Hedwig Schobert
Künstlerblut
Hedwig Schobert

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X.

Es war ein recht bescheidener, einfacher Saal, in dem Herr Hellwig seine Schülervorstellung, die zugleich einem wohltätigen Zwecke galt, dem Publikum vorführte.

An einem der breiten Fenster stand Hellwig im Gespräch mit einem Mann, der beim ersten Blick den Eindruck großer Jugend machte. Sein Gesicht war völlig bartlos, jedoch liefen um Wange und Kinn blaue Schatten als Zeichen eines starken, aber rasierten Bartes. Die Züge waren scharf, unschön, pockennarbig, aber das alles vergaß man bei dem Feuerblick, der aus den weit offenen dunklen Augen strahlte. Diese Augen sprachen von starken Leidenschaften und dem Bewußtsein ihrer Macht.

Viele der bereits Anwesenden kannten die große, elegante Gestalt, die den kleinen Direktor so weit überragte, von der Bühne her, denn Paul Herbert war einer der beliebtesten Schauspieler der Hauptstadt, der gefeierte Held und elegante Bezauberer aller Herzen, nicht allein auf den Brettern, sondern auch im Leben.

Es war ein Wunder, daß er sein Versprechen gehalten und hergekommen war; er pflegte sich sonst nicht gerade an eingegangene Verpflichtungen zu halten, aber Hellwig hatte ihm seinen Wunsch so dringend ans Herz gelegt, daß er sich endlich doch dazu entschlossen hatte.

»Ich bin wirklich auf Ihr Urteil neugierig, Herbert,« sagte der kleine alte Herr und schnippte sich ein Stäubchen vom Rock. »Jedenfalls ist sie von einer wahrhaft berauschenden Schönheit, und das wird sie herausreißen, auch wenn das Publikum ihren Leistungen gegenüber kalt bleiben sollte. Ich glaube es zwar nicht – sie hat Theaterblut in sich, die Kleine.«

»Ich werde mein Urteil ganz objektiv fassen, lieber Direktor, für eine Frau ist Schönheit ja die Hauptbedingung. Das zeigt ihre Inferiorität unserem Geschlecht gegenüber am deutlichsten.« Er lachte und nickte dem alten Herrn zu.

Dieser trat von einem Fuß auf den anderen.

»Hm! Sie werden sich ihrer vermutlich nachher während des Soupers annehmen, Herbert; ich möchte Ihnen nur sagen: sie ist eine verheiratete Frau – machen Sie mir keine Unannehmlichkeiten.«

»Gut, gut, ich werde so artig sein wie ein neugeborenes Kind.« –

Die Vorstellung begann, es wurde im ganzen brav gespielt, manches Talent zeigte, daß es seinen Weg im Leben zu finden wissen würde.

In den Kulissen stand Martha, mit Leib und Seele bei dem, was sich auf der Bühne abspielte. Sie war so vollkommen ruhig, daß es ihr selbst mit Staunen zum Bewußtsein kam, ihr Herz klopfte nicht einmal schneller. So, genau so hatte sie es ja immer geträumt.

Alle diese Leute würden auf sie sehen, kein Wort, keine Miene, keine ihrer Bewegungen würde ihnen entgehen. Mit ihr würden sie lachen und traurig sein, sie war der Mittelpunkt alles Interesses.

Der blonde Kopf hob sich höher, mit einer wahren Gier lauschte sie auf ihr Stichwort.

Endlich!

Da stand sie nun zum erstenmal auf den Brettern, dem Ziel ihrer Sehnsucht, vor sich sah sie die Gesichter wie helle Merken aus dem Dämmerlicht des Saales tauchen, ihre Stimme, die jetzt das erste Wort sprach, klang ihr fremd und tonlos, zaghaft und unsicher. Lenes enges blauseidenes Kleid nahm ihr den Atem, ein Schwindel befiel sie, und das Herz holte in wilden Schlägen eilig nach, was es bisher versäumt hatte. Angst schnürte die Kehle, nur sekundenlang, aber genügend, um ihr die letzte Fassung zu rauben.

