Hedwig Schobert
Künstlerblut
Hedwig Schobert

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IV.

Sie hatten keine Hochzeitsreise an die italienischen Seen gemacht, wie Viktor zuerst geträumt, wenn er auf die in seinen Augen gewaltige Geldsumme sah, die ihm sein letzter Roman gebracht. Es wollte nicht recht reichen.

Er hatte gar nicht gewußt, daß zum Leben zu zweien so vieles gehört, ohne das er doch bisher herrlich ausgekommen war. Wäre es nach ihm gegangen, so hätten keinerlei sonderliche Veränderungen stattzufinden brauchen. Die Wohnung, in der sie lebten, genügte ja den einfachen Bedürfnissen, in denen sie beide groß gezogen waren, und ihm war sie lieb und vertraut durch die lange Zeit, die er in ihr zugebracht, und die ersten Lorbeeren, die er in ihr geerntet hatte. Aber Martha widersetzte sich diesem Ansinnen energisch.

»Was sollen wir denn hier?« fragte sie erregt und sah ihn bittend an. »Dallmanns ziehen fort, und für mich sind es wahrhaftig keine schönen Erinnerungen, die ich zurücklasse. Willst du mir nicht den Gefallen tun, Viktor?« – Natürlich tat er ihr den Gefallen und jeden andern, den sie weiter begehrte. Er liebte sie ja; – ein Lächeln, ein zärtliches Wort machte ihn zu einem willenlosen Werkzeug in ihren Händen, und Martha, die sich dessen bald genug bewußt wurde, freute sich darüber und nutzte es auch aus.

Sie, die bisher niemals einen Pfennig Geld ihr eigen genannt, stand nun an den Schaufenstern der Läden, nicht mehr mit dem begehrlichen oder unerfüllbaren Wunsch etwas von all den schönen Dingen ihr eigen zu nennen, sondern mit dem Bewußtsein, daß sie haben könne, wonach ihr Herz verlange. Unter diesem Bewußtsein mehrten sich ihre Wünsche tagtäglich, und Viktor war schwach genug ihnen keine Grenzen zu ziehen.

Gregor schüttelte zuweilen ärgerlich den Kopf, einmal ging er sogar weiter, er sagte in Marthas Gegenwart, in seiner hastigen, abgehackten Art und Weise:

»Glaube mir, Alten, in der Liebe soll es einen ungemein raschen Übergang aus einem Zustande beinahe blödsinniger Anbetung, zu einem Zustande gereizter Übermüdung für den Mann geben. Ein ›Nein‹ zu Anfang...«

Er kam nicht weiter, Marthas kleine, weiße, aber feste Hand legte sich auf seinen Mund, und Viktor lächelte dazu. Was fragte er wohl in dieser Zeit nach Gregors Weltweisheit! –

Ein kleines Häuschen, mitten im Garten, hatten sie sich gemietet, da, wo die Stadt schon ihren hastenden, treibenden Großstadtcharakter verlor. Dort schaltete Martha als junge Hausfrau, und Viktor nahm seine, in der letzten Zeit etwas vernachlässigte Arbeit wieder auf.

Vor dem Fenster, an dem er schrieb, stand ein Lindenbaum, der gerade blühte, als sie einzogen, und die ganze Wohnung mit süßem Duft erfüllte; durch die geöffneten Fenster drang das Licht nur mit grünlichen Tinten herein, Vögel sangen in den Zweigen und Blumenduft zog in die niedrigen Fenster. Mit einem Gefühl namenloser Seligkeit schloß Viktor sein junges Weib in die Arme, und einige Tage später, als Gregor zum erstenmal den dritten Platz an ihrem Tisch eingenommen hatte, sagte er noch ganz unter dem lebendigen Eindruck dieses Gefühls:

»Ich bin glücklich – vollkommen glücklich, Hugo!«

»Glück!« sagte der lakonisch. »Welch unermeßliches Wort und welch kleines! Ein Paradiestraum oder Bauernzufriedenheit bei der dampfenden Suppenschüssel. Für jeden, was er will – aber niemals beides zugleich!«

Aber gerade in dieser Stimmung wollte es Viktor mit dem Arbeiten nicht so recht vorwärts gehen. Sein Leben war ausgefüllt durch Martha. Saß er und schrieb, so horchte er mit einem Ohr hinaus, wo sie sich aufhielt, ihre helle Stimme zerstreute ihn in einem Augenblick so vollständig, daß er den Faden verlor, schließlich aufsprang und wenigstens nachsah, was sie tat und trieb, ohne nachher Lust zu fühlen zum Schreibtisch zurückzukehren.

