, daß der Herr der Schöpfung, der Mann, gewissermaßen zum Tier wird und bloß seinem Instinkt folgt. Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich diese Erfahrung gemacht. Es war nach jenem merkwürdigen Gewitternachmittag, der Eindrücke hinterließ, als ob ich von dem elektrischen Fluidum, das sich an diesem Nachmittag entleert, getroffen worden wäre. Doch Lassalle war auf ganz gleiche Weise getroffen. Es war etwas Seltsames, das damals mit uns vorging. Eine gewisse Beklemmung, mit einem ganz eigentümlichen Reiz verbunden, hatte sich unsrer bemächtigt. Leontine und Zoe kamen uns vor wie zwei häßliche und gleich darauf wieder wie zwei unsäglich reizende Vampire. Wir schraken zurück vor der Umarmung dieser Ungeheuer, und doch sehnten wir uns wieder nach ihren Krallen. Wir fühlten, daß sie unser Lebensblut aussaugen würden, wir verloren sein mußten, und doch zog es uns mit unwiderstehlicher Gewalt zur Chartreuse. Unsere Gedanken weilten nur dort.

Wir waren die folgenden acht Tage ebenso viele Male ausgeritten in der Richtung der Chartreuse, immer aber in der Mitte des Weges steckengeblieben. Ein innerer Sturm trieb uns vorwärts, eine innere Stimme wieder zurück. Bei alldem war uns klar, daß ein zweiter Besuch in diesem Sirenenversteck uns den verführerischen Geschöpfen ganz zu eigen machen mußte, und doch ...

Wir waren einsilbig gegen Hauterouge, gegen Amadée, gegen unsere Diener, gegen alle Welt. Wie zwei junge blöde Leute, die in ihrer ersten Liebe befangen sind, sprachen wir bloß miteinander über Leontine und Zoe. Noch eine Stunde vor jenem fatalen Nachmittag hätten wir selbst uns diese Befangenheit nicht als möglich träumen lassen.

Es war, glaube ich, am zehnten Tag nach unserm Besuch der Chartreuse. Amadée war soeben aus dem Kirchspiel gekommen. Seine Miene drückte Kummer und die Verlegenheit eines getreuen Dieners aus, der Nachrichten bringt, die seines Herrn Ohren mißfällig berühren müssen. Er wagte es nicht, den Anfang zu machen, ich nicht, ihn zu fragen.

Dann sprengten zwei Reiter in den Hof. Es waren Hauterouge und Ducalle, die die letzten Tage miteinander verbracht hatten. Denn wir waren, wie gesagt, ungenießbar geworden. Beide waren ungemein ernst. Sie sahen uns, sahen sich an, wollten reden, konnten jedoch kaum die gewöhnlichen Begrüßungen hervorbringen.

»Ma foi!« hub endlich Hauterouge an. »Ich wollte, diese verwünschte Milchkuh wäre beim Teufel! Sie hat mehr Unheil angerichtet, als sie wert ist!«

»Wie, ist sie noch nicht gefunden, eingefangen?« fragte ich.

Ducalle und Hauterouge wechselten Blicke, die sagten: er ist ganz und gar blind und taub!

»Du weißt also nicht, Colonel, daß Roche Martin sie den folgenden Tag zurückgebracht hat?«

»Schön denn, und was hat die arme Kuh weiter verbrochen?«

»Was sie weiter verbrochen hat?« erwiderte Hauterouge ungeduldig. »Nichts weiter, als daß sie Veranlassung zu einem Gerede, zu einer Klatscherei geworden ist, von der das ganze Kirchspiel voll ist!«

»Und dieses Gerede?«

»Daß ich in der Chartreuse gewesen bin und da getanzt habe!« erklärte Ducalle.

»Daran ist die Harthörigkeit dieser Madame Allain schuld!« fiel Lassalle ein. »Vignerolles sagte ihr ein paarmal, daß ich nicht du, sondern daß ich der Baron Lassalle wäre.«

Das verdroß Ducalle, der nur ein einfacher Edelmann war. Er wähnte darin eine Anspielung auf seinen neuen Adel.

»Auf alle Fälle wäre es auch für den Baron Lassalle besser gewesen, die Chartreuse nicht zu sehen«, erklärte er spöttisch.

»In diesem Punkt wird mir Herr de Ducalle erlauben, meinem eigenen Rat zu folgen!« erwiderte Lassalle hitzig.