»Mutter!« flüsterte sie halb bewußtlos vor sich hin.

Und als ginge von diesem Wort eine Zauberkraft aus, so löste sich plötzlich der erdrückende Bann, und sie wurde ruhig, ganz ruhig. Ihr Lachen klang so frisch und natürlich, die blauen Augen strahlten so siegessicher, und als sie von der Szene trat, belohnte sie lauter Applaus.

»Hatten Sie denn gar keine Angst?« fragte eine der Mitspielenden die junge Frau, die hochatmend, glühend vor befriedigter Eitelkeit wieder in der Kulisse stand. »Mir schnürte es das Herz zu.«

»Nein,« sagte Martha und schüttelte die blonden Locken, »nein, mir ist es Seligkeit.«

Als der Vorhang zum letztenmal fiel, hatte Martha den Haupterfolg des Abends davongetragen, sie wußte es, ohne daß Herr Hellwig es ihr noch besonders versicherte. Wie in einem Meer von Seligkeit schwamm sie. Das war Leben! – Das war des Lebens wert! – Eine ganz andere war sie in diesen paar Stunden geworden, und als man sie huldigend umdrängte, als Herr Hellwig ihr die Hand küßte, da schlugen die Wogen des Glückes völlig über ihr zusammen.

Es war wie ein Rausch, der sie überkam und sie hinderte, über die nächste Minute hinaus zu denken. Nur festhalten, was sich ihr jetzt bot, festhalten jede einzige Sekunde und auskosten bis zum letzten Tropfen!

Paul Herbert stand vor ihr und heftete seine Augen auf das siegestrunkene Gesicht der jungen Frau.

»Ich gratuliere Ihnen,« sagte er und streckte ihr die Hand hin. »Über eine solche Kollegin können wir uns nur freuen.«

»Wäre ich es nur!« Sie sah zu ihm auf, ihre Augen blieben an den seinen hängen.

»Es ist ja in Ihre Hand gegeben. Bei Ihrem Talent und Ihrer Schönheit steht Ihnen die ganze Welt offen.«

Sie seufzte, – wie eine schwarze Wolke zeigte sich ihre Ehe plötzlich an dem strahlenden Himmel der Gegenwart.

»Nein – leider nein!« rief sie hastig.

»Bah! Wer ein erstrebenswertes Ziel vor Augen sieht, ist ein Narr, wenn er es nicht mit aller Energie verfolgt. Wir sind doch schließlich Herren über uns selbst.«

Er hielt noch immer ihre Hand fest. Eine leicht zuckende, rasch pulsierende, heiße Frauenhand, nach der er ihre ganze Person beurteilte.

»Sie bleiben doch zum Souper, darf ich mich dann als Ihren Herrn betrachten, schöne Frau? Oder ist mir schon ein Glücklicherer zuvorgekommen?«

»O, niemand,« sie sah zu ihm auf – »ich habe mich so auf Ihre Bekanntschaft gefreut, hauptsächlich auf Sie.«

»Wieso!« fragte er nachlässig, anscheinend nicht wissend, wohin sie zielte.

»Ich kannte Sie von der Bühne her und sah und hörte Ihnen immer gern zu.«

»Sehen Sie, das ist die Schattenseite unserer Existenz. Wir sind Gemeingut aller, öffentliche Menschen, die jeder kennt.«

»Und das ist schön!« sagte sie begeistert, »denn wer Sie kennt, bewundert Sie auch.«

Er lächelte und drückte ihren Arm etwas fester.

Paul Herbert wich Martha nicht mehr von der Seite; sobald sie aufsah, immer begegnete sie dem gleichen sengenden Blick, der ihre ganze Erscheinung gleichsam in Feuer hüllte und sie beklommen machte.

