Hedwig Schobert
Künstlerblut
Hedwig Schobert

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VII.

Gregor stand vor seinem Spiegel und starrte die Erscheinung an, die ihm daraus entgegensah. Diese Studie hatte er heute schon öfter wiederholt, genau so oft, wie er an Martha und Viktor dachte. Er war ja häßlich, alt und unliebenswürdig, das sagte ihm sein seltener, aber desto offenerer Freund, der Spiegel, so oft er ihn fragte; aber seit gestern hatte er so kuriose Gedanken im Kopf, daß er nicht oft genug hineinsehen konnte.

Er fragte sich: – »War es gut und durchaus notwendig, daß alles so kam, wie es gekommen ist? Hättest du nicht auch einmal in deinem Leben versuchen sollen, dir selbst ein Glück zu erringen? – Warum strecktest du nicht auch die Hand aus, als Martha schutz- und hilflos dastand, sondern überließest das einem Jüngern, der einer Frau wahrlich keine sichere Garantie für die Zukunft war? Vielleicht hätte Martha auch vertrauensvoll ihre kleine Hand in die deine gelegt – vielleicht – –« Weiter kam er nicht, dann sprang er auf, lief in seinem kalten, kahlen Zimmer umher, und lachte endlich, laut, höhnisch, wie nur jemand lachen kann, der sich selbst verhöhnt.

Einige Augenblicke später klopfte es, und zu dem Erregten trat Viktor ein. Leichenblaß, die Haare verwirrt, um die Augen tiefe, dunkle Schatten.

»Hast du einen Moralischen?« fragte Gregor gallig mit prüfendem Blick in seines jungen Freundes Gesicht. »Du siehst ganz danach aus, und nötig hättest du ihn am Ende auch!«

Alten schüttelte schweigend den Kopf, trat an das Fenster und sah hinaus.

Nach einer Weile sagte er gleichgültig:

»Du sprichst von gestern abend. Ja Neigungen kommen und gehen, dem Herzen lassen sich keinerlei Vorschriften machen. Treue ist ein Gesetz, und wer sie zum Gesetz erhoben hat, wird sich nicht wundern können, wenn dagegen gefehlt wird – das drückt mich nicht!«

Gregor hatte eine bittere Antwort auf der Zunge, aber als er den Freund so blaß dastehen sah, siegte doch die alte Zuneigung, und er legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Mein Sohn,« sagte er in der alten, halb wider Willen launigen Weise, »ich habe ein langes Leben hinter mir und darin so Vielerlei gesehen und gehört, daß ich mich zum Schluß über gar nichts mehr wundere. Ich weiß auch, daß ich nicht sonderlich geschickt bin, Knoten zu lösen und Wirrnisse zu beseitigen, deshalb lasse ich die Hand davon. Aber vielleicht tröstet es dich, mir dein Leid zu klagen.«

Viktor wandte sich um und sah ihn an, ein tiefer, leidenschaftlicher Schmerz sprach aus seinen Zügen.

»Man hat – meine letzte Arbeit – abgelehnt!« sagte er endlich sich mühsam beherrschend.

»O! Gas wäre!« Gregor kratzte nachdenklich die Bartstoppeln an seinem Kinn. »Warum denn, in drei Teufels Namen!« Augenblicklich hatte er alles vergessen, was zwischen ihnen stand. Verstohlen hatte er sich in Viktors aufblühendem Ruhm gesonnt, heimlich große Hoffnungen auf ihn gesetzt, alles das verkörpert in ihm gesehen, was er selbst sein ganzes, langes Leben hindurch als die höchsten idealen Güter bewahrt hatte.

»Sprich!« rief er barsch und schüttelte ihn am Arm.

»Ich habe es geahnt – kommen sehen – unerbittlich, wie das Schicksal einherkommt,« begann Viktor und stützte sich müde auf den wackligen, alten Stuhl, der neben dem Fenster stand. »Meine Kraft ist zu Ende und mit meiner Kraft, mein Selbstvertrauen, mein Mut, die Schöpferkraft, die ich in mir gefühlt habe. Was du jetzt siehst, ist nur noch ein totes Gehäuse, wert, abgebrochen zu werden, weil es nichts mehr nützt.«

»Das wäre!« lachte Gregor höhnisch auf. »Seht nur einer den Schwächling an, dessen Eitelkeit es nicht verträgt, daß man ihn einmal nicht in den Himmel hebt! Sind dir die Ikarusflügel so bald geschmolzen, mein Sohn?«