»Wie beliebt! Aber sodann wird mir es Baron de Lassalle auch nicht übelnehmen, wenn ...«

»Pfui!« verwies Hauterouge. »Pfui, Messieurs! Freunde! Geziemt sich diese Sprache zwischen alten Kriegskameraden? Ich sage dir, Lassalle, in meiner Gegenwart hat Madame Ducalle erklärt, sie würde weder den Colonel noch dich mehr in ihrem Hause empfangen, wenn ihr nicht die Besuche bei den Allains einstellt. Es gibt nur eine Stimme in diesem Punkt im ganzen Kirchspiel. Jedes Haus ist euch verschlossen, wenn ihr ...«

Ich hatte bisher geschwiegen, aber dies war mir zu stark.

Ich wollte reden, doch Amadée kam mir zuvor.

»Und so hat Monsieur Bossompierre, so hat er erklärt, er würde, so leid es ihm tue bei einem so geachteten Herrn wie dem Herrn Grafen, doch nicht umhin können, sich seine Besuche zu verbitten, im Fall er nicht die abscheuliche Chartreuse ...«

»Ich bitte Sie, um Gottes willen, stellen Sie diese Besuche ein!« bat Ducalle. »Ich müßte Ihnen mein eigenes Haus verschließen, oder meine Frau würde es tun!«

»Wir sind nicht in Frankreich, nicht in Paris«, wandte Amadée ein, »wo diese Art Vergnügen ...«

»Stören Sie nicht den Frieden, die Eintracht! Ihre, unsere Zukunft!« beschwor uns Ducalle.

»Wegen solcher Geschöpfe!« rief wieder Amadée.

»Wegen solcher Geschöpfe sich mit der ganzen Niederlassung zu überwerfen, wäre Raserei!« rief Hauterouge. »Wissen Sie, Colonel, wer diese Allains sind? Diese Bewohner der Chartreuse?«

»Und wer sind sie?« fragten wir.

Wie rechte verblendete junge Liebestoren wußten wir nämlich noch nichts weiter von ihnen, als was wir gesehen und gehört hatten.

»Die Mutter war die Mätresse eines spanischen Kaufmanns, den sie ruinierte und dessen Familie sie um die Pflanzung bestahl. Von ihm ist die älteste Tochter.«

»Dann war der Vater gerechter als die Welt!« fiel ich ein. »Er wußte, daß sie seine ehelichen Kinder ihr Glück finden lassen, aber seine farbige Tochter verstoßen würde. Er hat in meinen Augen wohl getan, für sie zu sorgen.«

»Ah, man wird sophistisch gerecht, wenn Leidenschaft der Stachel ist«, versetzte Hauterouge und fuhr fort: »Die beiden jüngeren sollen die Töchter eines französischen Kaufmanns aus Nantes sein, den sie später in ihr Garn zu locken wußte und gleichfalls bis auf die Haut auszog.«

»Die älteste Tochter hat einen Pflanzer von Point Coupée zum Beschützer«, fügte Amadée hinzu. »Es heißt, er habe fünftausend Gourdes bar niedergelegt und nebstdem die Chartreuse hergestellt, die das schönste Gebäude in den Attacapas sein soll. Er ist darüber mit seiner Familie zerfallen und lebt auch in der Chartreuse.«

»Sein Name?« fragte ich in Gedanken.

»Pierre Bournet oder Bornet.«

»Das also war der Pierre«, sagte ich zu Lassalle.

Lassalle nickte.

Unsere beiden Freunde und Amadée verloren ihre Geduld.

»Vergib, Colonel!« rief Hauterouge heftig. »Aber wahrlich, es ist weder die Zeit noch der Ort zu Galanterien!«

»Monsieur le baron de Hauterouge!« Ich erhob mich, der Stolz der Vignerolles regte sich. »Monsieur le baron de Hauterouge, ich bin weit entfernt, Ihnen Vorschriften in irgendeiner Hinsicht erteilen zu wollen, aber ebenso weit entfernt, sie mir erteilen zu lassen.«

Mich verdroß, was mir damals ein kleinstädtisch ungestümes, ja unzartes Einmischen in meine Angelegenheiten schien.