»Das wird sich mit der Gewohnheit geben,« dachte er, wenn er sich über sich selbst wunderte. Noch vor einem Jahr hätte er das nicht für möglich gehalten. Damals lebte und webte er in seiner Arbeit, kannte nichts anderes, fühlte sich vollkommen durch sie ausgefüllt, war gesund, heiter, zukunftsfreudig, wie es seiner Jugend zukam, und jetzt! – – Das alles hatte Martha vermocht – sein junges, schönes Weib – das am wenigsten ahnte, welch' eine erfolgreiche Nebenbuhlerin sie seiner Muse geworden.

Er hätte gern noch länger gefeiert. Das Einrichten der kleinen Häuslichkeit, die Hochzeit, die Flitterwochen, all das hatte am Ende doch auch sein Recht, aber wenn er an die Schublade seines Schreibtisches kam, in dem der Rest seines Honorars lag, sah er doch mit unbehaglicher Verwunderung, wie stetig er sich verringerte.

Jeden Morgen hielt Martha ihre geöffnete, kleine Hand vor seine Augen, damit er sie fülle, und jeden Abend erzählte sie ihm kläglich, daß ihr auch kein Pfennig von dem Geld übrig geblieben sei.

»Ich weiß gar nicht, wo es nur alles hingekommen ist,« sagte sie dann nachdenklich und rieb mit dem Zeigefinger die Stirn, »aber weg ist es!«

Sie sagte ihm freilich nicht, wenn er sie nun halb ernsthaft, halb scherzhaft zu examinieren versuchte, daß sie recht viel für ihren Putz verwandte. »Anständig angezogen müsse sie doch gehen, als die Frau eines Schriftstellers,« argumentierte sie und war glücklich, wenn ihr Mann oder Gregor für ihre aufblühende Schönheit ein Schmeichelwort fanden. Sie war eitel, die junge Frau, aber sie war es in erlaubten Grenzen, selbst die strenge Großmutter hätte ihr keinen Vorwurf machen können.

Wenn sie an Viktors Arm durch die Straßen spazieren ging, begegnete ihnen so leicht niemand, der sich nicht nach dem bildschönen, jungen Geschöpf mit dem zarten Kindergesicht umgesehen hätte, das war ihr Befriedigung genug; im übrigen freute sie sich an dem herrlichen Sonnenschein, den Liebkosungen ihres Mannes, wie ein Kind, das sie ja auch noch war.

Der Sommer ging vorüber. Von der Linde vor Viktors Arbeitszimmer hatte der häßliche Nordost in der Nacht fast alles Laub abgestreift, kahl und fröstelnd streckte sie ihre dürren Äste in die Luft.

Viktor saß, den Kopf in die Hand gestützt und sah auf die engbeschriebenen Bogen, die vor ihm lagen. Sein Gesicht trug den Ausdruck nachdenklicher Unzufriedenheit. Die Zeit seines Glückes, die ihn unlustig zum Arbeiten gemacht hatte, rächte sich jetzt an ihm. Das wollte alles nicht so werden, wie er es in Gedanken gehabt hatte. Matt und gequält kamen ihm Sätze und Worte vor – je mehr, je länger er las. Eine melancholische Niedergedrücktheit bemächtigte sich seiner zum erstenmal im Leben, und obgleich er tapfer gegen sie ankämpfte – immer mehr und mehr wurde sie Herr über ihn.

