Hedwig Schobert
Künstlerblut
Hedwig Schobert

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XXVI.

Im Osten versuchte die Sonne die schweren, grauen Wolken zu durchdringen, die düster den ganzen Himmel bedeckt hielten. Grete und Viktor standen am Fenster von Marthas Wohnzimmer und sahen hinaus in das trostlose Wetter; sie hatten noch nichts gesprochen, seit sie an Marthas Totenbett gestanden hatten. Gretes Gesicht war verweint, der Ausgang dieser Schicksalstragödie hatte sie ebensosehr erschüttert wie entsetzt.

»Trübselig wie unser ganzes Leben,« sagte Viktor endlich und zeigte zum Fenster hinaus. »Welch eine unverständliche Grausamkeit, ohne unsern Willen zu einem Dasein verurteilt zu werden, in dem wir ebenso machtlos sind, wie im Werden und Vergehen. Der einzige Trost bleibt uns nur in der Gewißheit des Nichts, das uns am Ende aller Tage erwartet.«

Grete sah ihn traurig an.

»Oder sind Sie etwa ein frommgläubiges Gemüt, Gretchen?«

»Wie sollte man sie ohne einen Glauben ertragen, die Stunden der Ratlosigkeit und Hilflosigkeit, die für jeden kommen; wie sollte man imstande sein, ohne Verbitterung Opfer zu bringen?« sagte sie leise. Ihr Blick streifte die Tür, die in Marthas Nebenzimmer führte, was sie nicht aussprach, empfand Viktor doch ganz genau.

»Nein! – Sie war nicht fromm,« beantwortete er ihr stummes Denken, »sie liebte nur sich – sich und das Leben! Aber sind wir berechtigt, ihr deshalb Vorwürfe zu machen? Gott – oder die Natur, wie Sie es nennen wollen – legte alle diese Keime in ihre Seele und ließ sie werden, wie sie war. Wen trifft der Vorwurf? Den Schöpfer oder das Geschöpf? – Freilich – für euch Frauen mag es notwendig sein, daß ihr euch in ein abhängiges Verhältnis zu einem höheren, unsichtbaren Wesen setzt; für uns nicht.«

»Und wohin flüchten Sie sich aus einer Welt voll Tod, voll Schmerz, voll feindseliger Leidenschaften?« fragte sie noch immer in demselben traurigen Ton.

Jetzt war er es, der mit der Hand auf jene geschlossene Tür wies.

»Ins Nichts!«

Er machte einen Schritt vom Fenster fort, aber nachdrücklich legte Gretes Hand sich auf seinen Arm.

»Bleiben Sie hier; Gregor ist drinnen. Es gibt Stunden, in denen wir nicht gestört werden dürfen. Sie gehören Gott und unserm besseren Teil allein.«

»Kennen Sie solche Stunden, Grete?«

»O gewiß!« sagte sie ruhig und sah in den fallenden Regen hinaus.

Forschend blickte er sie an. Merkwürdig war es doch, daß dies Mädchen, das sich so schlicht gab, das nie ein verdammendes Wort für andere hatte, ihm immer wie eine berufene Richterin jedes bösen Gedankens, jeder häßlichen Handlung erschien und trotzdem einen Hauch des Friedens mit sich brachte, dem Viktor sich selbst in den trübsten Stunden seines Lebens nicht entziehen konnte. Am liebsten hätte er in diesem Augenblick seine Stirn an ihre Schulter gelegt. Denn niemals war die ganze Schalheit alles dessen, was er erreicht hatte, ihm lebhafter vor Augen getreten, als an Marthas Totenbett. Lohnte es sich denn eigentlich zu leben?

Drinnen im Schlafzimmer, vor dem Bett der Toten, lag Gregor auf den Knien und sah mit dürstenden Augen in das blasse, süße Gesicht, das friedlich und unentstellt in den weißen Kissen lag.

»Martha! Mein Liebling!« sagte er leise, und Tränen rannen über sein welkes Gesicht. »O warum mußtest du das tun? Jetzt weißt du vielleicht, was du mir gewesen bist! Mein Kind, mein Liebstes! – Alles was dies Herz je besessen an Liebe, dir allein hat es gehört. – Warum nahmst du mich nicht mit? – Ich hätte dir ohne Zögern das Geleit gegeben auf dem unbekannten Wege, den du nun so ganz allein gegangen bist! So lange du lebtest, gehörtest du der Welt – deinen Wünschen – deiner Stellung! In dieser Stunde aber bist du mein – mein ganz allein! – Und alles was Gutes in mein armseliges Leben gefallen ist, es kam von dir! – Martha! Martha! Warum bist du allein gegangen!« – Seine zitternden Finger streichelten das kalte Gesicht der Toten, und zum erstenmal so lange er sie kannte, berührte er mit scheuem Munde die blassen Lippen. Er war der Einzige gewesen, der diesen Ausgang gefürchtet hatte.

Und als er noch einen letzten Blick in das süße Kindergesicht warf, da erfaßte auch ihn Schauer vor der Unbarmherzigkeit des Schicksals. – –

Es war ein imposantes Begräbnis, das der so viel bewunderten und gefeierten, so tief bedauerten Künstlerin zuteil wurde. Ein endloser Zug von Leidtragenden folgte dem in Blumen und Kränzen fast begrabenen Sarge.

Rose Marie stand am Fenster. Längst war jeder Groll in ihr ausgelöscht.

Sie hatte durch Grete die wirkliche Todesursache, die dem großen Publikum verheimlicht worden war, erfahren, und sie vor allem begriff! – Würde sie es ertragen haben, ihrer Schönheit beraubt, ein Schrecken für jeden Fremden, für ihre Umgebung ein Gegenstand des Mitleids, weiter zu leben? Nein – rief es in ihr mit tausend Stimmen! – Marthas Entschluß wäre auch der ihrige gewesen.