»Aber, mein Gott, Colonel!« bat Ducalle. »Wer hat je gehört, daß ein Kavalier, ein Mann wie Sie, wegen solcher Geschöpfe ...«

»Was nennen Sie Geschöpfe?« fiel ich ihm ins Wort. »Ja, sie sind Geschöpfe, die reizendsten, verführerischsten, die ich je gesehen! Geschöpfe, die ohne ihre Schuld in ihrer Wiege bereits mit einem Brandmal gezeichnet sind, so gezeichnet, daß der elendeste Kreole auf sie wie auf ein verpestetes Wesen herabsieht. Und warum und weshalb? Weil sie einige Tropfen farbigen Blutes haben, sie, die an blendender Weiße der ersten Herzogstochter Frankreichs nicht nachstehen! Was ist die Ursache dieser moralischen Erniedrigung? Nur ein Vorurteil, das sie bereits in den Windeln zu einem Gewerbe verdammt, das ... oh, diese Ungerechtigkeit ist entsetzlich!«

»Und wer sind diejenigen, die diese Farbigen ihres Umgangs, ihrer Gesellschaft, ihres Blutes für unwürdig erklären?« schrie ich weiter. »Wer? Kreolinnen! Abkömmlinge von Müttern, die großenteils ... man kennt ja die Kolonisationsgeschichte von Louisiana!«

»Die keine Silbe aussprechen können und jedes Wort intonieren, wie wenn sie eine Geige stimmen wollten!« höhnte Lassalle.

Ducalle und Hauterouge stürmten wütend zur Veranda hinaus. Es war das erste Mal, daß unser innigfreundschaftliches Verhältnis einen Stoß erlitten, aber die Leidenschaft macht blind. Acht Tage hatte sie in uns gebrannt, wie das Feuer in den Eingeweiden des Vulkans.

»Eh bien!« Lassalle war aufgestanden und sah den beiden nach, wie sie sich stürmisch in die Sättel warfen und davonjagten.

»Wir wollen auch fort! Amadée, laß unsere Pferde satteln!« Ich wagte es nicht auszusprechen wohin, aber mein Blick verriet es.

»Ja, wir wollen fort!« stimmte Lassalle zu. »Sogleich! Jetzt wollen wir, wollen wir ihnen zeigen ...!«

»Das wollen wir diesen elenden Spießbürgern! Glauben sie, uns zu ihren engstirnigen Ansichten über Ehe und derlei ... Amadée!« rief ich heftiger. »Laß unsre Pferde satteln!«

»Herr Graf!« sprach Amadée bittend, und seine Stimme versagte.

»Was ist's, was gibt's? Hörst du nicht?«

»Herr Graf!« Amadée stand eine Träne im Auge. »Herr Graf, nicht wahr, ich war immer ein getreuer Diener?«

Er trat an mich heran und faßte mich bei der Hand, die er küßte. Ich entzog sie ihm.

»Was soll das? Wer hat an deiner Treue gezweifelt?«

»Herr Graf!« schluchzte er. »Ich bin Ihnen gefolgt durch Hitze und Kälte, Schlachten und Gefechte, solange Ehre dabei war! Aber in dem, was Sie vorhaben...«

»Was geht dich das an?«

»... folge ich Ihnen nicht!« Die Stimme versagte ihm.

»Das brauchst du auch nicht! Wir gehen allein.«

»Eben das! Könnten Sie mich mitnehmen, aber Sie wollen allein fort! Herr Graf, wir sind hier nicht in Frankreich. Kein ehrlicher Mann könnte seine Stirn erheben! Ah, Herr Graf, wenn Sie gehen ...«

»Und wenn wir gehen?«

»Dann, verzeihen Sie, geht Amadée auch! Lieber will ich mein Brot erbetteln! Hörten Sie nur, was die Leute alles sagen!«

»Amadée!« Seine Worte hatten mich an einer empfindsamen Stelle getroffen. »Du sollst nicht betteln! Willst du deinen Lohn sogleich oder warten, bis wir zurück sind?«

»Keinen Lohn, keinen!« schluchzte er.

»Du erhältst deinen Lohn und fünftausend Livres! Bist du zufrieden? Jetzt sattle uns die Pferde, oder wenn du nicht willst, so tu' ich's selber!«

Lassalle war schon aufgesprungen und in den Stall gerannt, die Pferde zu satteln. Ich ging zum Koffer, öffnete ihn und nahm eine Geldrolle, von der ich den Lohn Amadées abzählte. Dann nahm ich einen Wechsel auf fünftausend Livres.

»Ich will kein Geld!« Amadée winkte mit der Hand und lief fort.