»Du irrst dich, Gregor,« sagte Alten ruhig. »Es ist nicht die Eitelkeit, die mich so sprechen laßt, sondern das positive Bewußtsein – ich kann nicht mehr! Du kennst sie nicht, diese Qual des Schaffenden, wenn sich der Gedanke nicht aus dem schöpferischen Hirn losreißen will, wenn wir machtlos und ohnmächtig uns zermartern und uns schmerzlich bewußt werden, daß wir selbst nur erbärmliche Geschöpfe, keine Schöpfer sind. Du weißt nicht, wie ich gerungen habe mit meiner erlahmenden Phantasie, meinen matten Empfindungen. – Die Sorge um das tägliche Brot saß mir im Nacken und fraß meine beste Kraft. – Und dann beklaget ihr euch – du und Martha – daß ich launenhaft und verdrießlich war, verlangtet meine Aufmerksamkeit für all die Kleinlichkeiten des täglichen Lebens! – Ihr maßet mich mit einem Maß, mit dem ich nicht gemessen werden durfte! Und doch trifft euch nicht einmal ein besonderer Vorwurf. Wie konntet ihr denn begreifen, was mich quälte!«

»Du hast recht,« sagte Gregor kleinlaut, »aber bist du nicht zu ungeduldig mit dir? Das sind doch alles Stimmungen, die vorübergehen. Wer hat stets denselben Erfolg.«

Viktor lief auf ihn zu und legte ihm beide Hände auf die Schultern, in seinen dunklen Augen schimmerte es feucht.

»Aber begreifst du denn nicht, Mensch, daß, wohin ich auch sehe, mir ein Abgrund entgegen gähnt – überall? In mir ist es leer, öde und tot; vor mir steht Mangel und Entbehrung, Unfrieden und infolgedessen Unlust. Hätte man mich früher getadelt, anstatt zu loben, wahrlich, noch elastischer wäre meine Kraft emporgeschnellt, und ich hätte ihnen triumphierend zugerufen: Ihr unterschätzt mich! – Ich kann noch mehr, viel mehr leisten und ich werde es! – Nun aber, wie stehe ich den vielen freundlichen Worten, den Aufmunterungen meiner Kritiker gegenüber? Ich komme mir vor, wie ein ungetreuer Haushalter, der sein Pfund leichtsinnig verzettelt hat. – Erinnerst du dich, wie ungern ich mit dir von dieser Arbeit sprach? Wie es mich anekelte, auch nur eine Zeile davon selbst zu lesen? – Du siehst, mein Empfinden war der richtige Gradmesser für meine Leistung.«

»Nun will ich dir einmal etwas sagen, Viktor,« sagte Gregor mit mildem Ton. »Du übertreibst, übertreibst haarsträubend! Ruhe dich erst einmal aus, das tut dir not, und dann singe mir dasselbe Lied noch einmal, wenn du es bis dahin nicht vergessen hast.«

»Ausruhen?« fragte er bitter. »Und wovon sollen wir leben, essen und trinken?«

»Ich habe einen prächtigen Gedanken, mein Sohn,« sagte Gregor lachend, sich die Hände reibend. »Und wenn du den Egoismus durchscheinen siehst, so erinnere dich gütigst, daß ein gesunder Egoismus die Grundbedingung unserer Existenz ist. Nehmt mich einstweilen bei euch auf, als dritten im Bunde! Du glaubst gar nicht, wie zuwider mir dies kahle, häßliche Zimmer schon ist, seitdem ich eure gemütliche Häuslichkeit kenne! Martha wird nichts dagegen haben, und wie jede gute Tat ihren Lohn in sich trägt, so wird dir dadurch Muße, dein überarbeitetes Gehirn eine Weile ruhen zu lassen. Groß ist meine Rente ja nicht, wie du weißt, aber vorläufig reicht sie doch.«

Die Unterlippe zwischen den Zähnen, die Lider gesenkt, stand Viktor vor ihm, er kam sich gedemütigt bis zum Tode vor. Ein Schwächling, der von dem Almosen anderer sein Leben fristete!

Mit halb erstickter Stimme sagte er:

»Einmal hast du mich einen ehrgeizigen Weltverbesserer gescholten, und nun – da sieh das Ende !– Ich nehme dein Opfer an, Gregor, um Marthas willen.«

»Wie schwer es dich ankommt, sehe ich allerdings,« fiel ihm der andere barsch in die Rede. »Ja, rechne nur einer auf seine Freunde! Aber –« fuhr er fort, sich hastig abwendend, da er Viktors Blick begegnete, »vor allen Dingen, schone dich etwas; du siehst miserabel aus, und meinetwegen mag selbst Frau Rose Marie dir ihre heilende Hand auflegen, vorausgesetzt, daß es hilft. Wann kann ich also zu euch? Das dritte Zimmer steht ja so wie so ganz unbenutzt.«

»Hole dir die Antwort heute abend bei Martha.«

»Schön! Und wenn es dir recht ist, wollen wir jetzt frühstücken gehen. Mir kommt es vor, als fühle ich nach deiner Rede eine mächtige Öde in meinem Magen. Komm mit!« –

Martha war nicht sehr erbaut von der getroffenen Verabredung, Gregor hatte so scharfe Augen, aber ihr Verhalten zeigte doch, daß sie viel zu praktisch dachte, um nicht das Geschehene zu würdigen und die rettende Hand zu ergreifen, die sich ihnen entgegenstreckte. Auch hatte sie alle Ursache mit ihrem Mitbewohner zufrieden zu sein. Es gab keinen anspruchsloseren Menschen. Er ging und kam fast unhörbar, schien blind und taub für alles, was um ihn her vorging und war selten zu Hause. Das rechnete ihm Martha am höchsten an, denn in dieser trübseligen Zeit hatte sie mehr denn je das Bedürfnis, bei Dallmanns ihren Kummer zu vergessen. Mit Viktor und Gregor war nichts anzufangen, und besonders ihr Mann sah immer aus, als rechne er ihr ein heiteres Gesicht als Staatsverbrechen an.