»Wie schön Sie sind!« sagte er und bog sich mit dem Weinglas in der Hand zu ihr, daß sein Atem ihre nackte Schulter streifte, »und zu denken, daß so viel Schönheit hinter dem prosaischen, häuslichen Herd verblühen will – schauderhaft! Diese weißen Arme, die das Entzücken eines Künstlers ausmachen würden, bedeckt mit dunklem Linnen, diese Hände den Kochlöffel führend – ich kann mir das gar nicht ausdenken, schöne Frau. Ihnen lächelt das Leben von einer andern, schöneren Seite, gerade Ihnen!«

Schweratmend hörte sie ihm zu.

»Wollen Sie nur! Der Wille ist schon halbe Macht,« fuhr er eindringlich fort, »und brauchen Sie dazu einen Freund, der Ihnen hilft, ich bin da – mein Name hat einen guten Klang – und meinen ganzen Einfluß, mich selbst, was ich bin und habe, lege ich Ihnen gern zu Füßen.«

Nun endlich sah sie ihn an; ein bitter trauriger Zug lag in dem weichen Kindergesicht.

»Sagen Sie mir nichts mehr,« bat sie, »es geht nicht, ich bin ja verheiratet.«

»Und lieben Ihren Mann nicht – und entsagen aus nichtverstandenem Pflichtgefühl all dem Schönen und Lebenswarmen, wozu ich Ihnen die Tür öffnen will,« rief er leidenschaftlich. »Das ist ein Mord, den Sie da an sich selber begehen wollen – Sie – in deren Adern Künstlerblut rollt.«

Sie nickte. »Von meiner Mutter her.«

»Nun, so seien Sie mutig und machen Sie sich frei, ich – ich garantiere Ihnen eine Zukunft, die all Ihre nebelhaften Träume von Glück weit hinter sich zurücklassen wird. Ich!! – Genügt Ihnen das nicht?« Sie senkte den Kopf tief auf die Brust, damit er die Tränen nicht sehen sollte, die ihr heiß in die Augen schössen.

»Ich darf nicht – ich kann nicht!« murmelte sie schmerzlich.

Er lachte schrill auf.

»Schöne Frau,« sagte er, »mir imponiert es nur, wenn Frauen sich über Vorurteile hinwegzusetzen verstehen. Entweder – oder! – Dann aber auch ohne alle Rücksicht! Hin- und herschwankendes Wünschen, mutloses Klagen halte ich für den größten Unsinn der Welt.«

»Mein Gott, was kann ich denn tun?« fragte Martha.

»Lassen Sie sich scheiden!« sagte er kurz und schroff. »Höher als alles andere steht jedem einzelnen die Berechtigung, sich selbst und seinen Neigungen zu leben!«

Sie regte sich nicht, einen Augenblick lähmte die wachgerufene Vorstellung ihr Denkvermögen.

»Sie sind so schweigsam!« sagte er nach einer Weile und strich leicht über ihren vollen Arm. Sie zuckte zusammen. Ihr weibliches Empfinden lehnte sich jetzt auf gegen seine Art, obgleich sie zu ihm empor sah, wie zu einem Gott, denn er gehörte ja zu denen, die sie so maßlos beneidete. »Für eine verheiratete Frau sind Sie noch unverantwortlich naiv.«

Mit Zornesröte richtete sich Martha auf.

»Ich merke recht wohl, daß Sie über mich spotten,« sagte sie, »ich finde aber, daß das wenig am Platze ist.«

»Spotten?« rief er erstaunt. »Ich bin einfach verliebt in Sie, das ist alles.«

Sie fuhr zurück, ihre Wangen erblaßten; sie schwieg.

Er bog sich näher, so daß sein Atem ihr wieder Nacken und Wangen streifte, und flüsterte: »Können Sie sich wirklich darüber wundern, schöne Frau? Ich fand noch keine, die das als Beleidigung aufgefaßt hat, wenn ich ihr meine Huldigung darbrachte.«

»Dann bin ich die erste!« sagte sie und preßte die Lippen aufeinander.