Und dann mußte sie doch unwillkürlich darüber nachdenken, wie es kam, daß Martha und sie gleichartig empfanden! Grete hätte es sicher als Fügung hingenommen und ohne Murren ein trostloses Leben weiter gelebt. Aber Gretes Dasein war eben auch nicht auf äußerliche Erfolge basiert, sie brauchte weder Huldigungen noch Liebe um glücklich zu sein.

Wo aber war das Plätzchen, an dem Martha und sie ihre Seelen ausruhen lassen konnten im Alter und im Unglück? Nirgends! – Sie waren Zeit ihres Lebens Sklavinnen der Eitelkeit gewiesen; nun hatten sie keinen Ersatz, der ihnen die gähnende Leere ausgefüllt hätte, darum ging die eine in den Tod und die andere ...

Rose Marie begann es zu frösteln.

»Ich muß fort!« sagte sie laut vor sich hin. »Das Reisen wird mich zerstreuen.«

Hinter dem Sarge her schritt Viktor Alten, der Gatte der Toten, neben ihm, gebeugt Gregor. Viktor sah ernst aus, aber nicht todestraurig, wie Rose Marie deutlich wahrnahm. Auch das verstand die einsame Frau am Fenster. Opfer sind sehr edel, aber welchem menschlich fühlenden Geschöpf wäre es keine Erleichterung, wenn sie ihm noch rechtzeitig von den Schultern genommen werden! –

Und dann Herbert! – Tadellos gekleidet, einen mächtigen Lorbeerkranz am Arm, den Kopf hochaufgerichtet; von den Passanten begafft, war er sich der Aufgabe wohl bewußt, einen würdigen Leidtragenden abzugeben.

Kalt und schwer fallen die Regentropfen von dem grauen Himmel hernieder; fröstelnd stehen die schwarz gekleideten Herren um das offene Grab, in dem soeben der Sarg verschwindet. – Die letzte Nordheim ruht nun unter der Erde. – Über die Totenhügel weht der kalte Wind und treibt die Trauernden heim; der letzte Akt der Tragödie, die als glänzendes Schauspiel begonnen, ist vorüber, der Vorhang gefallen, das Publikum geht nach Haus. –

»Ich werde mir einen tüchtigen Schnupfen geholt haben, es kratzt mich schon in der Kehle,« sagte Paul Herbert, sich den Kragen des Paletots in die Höhe schlagend, ganz empört zu einem Kollegen. »Eine barbarische Sitte diese Leichenbegängnisse! Abgesehen von dem Schaden an der Gesundheit, verstimmt es auch die Nerven. Wozu diese Mahnung an Tod und Vernichtung. Wer lebt – lebt eben, und wer gestorben ist, dem kann keiner mehr helfen.«

»Ein ewiger Jammer,« meinte der junge Schauspieler, »daß die Norden so elend zugrunde gehen mußte! Solch vielversprechendes Talent und ein so schönes Weib!«

»Ja! – Ja, gewiß! Aber Frauen gibt es schließlich zu Tausenden und gute Schauspielerinnen nicht minder.«

Herbert zieht das Taschentuch und drückt es vor den Mund, ärgerlich prüfend, ob sich schon die Folgen einer Erkältung im Räuspern bemerkbar machen. – Keinen Gedanken verschwendet er mehr an die Tote. Was seine Sinne einst gereizt hatte, war zerstört. – Nur der junge Schauspieler an seiner Seite seufzt. –

Auf dem Kirchhof ist es leer geworden, das Trauergefolge hat ihn verlassen, unaufhörlich strömt der Regen, in den Zypressen und Trauerweiden stöhnt der Wind.

Viktor und Gregor sind die letzten, die den aufgeweichten, lehmigen Weg zu der Pforte hinabschreiten. Die Augen des alten Mannes sehen sonderbar stumpf und lichtleer aus, er spricht kein Wort.

Plötzlich bleibt Viktor stehen.

»Wer hätte sich solchen Ausgang träumen lassen, damals – als wir in unserem Mansardenzimmer noch so glücklich waren, Gregor,« sagt er mit bitterem Ton. »Wir sind eben alle nichts weiter als Marionetten in der Hand des Schicksals. Als ich Martha heiratete, da habe ich es gut gemeint; aber es ist Wahnsinn, eines anderen Vorsehung spielen zu wollen.«

Gregor nickte stumm.

»Der Gott dort oben hinter den grauen Wolken, an den Grete glaubt, muß ein langmütiger, geduldiger, philosophischer Gott sein, wenn er all dem Elend, der Ungerechtigkeit, der Gemeinheit auf dieser Welt ruhig zusehen kann.« Er warf einen gehässigen Blick auf Paul Herbert, dessen hohe Gestalt eben um die Straßenecke verschwand.

»Wahrhaftig, es lohnt nicht zu leben! Mein Herz ist schwer, meine Nerven sind in bejammernswertem Zustand, sogar das Wetter verstimmt mich bis zum Elendsein. Morgen reise ich. Und du?«

»Ich? Ich bleibe allein!« sagt Gregor still, dreht noch einmal den spitzen, kleinen Kopf rückwärts und wirft einen letzten Blick auf das Grab, an dem die Totengräber noch beschäftigt sind. Aus den Blumen und Kränzen, die, zu einem wahren Wall aufgeschichtet, daneben liegen, hebt der Wind ein langes, weißes Atlasband. Wie ein letzter Gruß flattert es in dem öden Grau der toten Natur hinter den Davongehenden her. – –


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