Ach! Wie war Lene Dallmann zu beneiden!

Und sie seufzte aus tiefster Brust.

In diesen lastenden Druck kam wie ein matter Sonnenblick eine Einladung der Kommerzienrätin Murner und gab wenigstens Viktor einen Teil seiner Spannkraft zurück.

Rose Marie! Er hatte in seiner menschenfeindlichen Stimmung sich auch dort schon vergessen geglaubt, und nun hatte auch Gregor, dem der Gemütszustand seines Freundes Sorge bereitet, nicht den Mut, ihn zurückzuhalten, um so mehr, da auch seiner in der Einladung erwähnt war.

Sie gingen hin. – Gregor in seinem fleckigen, alten, abgeschabten Röckchen, ohne nur ein Iota mehr Sorgfalt auf seine Toilette zu verwenden als sonst. Viktor neben ihm, zum erstenmal mit offenen Augen die groteske Häßlichkeit seines Freundes gewahrend, die schiefe, hängende Haltung, die übermäßig langen Arme und den spitzen Kopf mit den welken Zügen und dem haarlosen Schädel. Auch daß sein Rock nicht abgebürstet war, sah, er mit peinlicher Scharfe und bemühte sich auf der Straße das gut zu machen.

»Gib dir keine Mühe, alter Sohn,« wehrte Gregor spöttisch. »Wer Schale und Kern nicht zu trennen versteht, für den machst du mich doch nicht annehmbarer, und wer sich damit zurechtfindet, den genieren schließlich auch etliche Staubatome nicht. An deiner Kommerzienrätin ist es nun, zu zeigen wie viel sie wert ist.«

Zwanglos betrat Gregor die Villa, deren Luxus er keines Blickes würdigte, und verbeugte sich endlich vor Rose Marie, die aus ihrem vornehmen kühlen Gesicht doch nicht ganz das Entsetzen zu bannen vermochte, das sie beim Anblick des vielgerühmten Freundes erfaßte. Aber nicht Gregor genierte das, im Gegenteil, ein Spottlächeln verzog sein Gesicht noch mehr. Viktor fühlte sich wie auf glühenden Nadeln. Er schämte sich – er schämte sich seines guten, braven Freundes zum ersten Male, – warum? Weil er vor den Augen einer Salondame keine Gnade fand? »Das hätte ich vorher wissen und mir diese Blamage ersparen können,« dachte er, wütend auf sich selbst. »Sie muß uns ja für Kaffern halten.«

Und gleichzeitig ärgerte er sich über Gregor. Es kam ihm vor, als sei er absichtlich so, wie er sich vor Rose Marie gab, um der eleganten Frau den Geschmack an sich und seinesgleichen gründlich zu verderben.

»Ein Wunder wäre es nicht,« dachte Viktor, ihn heimlich beobachtend. Sein Wesen bekam dadurch etwas Unruhiges, Zerfahrenes. Nervös bröckelte er an dem Teegebäck, und Rose Marie wandte sich, aufmerksam werdend, zu ihm.

»Was ist Ihnen. Sie sind heute so eigentümlich!« sagte sie.

»Verzeihen Sie ihm, gnädige Frau,« bat Viktor halblaut, mit einem Blick auf seinen Freund, »er ist nur unsere Gesellschaft gewöhnt und...« Er schwieg unbehaglich.

Rose Marie lachte auf.

»Also das hat Sie gepeinigt? Kümmern Sie sich nicht darum. Wir sind ja hier unter uns.«

»Recht so, gnädige Frau,« fiel Gregor ein, »nehmen Sie den alten Mann vor seinem jungen Freund in Schutz. Verdienen tut er es zwar nicht...« Rose Marie lachte wieder.

»Man soll jedem gerecht werden,« sagte sie und sah unter dem rosigen Licht des Lampenschirmes jung und hübsch aus. »Gerechtigkeit ist überhaupt meine stärkste Seite, vorausgesetzt, daß sie mir keine Unbequemlichkeiten auferlegt.« Dann wandte sie sich zu Viktor. »Bedrückt Sie wirklich nichts Persönliches? Es kommt mir so vor.«

»Sie haben es erraten,« sagte er nach kurzem Zögern und sah unsicher zu ihr auf. »Auch das!«

»Wollen Sie mir nicht Ihr Vertrauen schenken?«

Ihr blasses Gesicht mit dem müden Zug um Augen und Lippen sah gütig und teilnehmend aus, als erwarte sie die Geschichte einer jungen Liebe. Müßig lagen ihre schlanken Hände mit den blitzenden Juwelen in dem Schoß.