Um sie schwatzte die Menge, keiner nahm Notiz von den beiden; ein Gefühl von Selbstbewußtsein ließ Martha plötzlich den blonden Kopf heben, ihrem Nachbar lächelnd in das Gesicht sehen.

»Das wäre – langweilig!« bemerkte er, den Sekt beobachtend, in dem die schäumenden Perlen an die Oberfläche des Glases stiegen. »Den Reiz der gegenwärtigen Stunde holt vielleicht keine kommende ein!«

»So sei es d'rum!« rief Martha, warf sich in den Stuhl zurück und sah ihn herausfordernd an.

Sein Nimbus war für sie dahin; sie begann die Macht der Waffen zu empfinden, die ihr als Weib zu Gebote standen, instinktiv machte sie sich diese zunutze, wie es ihrem Temperament entsprach.

Heute – nur heute durfte sie ja glücklich sein!

Der verzogene Liebling und gewiegte Frauenkenner verstand sie sofort, aber obgleich er sonst weder liebte noch auch gewohnt war, lange zu warten, reizte ihn Marthas Schönheit doch zu sehr, um sich achselzuckend von ihr zu wenden.

Und nun sprach er wieder, diesmal ohne aufzusehen. Das sonore Organ, über das er gebot, weich und einschmeichelnd wie selten bei einem Manne, nahm ihr den letzten Rest von dem, das sie soeben noch Pflichterfüllung genannt hatte.

»Sie haben mir eine Lehre gegeben,« sagte er halblaut, »und ich nehme sie ruhig hin. – Ich! – Wenn Sie mich kennen würden, müßten Sie wissen, was das heißt; denn ich bin eitel und selbstbewußt, wie nur ein Mann sein kann, den man überall ausnahmslos verzogen hat. Gestatten Sie aber, daß ich mich bei Ihnen dafür revanchiere und nehmen Sie auch von mir eine ernst gemeinte Lehre, heute abend mit nach Haus – zum Nachdenken! – Sie sind unglücklich in dem Leben, das Sie jetzt zu führen gezwungen sind. – Ihre Andeutungen haben es mir verraten, und ich begreife das. – Die Natur gab Ihnen ein großes Talent mit, und wem das gegeben ist, der hat das Recht – ja die Pflicht, dem zwingenden Drange in sich nachzugeben. – Zerreißen Sie die Fesseln, die Ihnen unerträglich sein müssen, werfen Sie von sich alles, was Sie hindert, Ihrem eigentlichen Beruf zu folgen – gehen Sie zum Theater. – Ob Sie glücklich dort sein werden, wenn der erste Rausch verflogen ist, weiß ich zwar nicht, indessen glaube ich es. – Es ist schon eine Genugtuung, sich selber leben zu dürfen. Und brauchen Sie jemals Rat und Hilfe, wenden Sie sich an mich – ich will Ihnen uneigennützig dienen, so viel ich kann.«

Mit verstohlenem Seitenblick sah er in ihr erregtes Gesicht. Wie schön und jugendfrisch sie war!

»Sie?!« sagte sie wie im Traum.

»Ich weiß, die Frauen fürchten mich im allgemeinen ebenso, wie sie mich lieben, ich bin daher ein ziemlich kompromittierender Fürsprecher, das gebe ich zu,« fuhr er mit eitlem Lächeln fort, »aber einmal – einmal kann man ja wohl eine Ausnahme machen. Versprechen Sie mir also daran zu denken.«

Sie nickte und erwiderte den festen Druck seiner Hand, denn das Abendessen war zu Ende.