Er hörte Martha in der Küche singen. Heute zog es ihn nicht hinaus zu ihr. Was er in diesem Augenblick empfand und dachte, begriff seine Frau ja doch nicht, wie sollte sie imstande sein, ihn aufzurichten. Sie war ein Schmuck seines Heims, die Seele seiner heiteren Stunden, aber sie teilnehmen zu lassen an seinen Sorgen, daran konnte er nicht denken. Das verwünschte Geld in der Schublade schwand immer schneller! – Er mußte jetzt fleißig sein! – Wenn es nun leer darin sein würde, und Martha stand vor ihm mit ausgestreckter Hand, in die er nichts hineinzulegen hatte, und das Feuer auf dem Herde draußen erlosch. – –

Ein Frösteln lief ihm den Nacken herab. Zum erstenmal spürte er den Ruck der Kette mit der Kugel daran, freilich vorerst in der Einbildung.

Mit einem beklommenen Atemzug zog er die Schublade auf. Da war ja noch etwas von dem Gelde, das er bis jetzt so verachtet hatte! Schmutzig und häßlich lag es da und schloß doch die größte irdische Macht in sich. Viktor fühlte etwas wie Verachtung gegen diese Scheine, an dem so viele Hände ihre Spuren zurückgelassen, feine und grobe, reine und unreine, wie es gerade kam. Er schob die Lade zu. Nein, nicht darum wollte er jetzt arbeiten, sondern um sich selbst genug zu tun, schaffen aus Lust an der Arbeit, mit dem Streben, zu leisten. An den Lohn wollte er gewiß nicht denken.

Mit schnellem Entschluß ergriff er die Feder und schrieb. Es ging nicht – es ging nicht, so sehr er sich auch abmühte, es wurde und wurde nichts Rechtes. Wenigstens dünkte es ihn so.

Er stützte den Ellenbogen auf den Tisch, die Stirn in die Hand und sah gedankenlos auf das Zittern und Wirbeln der toten Blätter an dem erstorbenen Baum.

Zu derselben Zeit stand Martha in ihrer hübschen Küche und sah ebenfalls in den frühen, naßkalten Herbstabend hinaus. Das Fenster ging auf den Hof, aber weder Baum noch Strauch kämpften dort mit dem Tode; in der Ecke stand ein großer viereckiger Kasten, in den das Müll geschüttet wurde, und der Wind trieb hier unten das gleiche Spiel mit einem zerrissenen Zeitungsblatt, dessen Ecke aus der Asche herausragte, wie dort mit den welken Blättern. Es dehnte sich, flatterte, blähte eine Ecke in der Luft und sank dann unscheinbar in sich zusammen. Die großen blauen Augen der jungen Frau hefteten sich an dies Stückchen Papier, und ihr fiel in der Stille, die sie umgab, plötzlich ein, wie viel einsamer sie doch jetzt eigentlich sei, als selbst unter dem strengen Regiment der Großmutter. Mit der Lene gab es immer etwas zu plaudern, Frau Dallmann brachte die Neuigkeiten ihrer Tagesarbeit nach Hause, Gregor und Viktor scherzten mit ihr, und die Leute auf der Straße machten ihr Komplimente. Jetzt war sie Frau Alten, er liebte sie ja und war gut gegen sie; aber eigentlich hatte sie sich das Heiraten doch anders gedacht. Nun begann sie allmählich einzusehen, daß es ein kärgliches Einerlei von hundert kleinen Dingen war, deren Existenzberechtigung sie zu Anfang kaum beachtet.

Der schöne Sommer mit seinen langen Spaziergängen war zu Ende, seit einigen Tagen saß Viktor am Schreibtisch mit ernster, nachdenklicher Miene und machte ein ärgerliches Gesicht, wenn sie ihn störte. Sie hatte doch aber niemand außer ihm, und selbst Gregor, wenn er an bestimmten Abenden zu ihnen kam, neckte sich nicht mehr mit ihr herum, sondern sprach mit Viktor über Dinge, die sie recht wenig interessierten.

Wenn sie nur eine Menschenseele gehabt hätte! Aber von all den Leuten der Nachbarschaft kannte sie keinen, überhaupt niemand mehr in der großen Stadt, seitdem die Lene in eine Theaterschule gegangen war, und Frau Dallmann sich nicht mehr sehen ließ. Sie hatte keine Ahnung, daß Gregor der braven Aufwärterin zu verstehen gegeben hatte, ihr Besuch würde seinem jungen Freunde nicht gerade angenehm sein.