O gewiß, sie – sie würde begreifen! – Und getrieben von einem Impuls, der stärker war als er, sprach er ihr von allem, was ihn bedrückte, mit Ausnahme seiner Ehe.

Sie lächelte, als er geendet.

»Lieber Freund, ich freue mich, daß Sie mir so offen gebeichtet haben, nun kann ich Ihnen ebenso meine Meinung sagen. Die Richtung, der Sie anhängen, mag ihr Großes und Schönes für sich haben, aber mir liegt sie trotzdem nicht. Wir wollen Leben, Natur – Amüsement! – Vor allem übrigen Amüsement! Ihre Bücher sind aber recht wenig amüsant, lieber Alten. Versuchen Sie es auf einem andern Wege, und Sie sollen sehen, daß Ihnen außer dem papiernen Ruhm auch eine goldene Ernte zuteil wird.«

Viktor war blaß geworden, seine Hände, die mit dem goldenen Teelöffel spielten, zitterten leicht. Das Gebäude seines Idealismus schwankte ein wenig unter dem Einfluß dieser Umgebung, der das weiche rote Licht einen berauschenden Farbenton verlieh, unter dem Luxus und Wohlleben, das ihm hier entgegentrat. Trotzdem sagte er mit einer Energie, der man den innerlichen Zwang anhörte: »Nie, nie kann ich gegen mein Inneres!«

Rose Marie lachte wieder.

»Es wirb nicht mehr lange dauern, und Sie werden sich in stillschweigender Anerkennung meinem bessern Urteil beugen!«

»Das wird er nicht!« meinte Gregor gereizt und warf keinen freundlichen Blick auf die schöne Wirtin. »Er muß dem dienen, was in ihm ist. Geld und Gut sind Dinge, die ein Künstler entbehren kann.«

»Aber sie sind angenehm,« sagte Rose Marie, ihrem Widersacher das Gesicht zukehrend. »Wir, die das besitzen, tun nur, als verachten wir es aus Gewohnheit; aber wer es nicht hat, dessen Streben geht schließlich doch einzig und allein darauf hin. Geld ist der größte Machthaber auf unserer Erde und wird es bleiben!«

»Bah!« sagte Gregor, »das ist die Sprache dieser Welt, bei uns aber spricht man eine andere.«

»Nun, so wird mir ihr junger Freund danken, wenn ich ihn die unsrige lehre. Übrigens verspreche ich nicht mehr, als ich halten kann.« Rose Marie handelte augenblicklich mit vollster Absichtlichkeit. »Herr Alten wird in meinem Salon Menschen aller Art kennen lernen, die ihm Material zum Studium liefern werden. Denn aus dem Leben muß man schöpfen, will man das Leben schildern,« wandte sie sich wieder Viktor zu.

»Wie gütig Sie sind!« höhnte Gregor, der am liebsten seinen jungen Freund unter den Arm genommen und entführt hätte.

»Man tut so selten etwas für einen Mitmenschen, daß man Gott danken muß, wenn sich einmal eine Gelegenheit dazu bietet,« antwortete ihm Rose Marie mit einem Lächeln. Dann stand sie auf und, Viktor ein Zeichen gebend, schritt sie vor ihm in den Erker hinein, wo sie sich mit ihrem Schützling niederließ.

Ingrimmig schaute Gregor ihnen nach. Er vergaß so völlig die Pflichten der Höflichkeit, daß er Grete in fast grobem Ton antwortete, als sie ihm eine zweite Tasse Tee anbot.

Statt verletzt zu sein, sagte sie freundlich:

»Ich verstehe Ihre Sorge um Ihren jungen Freund und – ich teile sie.«

»Sie?« fragte er verblüfft und ließ zum erstenmal seinen Blick auf dem feinen, ernsten Gesicht ruhen. »Was kann Ihnen daran liegen?«

»Ich würde, wie Sie, um einen erloschenen Gottesfunken in einer Menschenbrust trauern.«

Er sah sie von der Seite an.

»Was wissen Sie von Gottesfunken?« fragte er unwirsch.

Grete errötete. »Sie meinen, weil ich in derselben Umgebung lebe, wie meine Tante? Ich habe Rose Marie herzlich lieb, ohne ihre Ansichten immer zu teilen.«

»Wer sind Sie denn hier?« fragte er noch immer nicht sonderlich höflich.

»Wenn Sie es ganz einfach und klar benennen wollen – die Gesellschafterin – nebenher noch Nichte!«

»Arm?«

»Ja, arm!«

Gregor senkte den kleinen, spitzen Kopf, eine graue Haarsträhne baumelte ihm im Nacken.

»Sie wird ihn verderben, das Gute in ihm zugrunderichten!« seufzte er endlich. »Ich weiß, wie gefährlich solche Frauen einem unerfahrenen Gemüt sind.«

»Das wäre schade!« sagte Grete mit einem Seufzer. »Sie glauben nicht, wie lieb mir Herrn Altens Bücher sind.«

Er sah sie prüfend an, als sehe er auf den Grund ihrer Seele, dann streckte er ihr die Hand entgegen. Schweigend legte sie die ihrige hinein.