»Marthchen, Marthchen, es wird die höchste Zeit!« kam Frau Dallmann angestürzt. »Es ist schon drei Uhr.«

»Drei Uhr!« – Sie sah sich noch einmal rings um in dem häßlichen, niedrigen Saal mit der mäßigen Beleuchtung. Ihr war zumut wie einer, vor der man die Pforten des Paradieses schließt, nachdem sie kurze Zeit darin gewandelt war; nun blieb ihr als Lebensrest nichts als die Sehnsucht nach dem verlorenen Glück.

Wortlos, das Herz voll Tränen, folgte sie der Dallmann in die Garderobe.

»Nun,« sagte Hellwig händereibend zu dem Schauspieler tretend, »ich brauche nach nichts mehr zu fragen. Sie haben mir Ihre Meinung ad oculus demonstriert. Wäre es nicht schade, wenn sich die hübsche Kleine aus hausbackener Philistermoral nicht entschließen könnte, zur Bühne zu gehn? Der Mann soll nichts Besondres sein.«

»Sie wissen, daß ich für andrer Leute Frauen stets die äußerste Toleranz an den Tag zu legen pflege,« sagte Herbert mit häßlichem Lächeln. »Übrigens sorgen Sie nicht, in der Brust dieses schönen, knospenhaften Weibes ist der Versucher schon mitgeboren, dem fällt sie sicher zum Opfer.« –

Als Martha mit ihrer Beschützerin auf die Straße trat, stand dort, halb von der Dunkelheit der Einfahrt gedeckt, eine hohe, schlanke Gestalt in kostbarem Pelz. Herbert trat auf die beiden Damen zu.

»Sie wollen gehen, ohne Lebewohl?« fragte er vorwurfsvoll. »Ist das hübsch?«

Martha sah zu ihm auf, Tränen rannen über ihr reizendes, jetzt tief erblaßtes Gesicht.

»Um Gottes willen,« sagte er fast erschrocken und nahm ohne weiteres ihren Arm, »weinen dürfen Sie nicht, das kann ich nicht sehen!«

Sie trocknete ihr Gesicht und ließ sich schweigend von ihm weiterführen.

»Ich werde Ihre Begleiterin in einen Wagen setzen,« flüsterte er ihr zu. »Ihnen aber möchte ich zu einem kurzen Gang raten, damit Ihre Nerven sich erst beruhigen, darf ich?« fragte er, sich zu ihr herabbeugend. Sein Ton hatte in diesem Augenblick alles Frivole und Leichtfertige verloren.

Sie nickte still. Und Frau Dallmann, derartige Verabschiedungen gewöhnt, bestieg schlaftrunken und ohne ein Wort der Widerrede den Wagen.

»So,« sagte er, ihren Arm fest in den seinen nehmend und langsam mit ihr vorwärtsschreitend, »die kalte Nachtluft wird Ihnen gut tun.«

Sie sah zum Himmel auf, der sich, schwarz wie aus schimmerndem Erz, übersät mit Millionen Sternen über die Stadt spannte. Weiße Wolken jagten in wilder Flucht schattenhaft darunter hin. Aber für Martha war die Natur stets stumm gewesen, sie hatte ihr niemals Trost oder Ruhe zu geben vermocht, so fühlte sie auch jetzt nur den Frost, der sich wie feine stechende Nadelspitzen auf ihr feuchtes Gesicht legte. Nicht die Natur, die Menschenstimme an ihrer Seite tat ihr wohl, besonders, da sie in diesem Augenblick nichts anderes heraushörte als achtungsvolle Teilnahme.

Mit dumpfem Druck lag ihr das Bewußtsein auf dem Herzen, daß jeder Schritt sie von der seligen Vergangenheit der letzten Stunden entfernte. War sie erst wieder zu Hause, besaß sie nichts anderes mehr als die Erinnerung, und diese dünkte ihr zu gering. Sie gingen fast den ganzen Weg schweigend. Herbert sah die bittere Resignation wohl, die allmählich auf ihrem Gesicht Platz griff und störte sie mit keinem Wort.