Der Fetzen Zeitung wirbelte wieder in der Luft herum, und Martha sah dem Spiel zu, mit der unklaren Vorstellung, sie zapple sich ebenso nutzlos ab, wenn sie dem lebendigen Drange nach Zerstreuung nachzugeben versuchte.

Wie totenstill es wieder um sie war, nur das Ticktack der Küchenuhr schlug an ihr Ohr.

Der letzte Abend vor ihrer Verlobung kam ihr wieder in den Sinn, das Stückchen Welt, das sie damals von der Vogelperspektive aus mitgenossen hatte, und nun wußte sie auf einmal, wohin all ihr Wünschen und geheimes Hoffen zielte. Nach jener Welt stand es! »Sie sind sehr – sehr schön!« hatte ihr damals der Unbekannte gesagt. Sie war es jetzt noch mehr, das wußte sie. – Sollten sie heut abend wieder zu Hause sitzen, wie täglich? Trostlos – immer dasselbe! Sie kannte das Tapetenmuster schon auswendig, auf das sie starrte, bis ihr die Augen weh taten, wenn Viktor las und sie ihn nicht stören wollte.

Das kleine Stück Zeitung schien ihr zu winken, es tanzte aufs neue seinen Wirbel, und nun sie die Augen anstrengte, sah sie auch deutlich an den fettgedruckten Buchstaben, daß es der Vergnügungsanzeiger war, den sie dort eingescharrt hatten. Ein Wort sprang ihr in die Augen – Theater.

Wie ein Feuerstrom durchzuckte es sie. Ins Theater wollten sie gehen – heute – gleich! Viktor hatte es ihr schon lange versprochen, aber bisher waren die Abende meist noch schön gewesen, oder Gregor kam – heute jedoch lag nichts vor, heute hatte er keinen Grund, ihr's abzuschlagen.

Sie wußte gar nicht, wie schnell sie hineinkam und ihrem Manne um den Hals fiel.

»Geh mit mir ins Theater!« bat sie und fühlte, wie ihre Wangen zu brennen anfingen, wie ihr Herz klopfte.

»Jetzt?« rief er erstaunt und gleichzeitig ärgerlich. Er war einem Gedanken auf der Spur gewesen, er hatte sich ihn zu Worten formen wollen, aber vor Marthas Ansturm war er davongeflogen. Wohin? »Du hast mich gestört, ich war eben im Nachdenken...«

»Denke ein anderes Mal nach,« bat sie ungestüm. »Du kannst doch nicht verlangen, daß ich ewig zu Hause sitzen und auf deine Arbeit warten soll? Es ist so schauderhaft langweilig, ich werde ganz melancholisch. Du sitzt an deinem Schreibtisch, aber ich darf mich nicht rühren. Bitte, bitte, lieber Viktor, tu mir den Gefallen und sieh es ein, daß ich auch noch auf der Welt bin.«

Schmeichelnd drückte sie sich an ihn, küßte ihm Stirn, Haar und Augen. Es war, als hinge ihre Seligkeit von dem heutigen Abend ab. Er seufzte, schüttelte den Kopf, war im Grunde froh, daß er der fruchtlosen Gedankenjagd für heute überhoben sei und doch nur notgedrungen Marthas Flehen nachgab. Ihren blonden Schopf festfassend und ein wenig daran ziehend, sagte er: »Meinetwegen – gehen wir also!«

Mit einem Freudenschrei warf sie sich aufs neue an seinen Hals. Auf der ganzen Welt hatte sie noch nichts in solche Erregung versetzt. Er merkte es voll Erstaunen, faßte sie an den Schultern und hielt sie etwas von sich ab, indem er sie aufmerksam betrachtete.

»Du bist ja ganz blaß geworden, kleine Frau,« sagte er in etwas unsicherem Ton, »oder macht es das Licht? Soviel Leidenschaft hätte ich dir gar nicht zugetraut!«

»Ich freue mich so!« murmelte sie wie ein Kind. Aber es war nicht das allein, auch die Erinnerung an ihre Mutter sprach mit. Bis jetzt fehlte ihr ja jeder Maßstab für das, was eine Schauspielerin war; ihr bedeutete es ein Wort, nichts weiter. Aber heut abend würden sich ihr jene Bretter zeigen, die die Welt bedeuten, sie sollte selber sehen und hören, selber empfinden, und sie hatte das Gefühl, als würde ihre ungekannte Mutter ihr leibhaftig dort entgegentreten, wo ihre Gedanken sie bisher in nebelhafter Dämmerung gesucht hatten.