»Gaston, was soll das?« fragte ich Lassalle, der die Pferde schon gesattelt hatte. »Hat sich denn alles gegen uns verschworen? Wir wollen fort, komm!«

Wir füllten unsere Jagdtaschen mit Pulver, Blei, Zigarren, einigen Flaschen Wein, griffen nach unseren Gewehren und stürzten aus der Veranda. Auf dem Hof standen Amadée und Jean, beide mit Tränen in den Augen.

»Wann sind Sie wieder zurück, Herr Graf?« schluchzte Amadée.

»Vielleicht bald, vielleicht nie! Bleib oder geh, mir ist alles gleich!«

Wir sprangen auf unsere Pferde und sprengten eilig davon.

»Mein Gott!« rief Amadée und warf uns trostlose Blicke nach.

Wir waren etwa zweitausend Schritte vom Hause in den Liquidambarwald eingeritten, als wir hinter uns das Klappern von Pferdehufen vernahmen. Es war Martin, der Enkel des alten Roche Martin, der uns auf einem zottiggekrausten mexikanischen Pferdchen nachkam.

»Herr Graf!«

»Was gibt's?«

»Reiten Sie in die Chartreuse?«

»Was erlaubst du dir? Du bist ein kecker Bursche!«

»Wenn Sie dahin reiten, so sagen Sie's mir bitte! Dann gehe ich nach Hause.«

»Wie du willst! Hat Amadée dich ausgezahlt?«

»Nein, aber wenn Sie die Güte haben wollten! Ich habe gerade zehn Tage bei Ihnen gearbeitet.«

»Gut, wenn wir zurückkommen! Kehr auf die Pflanzung zurück und arbeite weiter! Dein Lohn wird dir nicht davonlaufen!«

Der Junge kratzte sich hinter den Ohren.

»Er dürfte es, wenn Sie in die Chartreuse reiten. Die Herren, die in die Chartreuse reiten, haben oft in weniger als zehn Tagen den Lohn ehrlicher Leute davonlaufen gemacht.«

Mit diesen Worten hielt der trotzige junge Mensch an, streckte seine Hand halb vor und erwartete die Berichtigung seines Lohnes. Wir sahen einander an. Diese Sprache war uns neu. Hatten die reizenden Geschöpfe in der Chartreuse einen unauslöschlichen Eindruck in uns zurückgelassen, einen Eindruck, der um so unwiderstehlicher werden mußte in der sonderbaren Lage, in der wir uns befanden, in dem heißen Klima, im Müßiggang, in der Umgebung von halbrohen Pflanzern und Herdenbesitzern, so hatte die Sprache unseres Amadée diesen Eindruck bereits stark erschüttert, und nun die des jungen Akadiers noch stärker.

Wir hielten und schauten uns abermals an. Noch vor einer Viertelstunde war unser Entschluß festgestanden, in die Chartreuse zu reiten, jetzt wankte er. Die Gefahr, der wir uns durch das Trotzen gegen die öffentliche, freilich, wie wir glaubten, spießbürgerliche Meinung aussetzten, trat uns jetzt ganz vor Augen. Wir waren von den Kreolen, von ihren Dienstleistungen, Meinungen, ihrem guten Willen abhängig. Wo blieben bei einem Zerwürfnis unsere Aussichten? Wo die Gründung einer Existenz?

Und Eleonore? erinnerte mich plötzlich eine innere Stimme an meine Braut, die drüben in Frankreich auf mich wartete.

»Geh nur zurück, Martin!« sagte ich zu dem Akadier. »Wir wollen auf die Jagd.«

»Auf die Jagd? Dann brauchen Sie einen Führer! Ich kenne die Pfade bis hinauf nach Opelousas, zur Côte gelée, ich kenne die meisten Pflanzerhäuser!«

»Wir wollen keine Pflanzerhäuser, wir wollen in die Prärie, wir wollen jagen!«

»Dann will ich mit Ihnen! Ohnehin wird es mir bange zwischen den vier Pfählen. Chretien und Großvater Roche sind auch jetzt auf der Jagd.«

»Wir wollen nicht zu deinem Großvater.«

»Aber Sie werden mich brauchen können«, beharrte der junge Mensch. »Wir wollen zusammen auf die Jagd!«

»Vielleicht ist es so besser«, raunte mir Lassalle zu. »Nehmen wir ihn mit!«

Und wir ritten ... Wohin? Das wußten wir selber noch nicht.


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