»Sollten Sie mich also jemals brauchen, so schreiben Sie mir,« sagte er vor ihrem Hause stehen bleibend. »Meine Adresse wissen Sie ja.«

Sie nickte, wandte ihm ihr großäugiges Kindergesicht zu und sah ihn an, das Laternenlicht spiegelte sich hell in seinen dämonischen Augen, und als sie sich bewußt wurde, daß das Zufallen des großen Torwegs da vor ihr, ein Abschied von Glück und Daseinsfreude für sie bedeutete, da stürzten wieder die Tränen hervor, mit denen sie den ganzen Weg über gekämpft hatte, und leidenschaftlich aufschluchzend, schlug sie die Hände vor das Gesicht. »Martha!« rief Paul Herbert, und er nahm ihr die Hände vom Gesicht und streichelte teilnahmsvoll über ihr Haar.

»Wir sehen uns wieder!« flüsterte er dann und drückte seine Lippen auf die kleine Hand, die sie ihm schnell entzog.

Ohne ein Wort flog sie in den dunklen Torweg und ging dann langsamer den schmalen Gartenweg hinab, der zu ihrer Behausung führte. Was ihr Mann sagen würde, wenn er sie vermißt hätte, daran hatte sie noch mit keinem Gedanken gedacht. – Als sie den Schlüssel in die Tür stecken wollte, donnerte hinter ihr wieder der Torweg und schnelle Schritte kamen näher, eine eiskalte Hand schleuderte die ihrige beiseite, und Viktors, vor Empörung heisere Stimme sagte herrisch:

»Komm hinein!«

Als es ihm zu lange dauerte, packte er sie am Handgelenk und zog sie gewaltsam in das Wohnzimmer; sein Atem ging kurz und stoßweise, seine Nasenflügel vibrierten vor unterdrückter Erregung.

Sie fühlte, daß ihr Herz schlug, aber wie aus weiter Ferne; sie dachte, »nun ist alles verraten,« aber als flüstere es ihr ein andrer in das Ohr, ja, sie war kaum imstande, die Hand zu heben, das feuchte, wirre Haar aus der Stirn zu streichen.

»Wo kommst du her?« fragte er endlich, sich gewaltsam zwingend.

»Von Dallmanns,« sagte sie mechanisch, sich gewohnheitsmäßig ihrer stehenden Lüge bedienend.

»Von Dallmanns? Im zärtlichsten tête-à-tête mit einem Herrn? Wenn du da solche Gesellschaft gefunden hast, begreife ich deinen Hang nach dieser Richtung hin vollkommen.«

Sie schwieg.

»Wer war es?« fragte er bebend vor Zorn. »Wer streichelte dein Haar und küßte zärtlich die Hand?« Sie schwieg noch immer.

Außer sich, kaum mehr seiner selbst mächtig, packte er sie an den Schultern und schüttelte sie heftig.

»Wer? Wer?« rief er heiser.

Mit einem schrägen, bösen Blick sah sie zu ihm auf. Sie vergaß, daß sie wirklich als Schuldige vor ihm stand, in ihr gärte nur das dumpfe Bewußtsein einer namenlosen Ungerechtigkeit, die er gegen sie beging und dies stachelte ihren Stolz und den ganzen Starrsinn ihres Charakters.

»Ich antworte dir nicht darauf,« sagte sie mit zusammengepreßten Zähnen.

»So werde ich dich zwingen!«

Er schüttelte sie immer heftiger, je mehr Widerstand sie ihm entgegensetzte. Plötzlich schleuderte er sie von sich.

»Und darum mein Leben zertrümmert! – Darum meine Zukunft geopfert!« rief er und fuhr sich mit den Händen in das Haar. »Um ein Weib, das sich nicht schämt, den Namen ihres Mannes in den Staub zu ziehn, sein Haus. zu verwüsten – darum!«

Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu, und den Kopf im Nacken sah sie ihn verächtlich an.

»Du hast kein Recht so zu sprechen,« sagte sie kühl.