Ihrem Manne sprach sie aber nicht davon, als sie Arm in Arm dem Theater zugingen, obgleich sie sehr viel schwatzte und lachte; noch mehr als sonst.

»Du bist aufgeregt!« sagte er lachend, als er ihr das Tuch vom blonden Haar nahm. »Habe ich je solch Kind gesehen!« Und dabei freute er sich, daß er ihr dies Vergnügen gewahrt hatte. Es war eine französische Sittenkomödie, in die er sie, da es am nächsten war, geführt hatte. Geistvoll, pikant, voll von jener leichtfertigen Frivolität, die nur den Franzosen eigen ist. Martha saß wie verzaubert. Ihr großäugiges Kindergesicht glühte. Sie hatte sich und ihre Umgebung vollständig vergessen. Daß man das schöne Frauengesicht aus dem Publikum heraus anstaunte, beachtete sie gar nicht, ihre sonst so rege Eitelkeit, alles ging unter in dem neuen, ungekannten Genuß.

Sie schwieg, zum Sprechen hatte sie ebensowenig Zeit, wie zum Denken.

Viktor, der sie zuerst ergötzt, dann beunruhigt betrachtet hatte, berührte endlich leicht ihre Hand.

»Warum so schweigsam, Martha!«

»Laß mich!« wehrte sie ungeduldig und sah ihn an. In ihren Augen lag etwas Heißes, Fremdes, das ihm zum erstenmal aus ihnen entgegentrat. Wie wunderlich der Ausdruck sie veränderte!

Nachträglich tat ihm jetzt die Wahl des Stückes leid, ein anderes hätte vielleicht besser für sie gepaßt, aber er hatte geglaubt, seine kleine, harmlose Frau würde sich nur amüsieren. Dieser nachdenkliche Ernst überraschte ihn.

Und wenn er erst alles, was sie bewegte, gewußt hätte!

Für sie war ja die schöne, blonde Frau, die dort auf der Bühne lachte und weinte, keine Fremde; ihre Mutter war es – die Schauspielerin – deren Beruf ihr die Großmutter nie verziehen, um dessentwillen sie sie gehaßt, und diese Abneigung bis auf die Tochter erstreckt hatte. Vielleicht hatte das verstümmelte Bild ähnliche Züge über den Schultern getragen, wie jene dort vor ihr, vielleicht hatte ihre Mutter gerade dieselbe Rolle vor dem entzückten Publikum gespielt.

Der Beifall, der jetzt rings um sie her erscholl, sie nahm ihn als eine Huldigung in sich auf, die dem Gedanken an die bis jetzt stets nur Geschmähte galt. Und Stolz und Freude schwellte ihre Brust, indem sie sich klarmachte, daß sie die Tochter einer Frau sei, deren Erscheinen täglich Hunderte entzückt, die man mit Beifall und Jubel überschüttet hatte, und die weit hinausragte über die kleine Welt, die sie in diesem Augenblick zum erstenmal als Fessel empfand. Ihr Blick war plötzlich unheimlich geschärft, sie staunte selbst darüber. Jenes dunkle, wunderbare Etwas, das bis jetzt so geheimnisvoll in ihrer Zukunft gestanden, dem sie keine bestimmte Form, keinen Namen zu geben vermochte, dessen beunruhigende Wirkung sie nur manchmal in einsamen Stunden an sich zu fühlen vermochte, nun stand es plötzlich greifbar und entschleiert vor ihr.

Das Theater – das war es! Dahin gehörte sie – wie die ungekannte Mutter. Das war die Erfüllung aller Wünsche, das war Glück, Leben und Seligkeit, und man hatte sie darum betrogen!