Rose Marie kam mit Viktor zurück, eine weiße Gardenie in der Hand, deren Stengel sie spielend drehte; vor Gregor blieb sie stehen.

»Sie unterschätzen Ihren Freund,« sagte sie herausfordernd, »er hat Anlagen genug zu einem praktischen Menschen.«

»Unter Ihrer Leitung, meine gnädige Frau, zweifle ich nicht, daß sie sich ausbilden werden.« Er hatte sich erhoben und stand jetzt vor ihr; feindselig maßen sie sich. »Ich sehe übrigens wieder, daß Frauen immer dieselben bleiben, denn niemand wird Ihnen mehr danken als Viktors – Gattin.«

Schwüle lagerte plötzlich über dem Zimmer. Viktors Augen funkelten zornig, Gregor sah spöttisch drein, Rose Marie sehr erstaunt, und nur am Teetisch klirrte ein Löffel aus Gretes Hand unter die Tassen. Dann reichte die Kommerzienrätin plötzlich beide Hände ihrem jungen Gast. »Armer Freund – jetzt erst verstehe ich Sie ganz!« sagte sie. »Nichts ist auf die Dauer unerträglicher als Mangel an geistigem Verständnis!«

Sie schloß blitzschnell aus seinem Schweigen, daß er keine Ursache habe, sich des Besitzes seiner Frau sonderlich zu rühmen. Eine Neigungsheirat in so jungen Jahren, in beschränkten Verhältnissen, man kannte das ja! Und anstatt zornig zu werden, wie Gregor erhofft, nahmen ihre Augen einen sanften Ausdruck au, als sie sich auf sein schönes Gesicht hefteten. Statt aller Antwort führte Viktor ihre Hand an seine Lippen. Er konnte nicht sprechen.

»Wir können nun wohl gehen,« sagte Gregor und rieb sich etwas gedrückt das Kinn. »Komm, Viktor, es schlägt schon neun!«

»Sie bleiben, Alten!« rief Rose Marie, in ihrer herrischen Art die Hand ausstreckend. »Mit Ihnen möchte ich noch sprechen!« – Natürlich blieb er, und Gregor hatte, als er ging, das Gefühl, als habe er eine Dummheit gemacht. »Setzen Sie sich, zu mir,« sagte Rose Marie und zog ein kleines Tabouret neben die Chaiselongue, auf der sie sich niederließ. »Ich bin traurig für Sie, mein Freund, um die Fessel, die Sie sich angelegt haben. Erzählen Sie mir von Ihrer Frau.«

Über ihre großen grauen Augen fiel ein Schatten, sie sah ihn ernst, mitleidig an.

»Sie ist jung wie Sie, nicht wahr?« fragte sie nach einer Pause, als er noch immer schwieg.

Er bejahte, und ehe er recht wußte wie, hatte er ihr seine kurze Liebesgeschichte enthüllt. »Ich war zufrieden und unbekümmert damals, bis sie mir nahetrat. Keines Weibes Auge störte meinen Schlaf, keines Weibes Nähe brachte jemals mein Herz zum Schlagen.«

»Die Glückliche!« sagte Rose Marie mit einem leichten Seufzer. »Und dann!«

»Dann kam die Ernüchterung,« beichtete er weiter. »Nicht plötzlich, sondern ganz allmählich verschwand der süße Rausch, ich sah nun alles, wie es wirklich war und erschrak.«

»Ja,« meinte sie gelassen, »das ist der unvermeidliche Rückschlag, der das menschliche Leben beherrscht, das Aufhören jener Spannung, durch welche ein großer Wunsch, sobald er Alltäglichkeit geworden, einem schlaff gewordenen Bogen gleicht. Wer hätte das niemals an sich selbst erfahren?«

»Auch Sie?« fragte er sinnend und sah in das noch immer schöne, gleichmäßig ruhige Gesicht, das sich aus dem Halbschatten ihm entgegen neigte. »Selbst Sie?«

»Nichts Menschliches ist mir wohl fremd!« sagte sie gelassen.

Sie kam ihm vor, wie das verschleierte Bild von Sais, und ein leidenschaftliches Verlangen ergriff ihn, mit rascher Hand einen Zipfel des Schleiers zu lüften; aber sie kam ihm zuvor.

»Sprechen wir nicht von mir,« sagte sie ruhig, »bleiben wir bei Ihnen, Sie sind mir noch Einzelheiten schuldig.«

Und er erzählte. Ohne es zu wollen, wurde Marthas Bild kleinlich, es verdunkelte sich immer mehr je heller sein eigenes Wollen, sein Ringen und Kämpfen sich daran heraushob, und er merkte nicht einmal die Ungerechtigkeit, die er an ihr beging.