»Kein Recht?«

Wieder packte er sie und zerrte sie ganz nahe zu sich heran.

»Willst du leugnen, was ich sah?«

Seine Augen bohrten sich förmlich in die ihren, der heiße Zornesatem streifte ihr mit unangenehmem Gefühl die Wange, sie drehte den Kopf zur Seite.

»Ich leugne gar nichts,« sagte sie verhältnismäßig ruhig, »aber du vergißt nach der Ursache zu fragen.«

Nun war er auf dem Höhepunkt seiner Erregung angekommen, alles in ihm siedete, er kannte sich kaum mehr, so empörte ihn ihre verächtliche Gleichgültigkeit. Ihn, der erwartet hatte, sie reumütig und zerknirscht zu sehn. »Ursachen?« höhnte er. »Du – Tochter einer Dirne, kannst ja selbst nichts anderes sein.«

Sie stieß einen kurzen Schrei aus, sprang auf ihn zu und schlug ihm, ohne ein Wort, in das Gesicht.

Und mit derselben lautlosen Stille, nur unterbrochen von seinen schweren, mühsamen Atemzügen, umklammerte er ihre weiße Kehle, als hätte er die Absicht, sie zu erdrosseln. Aber in demselben Augenblick sanken auch seine Hände wieder herab, ein Schauer durchrieselte ihn, er trat an das Fenster und lehnte den Kopf an die eiskalten Scheiben. Das also war das Ende! Ein häßliches, mißtönendes Ende, an das er niemals gedacht hatte. – Als er vor drei Jahren das verwaiste, schutzlose Mädchen an sein Herz genommen, da sah er gewissermaßen neben seiner Liebe für sie, auch eine Mission, die er zu erfüllen haben würde. Er wollte sie leiten, erziehen, glücklich machen – und nun, nach einer so kurzen Spanne Zeit, da stand sein Weib vor ihm, eine Undankbare, die seinem Streben stets widerstanden, ihm Trotz und Eigensinn entgegengesetzt, seine Illusionen mit Füßen getreten hatte.

Das Ende! – Ja das war es – das sollte es auch sein! Und ein befreites Aufatmen hob dabei seine Brust.

Er sah, wohin er auch blickte, überall nur ihre Schuld, nirgends die seine. Er fragte gar nicht danach, ob er sie ungerecht beschuldigte, nicht einmal Rose Marie fiel ihm ein – er war ja ein Mann, und als solcher zu entschuldigen, wenn er einen Schritt vom Wege tat; aber Martha – ja, mit der war das etwas ganz anderes!

Hinter sich hörte er keinen Laut, so angestrengt er auch auf ein Zeichen der Reue lauschte – nichts! – O, er kannte ihr Gesicht so gut, mit dem sie jetzt im Stuhle saß, es hatte ihn schon oft bis zum Zähneknirschen gereizt! Blaß, mit gesenkten Lidern, einen Zug von eiserner Widerspenstigkeit um die roten Lippen, so hatte er sie dann immer bei jedem Anlaß gesehn. Endlich drehte er sich um.

Sie saß genau wie er es erwartet hatte; Zorn stieg ihm wieder in die Kehle. Er lachte auf, als er sie ansah.

Mit einer brüsken Bewegung schleuderte er die Gardenie, mit der er in der Aufregung gespielt hatte, als sie abgebrochen aus dem Knopfloch auf das Fensterbrett gefallen war, mitten in die Stube. Sie fiel zu Marthas Füßen nieder, und die starrte darauf hin, während er durch das Zimmer stürmte, die Tür zum Schlafzimmer aufriß und hinter sich ins Schloß warf. Sie starrte auf die welke Blume als hinge ihr Leben davon ab, und gleichzeitig hatte sie das Empfinden, als trenne sich ein Teil ihres Innern von dem Ganzen, um fortan eigne Wege zu gehen.