Unter dem Lachen des Publikums, den scharf zugespitzten Pointen auf der Bühne, regte sich in Marthas Herzen Haß gegen die tote Großmutter. Wäre die alte Frau mit dem harten Herzen und den knöchernen Händen, die so fest hielten, was sie einmal gefaßt hatten, nicht gewesen, ihre Mutter hätte sie gewiß niemals verlassen. Sie wäre aufgewachsen unter dem Weihrauchduft der Bewunderung, hätte Welt und Menschen kennengelernt, ja, stände jetzt vielleicht selber auf der Bühne, lachte, kokettierte und sprach wie jene dort vor ihr.

Mit weit offenen Augen starrte Martha die Schauspielerin an; sie sah sich plötzlich selber dort stehen mit der langen, blauen Atlasschleppe, um sie funkelten die Brillanten, um sie entbrannte der eifersüchtige Kampf auf der Bühne, und so gewaltig war diese Vorstellung in ihr, daß sie noch wie verzaubert sitzenblieb, als der Vorhang schon fiel und das Licht im Zuschauerraum wieder aufflammte. Zweimal redete Viktor sie an, ohne daß sie antwortete, dann fuhr sie unter einem kleinen, erstickten Schrei mit der Hand an die Augen.

Ach! Ihr Traum war zu Ende. Die Wirklichkeit, das graue Einerlei des Alltags nahm wieder Besitz von ihr.

Schweigend kleidete sie sich an, schweigend trat sie, mit ihrem Mann auf die Straße. – Das kannte er gar nicht an ihr.

»Nun,« fragte er neckend, »bist du schläfrig, weil du so still bleibst?«

»Schläfrig?« wiederholte sie gedankenlos. »Nein – es war nur so schön, Viktor!«

»Ja, du hattest auch für nichts Sinn! Du vergaßest sogar, daß ich noch auf der Welt war.«

»Ja!« gab sie zu, noch immer in dem eigentümlich gedankenlosen Ton; dann faltete sie ihre Hände um seinen Arm und flüsterte. »Weißt du, was ich möchte, Viktor? Schauspielerin sein – wie meine Mutter!«

Er lachte. »Diesen frommen Wunsch haben wohl viele, die sich das Ding nur von weitem ansehen, aber in Wahrheit, kleine Frau, hast du es besser! denke nur – jeden Abend sich so zur Schau stellen müssen, man mag aufgelegt sein, oder nicht. Du dagegen bleibst in deinem gemütlichen Heim, hast einen Mann, der dich liebt...« Er beugte sich zärtlich auf ihren blonden Kopf herab. Sie aber riß fast ungestüm ihren Arm aus dem seinen und blieb stehen.

»Was ist, Martha?« fragte er ahnungslos diesem plötzlichen Impuls gegenüber.

»Ich verliere mein Tuch – warte einen Augenblick!« Sie nestelte und zerrte an der weißen Hülle, bereitwillig kam er ihr zu Hilfe, obgleich er gar nicht sah, wo etwas in Unordnung geraten war.

»Warum schreibst du nicht solch ein Theaterstück?« fragte sie auf einmal und schlug, neben ihm hergehend, die großen Augen zu ihm auf. »Kannst du das nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Kind, meine Muse ist ernster. Ich könnte ihr das nicht antun, mit Frivolitäten und Scherzen die Menge zu unterhalten – ich schämte mich. Das Streben, das mich beseelt, Martha, hat wenig mit dem Erfolge zu tun. Nur einige wenige, die mit mir eins sind im Fühlen und Denken, sollen zufrieden mit mir sein, wenn ich es bin – das genügt mir – ich will nicht unterhalten, ich will packen und erschüttern.«

»Ach,« sagte sie ganz ernsthaft, »wenn du mich fragtest, ich würde dir ehrlich gestehen, daß mir das andere besser gefällt!«

»Du stellst demnach den, der das Stück geschrieben, über deinen Mann?« fragte er zwar lächelnd, aber doch gekränkt.

»O, bei weitem! Wenn du so etwas schreiben würdest, Viktor, dann – ja dann würde ich glauben, daß du wirklich etwas anderes wärst, als die andern Menschen!«

»Und jetzt glaubst du das nicht?«

»Sei nicht böse, aber – –« sie stockte mit einem Blick in sein Gesicht.