»Armer Freund,« sagte sie endlich seufzend, als er geendet und nun gesenkten Hauptes vor ihr saß. »Jetzt bin ich völlig au fait! Aber warum ihr Männer auch immer gleich heiraten müßt!« setzte sie ungeduldig hinzu. »Nun kennen Sie meine Geschichte,« flüsterte er. »Meine Seele ist in Ihrer Hand!«

»Es gibt ja keine Seele,« scherzte sie. »Das ist der moderne Glaube. Kein besonders erfreulicher, aber schließlich ebensoviel wert, wie jeder andere.«

Entsetzt sah er sie an. Ihre roten Lippen lächelten, um das wellige blonde Haar wob das rote Licht einen Schein. Dann wurde sie plötzlich ernst.

»Ja, hören Sie auf mich und beherzigen Sie, was ich Ihnen sage, ich meine es gut – wirklich gut mit Ihnen, und ich will Ihnen nichts böses tun, wie Ihr Freund zu glauben scheint.«

Er drückte seine Lippen auf ihre Hand. Es war ein langer, leidenschaftlicher Kuß. An der Glut und dem Zittern seiner Lippen fühlte sie, wie heftig es in ihm stürmte. Etwas wie interessierte Neugier trat in ihr blasses, vornehmes Gesicht. War es möglich, daß ein Mensch so stark empfinden konnte? Hatte sie auch einmal so empfunden? Ach, es mußte lange her sein.

»Ich glaube Ihnen ja,« sagte sie in dem beschwichtigenden Ton für kleine Kinder und sah mit einer kaum merklichen Kopfbewegung in den Erker hinein. Erst jetzt bemerkte er, daß Grete dort saß, sie also nicht allein gewesen waren, wie er angenommen. Grete! Zum erstenmal kam ihm ihr Dasein zum Bewußtsein, aber in ziemlich unbehaglicher Art.

Sie saß unter den Blumen; ihre zarte Gestalt in dem dunklen Kleid hob sich puritanisch einfach von der Farbenfülle der Blüten ab. Das Kinn ein wenig gesenkt, sah sie anscheinend nichts anderes, als die Arbeit, die sie in den Händen hielt.

Viktor richtete sich aus seiner zusammengesunkenen Stellung auf und schüttelte die Haare in den Nacken. Er tat einen tiefen Atemzug, aber der Bann, in dem er sich fühlte, wollte trotzdem nicht von ihm weichen. Es war, als ginge von Rose Maries Nähe eine Bezauberung aus, die sich selbst den leblosen Gegenständen ringsum mitteilte. Das gedämpfte, satte Licht, die blühenden Blumen, die großen chinesischen Fächer, das ganze leuchtende Chaos ringsum, allem entströmte derselbe sinnberauschende Duft, wie der Erscheinung der schlanken Frau vor ihm. Mit Gewalt nahm er sich zusammen.

»Ich darf wohl kaum fragen, was Sie von meinem Freunde halten, gnädige Frau,« sagte er.

»Was mich anbelangt, so würde ich Geist, Verstand und meinetwegen Gemüt, ebensosehr würdigen, wenn sie sich nicht in fleckigen Röcken und ungepflegtem Äußeren dartäten,« sagte sie. »Der Weise aus der Tonne paßt schlecht in unsere heutige Umgebung, finden Sie nicht? Wohl mag Ihr Gregor alle guten Eigenschaften der Welt haben, aber ich speziell kann mich nicht zu der Größe aufschwingen, nur Inneres zu sehen, wo mir das Äußere unsympathisch ist. Sie sehen, Alten, ich bin sehr ehrlich!«

Er seufzte. »Ich fürchte, Sie legen einen gefährlichen Maßstab an die Menschen.«

Noch nie war er selbst sich so plump und gewöhnlich vorgekommen wie neben dieser vornehmen Frau, an der alles tadellos war. Einen Blick in den Spiegel wagte er schon längst nicht mehr, um sein schüchternes Selbstgefühl nicht noch tiefer niederzudrücken, und deshalb – vielleicht gerade deshalb – klammerte er sich umso hartnäckiger an die kurzen Stunden, die ihm unter diesem vornehmen Luxus vergönnt waren.

»Keine Idee!« Sie richtete sich höher auf und sah ihm gerade in das Gesicht. »Man wird in bezug auf die Menschen mit der Zeit so bescheiden – so schauderhaft bescheiden! Wer weiß das besser als ich!«

Sie stand auf und reichte ihm die Hand.

»Gehen Sie jetzt, Alten, Ihre Frau wird Sie längst erwarten.« –

»Armer Kerl!« sagte Rose Marie mitleidig, als Viktor gegangen war, »ich kann mir denken, daß solche Ehe eine Höllenpein für einen strebenden Geist sein muß. Seine Frau hat aller Wahrscheinlichkeit nach eine Stumpfnase, rote Hände und ungekämmte Haare. So etwas wird aus Liebe geheiratet! – Es ist bei ihm nichts weiter gewesen, als der mißverstandene Drang des Mannes, dem schwachen Geschlecht Schützer und Führer zu sein, aber wenn die Einsicht kommt, daß mit der Sturm- und Drangperiode auch diese Narrheit ein Ende hat, ist es zu spät. Denn im Grunde sind doch wir es, die die Männer leiten.«

»Du wirst ihn verderben, Rose,« sagte Grete bekümmert, die vor ihrer Tante stehend mit einem langen Blick in ihr Gesicht sah, »und dann ...«

Rose Maries beide Hände legten sich auf die Schulter der Sprechenden.