Eine bleierne Lethargie hatte sich ihrer bemächtigt nach den Aufregungen des Tages, sie war nicht imstande ein Glied zu rühren, aber Neugier auf etwas, das unabwendbar kommen müsse, hielt sie wach.

Sie hörte Viktor das Haus verlassen, sie fühlte die Stille, die sie umgab, fast körperlich; die Kälte des Zimmers drang bis in ihr Inneres.

Da öffnete sich leise die Tür, Gregors spitzer Kopf erschien.

»Was ist geschehen, Martha?« fragte er.

Das war plötzlich Erlösung. Mit einem Schrei sprang sie auf und streckte die Arme in die Luft.

»Frei!« rief sie mit tiefem Atemzuge. »Ich bin frei von allem. Frei – ganz frei!« –

Und der halb unbewußte Freiheitsdrang, der schon immer in ihr gelebt hatte, brach sich Bahn, in Worten, Ton und Blick.

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte Gregor betroffen.

Seinen Arm umklammernd erzählte sie ihm in fliegender Eile das Geschehene. Er wurde sehr ernst.

»Sie wollen nur Ihren Neigungen folgen, Martha, das ist alles.«

»Ich will nicht – ich muß! – Ich muß!« – Und nach einer Pause setzte sie weicher hinzu: »Was nützt es zu widerstreben, es macht mich unglücklich, andere nicht glücklich! Ich will den Weg gehen, den ich mir erwählt habe, mag das Ende werden, wie es will. Halten Sie mich nicht zurück, es gibt nur Unglück.«

»Ich halte Sie gewiß nicht,« sagte er. »Wozu? Opfer, die nicht aus freiem Antrieb gebracht werden, sind wertlos. Folgen Sie also Ihrem Drange.«

Sie lehnte sich an seine Schulter.

»Ich werde glücklich sein,« sagte sie mit der Ruhe der sicheren Überzeugung.

»Das werden Sie,« stieß er bitter hervor. »Menschen die nicht danach fragen, ob ihr Weg über Trümmer geht werden das stets, ihr Ziel pflegt niemals unerreichbar zu sein, und mit der nötigen Rücksichtslosigkeit erreichen sie es auch. – Ihnen fehlen zwar die Flügel, Martha, aber Karriere werden Sie desto sicherer machen, davon bin überzeugt.«

»Das genügt mir. Leben Sie wohl, Gregor.«

»Wo wollen Sie hin?« fragte er kurz und rauh und hielt ihre Hände fest.

»Zu Dallmanns. In dem Hause, in dem man das Andenken meiner Mutter beschimpft hat, bleibe ich nicht.«

»Martha, welcher Unsinn!«

Sie sah ihn groß an.

»Was sollte mich hier zurückhalten? Viktors Liebe? Ich will seine Liebe nicht mehr, die doch nur ein Mißverständnis war; ein aus Mitleid rasch emporgeschossenes Feuer, das jetzt erloschen ist und nichts hinterlassen hat als ein trübseliges Restchen, das man »Pflichtgefühl« nennt. Aber ich – – auch für mich ist es Zeit, daß ich gehe – wir sind uns nicht mehr Freude, wir sind uns nur Last.« »Also gehen wir!« sagte Gregor ohne ein Wort der Gegenrede und drehte sich um.

»Wir?« sagte Martha betroffen.

»Ja wohl, wir –« antwortete er, und das alte zynische Lächeln huschte wieder über sein Gesicht. »Ich weiß, daß es manchem unbequem sein wird, zu der schönen, jungen Frau so eine scheußliche Beigabe mit in den Kauf nehmen zu müssen, die sich außerdem noch auf das Fingerklopfen versteht. Aber daran läßt sich nun nichts mehr ändern. Ihre Großmutter nahm mein Versprechen, Sie zu schützen, mit in das Grab, und ich bin noch aus der alten Schule, die Worthalten für Pflicht ansieht. Gehen wir also, Martha.« –


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