»Närrchen! Ich ziehe ihn vom Himmel auf die Erde, und glaube mir, das dankt er mir einst. Praktisch, Grete«, praktisch müssen wir heutzutage sein, wollen wir vorwärts.« –

Als Viktor nach Hause kam, fand er das Wohnzimmer dunkel und leer, auch im Schlafzimmer war Martha nicht, sie mußte also noch nicht heimgekehrt sein.

Er sah auf die Uhr. Elf! Gregor saß noch in seiner Kneipe und Martha wohl bei Dallmanns! Es war das erstemal, daß das geschah, und ihr Fortbleiben ärgerte ihn, obgleich er es gleichzeitig als Erleichterung empfand. Wie hätte ihr alltägliches Geschwätz jetzt sein Ohr berührt, nachdem er aus der, neben Luxus und raffiniertem Lebensgenuß auch einen so viel höheren Geist atmenden Villa Murner zurückgekommen war. Mit verächtlichen Augen musterte er die einfache Einrichtung, die ihm damals, als er sie angeschafft hatte, als die schönste der Welt vorgekommen war.

Häßlich, häßlich alles, was ihn umgab! Und hatte Rose Marie nicht beifällig mit dem blonden Kopf genickt, als er ihr die mimosenhafte Empfindlichkeit seiner Seele für äußere Eindrücke schilderte? Sie allein verstand ihn! –

Martha verzog beleidigt den Mund, und Gregor lachte ihn aus, wenn er ihnen mit diesen Klagen gekommen war. – In solcher Umgebung hätte er auch wieder zu arbeiten vermocht! – Er ließ noch einmal den ganzen Zauber auf sich einwirken, den er heut abend empfunden.

Warum stand er nicht auch auf jenen Höhen, die sich ihm so verlockend erschlossen hatten, warum mußte er hier in Dürftigkeit an der Seite einer ungeliebten Frau verkümmern? ... Rose Marie ... vielleicht ...

Da fiel vernehmlich die Tür in das Schloß, und Martha trat ein.

»Viktor – aber Viktor, bist du schon hier?« fragte sie kichernd und nahm den Hut vom Kopf. »Die Lene hatte Geburtstag – und wir waren so vergnügt – wir haben Punsch getrunken – viel Punsch, Viktor!« –

Er drehte sich mit einem ungeduldigen Seufzer zur Seite, mußte sie ihn denn wieder mit Dallmanns quälen!

Sie hatte das Pelzjäckchen herabgezogen, es ging schwer, und sie lachte dazu wie ein Kind.

»Viktor – du Brummbär,« sagte sie und setzte sich zu ihm, »ich wollte, du tränkst auch einmal Punsch – viel Punsch – dann würdest du wohl vergnügter werden!«

Er richtete sich auf dem Ellbogen auf und sah sie an. Ein Gefühl der Erbitterung begann ihm die Kehle zuzuschnüren.

»Martha – was ist mit dir?«

Er schrie es fast hinaus. Der Gegensatz dieser Stunde mit der vergangenen überwältigte ihn.

Ihre Wangen glühten; ausgelassen lachend warf sie sich rückwärts auf den Stuhl.

»Wir haben ja Punsch getrunken – viel Punsch – und die Lene hoch leben lassen,« erzählte sie vergnügt. »Das war so nett, Viktor!«

Vor seinem geistigen Auge malte sich mit Gedankenschnelle das Bild, von dem seine Frau sprach. Ein heißes, unordentliches Zimmer mit der dampfenden Punschbowle auf dem Tisch, davor die Aufwärterin mit aufgestülpten Ärmeln, Lene in loser Spitzenjacke, wie Martha so oft erzählt hatte und endlich – seine Frau!! Er ballte in ohnmächtiger Wut die Hände. Ihn zog es aufwärts – und sie immer nur hinab – hinab in den Sumpf, den sie Leben nannte! – Ihn ekelte vor ihr! –

Martha in ihrer heiteren Stimmung merkte gar nichts von dem, was ihren Mann bewegte. Sie war so kindlich vergnügt, bereit, ihn auf jede nur mögliche Art zu necken.

»Warum sprichst du denn gar nicht, böser Mann,« fragte sie, endlich sein Schweigen beachtend, »sei lieb, Viktor, und hilf mir das Armband aufmachen – es geht so schwer.«

Sie beugte sich ihm entgegen, und gleichzeitig strömte ihm von den halbgeöffneten, roten Lippen ein schwacher Punschgeruch entgegen und brachte ihn zum Äußersten.

Er stieß sie wild von sich.

»Ich schäme mich deiner – ja, ich schäme mich!« stieß er halblaut hervor. »Wie kannst du es über dich gewinnen, mir so – so vor die Augen zu treten!«

»Aber mein Gott, was ist denn geschehen? »Du hast getrunken!« sagte er noch, leiser, als scheue er sich, es selbst die Wände hören zu lassen. »Geh! geh, oder ich verlasse das Haus.«

Sie erhob sich langsam und blieb, die Hand auf einen kleinen Tisch gestützt, stehen.

»Ist das solch großes Verbrechen? Wir waren ganz allein und sehr vergnügt.«

»Du hast kein Gefühl für Erniedrigung,« sagte er verächtlich.

Sie zuckte die Achseln, ein böser, trotziger Zug kam in ihr eben noch so lachendes Gesichtchen. Die Geister des Punsches waren entflohen.

»Schon möglich! Dafür bin ich wohl eine Nordheim!« rief sie hochmütig, denn erst heute abend hatte ihr Lene die Vorzüge eines adeligen Namens in das rechte Licht gesetzt, und Lene verstand jetzt etwas von der Welt.

Mit flammenden Augen, in maßloser Gereiztheit, sah er sie an.

»Du hast recht, die Tochter einer ...«

Er kam nicht weiter, wie eine Katze hatte sie sich über ihn geworfen und schloß ihm mit beiden Händen den Mund.

»Kein Wort gegen meine Mutter!« schrie sie außer sich, »kein Wort! oder ich verlasse dich in dieser Stunde!«

Dann stand sie auf, und da er schwieg, machte sie sich im entferntesten Winkel des Zimmers etwas zu tun; nun löschte sie das Licht, und im Dunkeln hörte er, wie sich die Türe nach dem Wohnzimmer öffnete und schloß.

Er lag lange wach, sie kam nicht zurück.

Das erste gute Wort mochte er ihr nicht geben, war er doch nur in seinem Recht gewesen. – Wie recht hatte Rose Marie, wenn sie ihn bedauerte! Diese, seine Frau, die in keinem Gedanken, weder im Gefühl noch in ihren Handlungen das Blut ihrer Mutter verleugnete, wie konnte sie zu ihm passen, dem geistig Ringenden. Wie konnte sie ihm etwas anderes bedeuten, als die Fessel, die ihn an diese jammervolle Existenz kettete. Er hatte einen Augenblick die Idee gehabt, Rose Marie zu bitten, sich seiner Frau anzunehmen. Nun schämte er sich schon des Gedankens!

Welch eine Rolle würde Martha da spielen, mit ihrem übermütigen, manierlosen Wesen neben dieser vornehmen Frau.

Er seufzte resigniert.

Begangene Torheiten beklagen, ist eine nutzlose, wenig erfreuliche Beschäftigung!

Martha stand im dunkeln Wohnzimmer am Fenster und weinte. Ein Gefühl bitterer, grollender Demütigung hatte sich ihrer bemächtigt. War es möglich, daß ihres Gatten Gereiztheit und Kälte sich allmählich in direkte Abneigung gegen sie verwandelt hatte? Sie las deutlich genug aus seinen Blicken die Empfindungen, die ihn beseelt hatten, da gab es keine Täuschung mehr. Er hatte sich nicht gescheut, ihr das Teuerste zu entweihen, das sie besaß, denn in der Seele dieses glühenden, lebenssüchtigen, äußerlich gesinnten Geschöpfes wohnte in einem stillen Winkel das Bild ihrer Mutter in fleckenloser Reinheit; es wurde ihr zum Trost in den Stunden der Einsamkeit und Entbehrung, zum Idol ihrer Träume und der einzige Gegenstand ihrer Anbetung. Wenn sie nur einen Menschen gehabt hätte! Nur ein Wort des Rates, des Trostes, des Verständnisses! Aber bei ihrem Gatten fand sie verächtliche Duldung, bei Gregor scheues Ausweichen, und Lene ... ach, es war eben auch dort nicht das Ersehnte, nur daß dieser Verkehr sie doch wenigstens amüsierte und der gräßlichen Einsamkeit entriß, der sie sonst verfallen war.

Sie lehnte den Kopf an die kalten Scheiben, ein trostloses Gefühl von Verlassenheit bemächtigte sich ihrer. Ebenso dunkel wie die Gegenwart, lag die Zukunft vor ihr, öde und reizlos, denn auch ihr Herz hatte sich von ihrem Manne abgewandt, ja, es hatte ihm wohl nie gehört.

Und dann kam er wieder, jener berückende Traum ihrer Jugend, der eine Zeitlang die Macht gehabt hatte, sogar ihre Einsamkeit zu erhellen, der Traum, eine berühmte, gefeierte Schauspielerin zu sein, wie ihre Mutter. Umjubelt von Tausenden, geliebt von Vielen und geschmückt mit blitzenden Juwelen und seidenen Gewändern.

Aber noch wand sich ihre Natur in den Fesseln, die sie schmerzhaft fühlte, ohne die Kraft zu haben, sie zu sprengen.

Gregor kam nach Hause. – Es war also spät.

Sie wischte die Tränen aus den Wimpern und strich mit den feuchten Fingern über die welken Blätter des Lorbeerkranzes – er knisterte leise.


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