»Sprich dich nur aus, Martha,« sagte er ruhig und schloß die Tür auf.

»Es ist langweilig, mit so schrecklich erhabenen Menschen zu tun zu haben, wie in deinen Büchern,« fuhr sie mit einem gewissen Trotz fort. »Sie sind alle so ernst und edel, wie ich es sicher niemals sein würde, eben weil ich ein Menschenkind bin, und du auch nicht, Viktor, denn erinnere dich nur, wie du neulich gezankt hast, als die Koteletten nicht gut waren, und gestern, wo ich nicht ordentlich Staub auf deinem Schreibtisch gewischt hatte.«

Sie sah ihn mit einem Lächeln von der Seite an, und er konnte nicht anders, er mußte ebenfalls lächeln. – –

Seit jenem Abend hatte sich ein ganz neuer Geist in das Gartenhäuschen geschlichen und trieb dort sein heimlich Wesen. Martha hatte das zerrissene Bild ihrer Mutter hervorgeholt und es in dem vergilbten Lorbeerkranz an der Wand befestigt, in der hellblauen, verschossenen Schleife steckte die Zeitung mit dem Stück Rezension. Das war gewissermaßen ihr Hausaltar geworden. An diese Reliquien einer begrabenen Vergangenheit knüpften sich ihr jetzt eine lange Reihe Fäden, die sich in ihr frisches Leben hineinzogen und sie fest umspannten. Ihr blieb ja genug Zeit zum Denken und Träumen! – Viktor wollte möglichst ungestört sein, er arbeitete eifrig, aber nicht mit der hellen Stirn wie einst, nicht mit dem seligen Selbstvergessen, dem stolz bescheidenen Genügen, das ihn zuerst niemals verlassen, sondern unruhiger, kritischer; und es kamen Stunden, in denen er eine dumpfe Bangigkeit und abgespannte Ermattung nicht loswerden konnte. Dann fiel ihm Marthas Kritik seiner Arbeiten ein. – Töricht! – Kindisch! nannte er sie vor sich selber, ganz ihr entsprechend, und doch – und doch! – Ein Tropfen Bitterkeit war in den Adern geblieben und vergiftete ihm oft gerade im ungünstigsten Moment seine Freude am Schaffen.

Wie Martha würden andere denken! – Sie war ja noch dazu sein Weib – und dann fragte er sich besorgt, ob er nicht am Ende wirklich des Guten zu viel tue. – Es kam dadurch ein Schwanken in ihn, das ihn zögern und wägen ließ, wo er bisher frisch und unverzagt zugegriffen hatte, ohne Gedanken an das, was es ihm eintragen würde, Lob oder Tadel, Abweisung oder Honorar. – Er hatte jetzt nicht mehr das Recht seinen Impulsen zu folgen, er mußte an das Kommende denken, und gerade das legte sich ihm lähmend auf Herz und Hirn.

Vor Gregor hütete er seine Sorge ängstlich, er fürchtete dessen Spott, mehr noch jenen festen, ruhigen Blick, mit dem der Freund seine Seele zu durchforschen wußte, als läge sie wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihm. – Er schämte sich vor Gregor. Und dann wieder schob er alles, was ihn drückte, auf momentane körperliche Verstimmung, denn der Winter war rauh eingezogen, und auf den dürren Ästen der Linde lag Schnee.

Anscheinend bemerkte Gregor nicht, wie es um Alten stand, er drängte sich nicht in sein Vertrauen, um so weniger, als Martha ihm das ihrige unaufgefordert entgegenbrachte. Sie mußte jemanden haben, mit dem sie von dem reden konnte, was ihr auf dem Herzen lag, und wunderbarerweise stand Viktor ihr dazu innerlich nicht nahe genug.

Wenn sie ihn an seinem Schreibtisch wußte, schlüpfte sie in das Schlafzimmer, drapierte sich mit irgendeinem Kleidungsstück und spielte dann jene Szenen aus dem Gedächtnis nach, die bei ihren Theaterbesuchen den tiefsten Eindruck auf sie gemacht hatten und die ihr fast wörtlich gegenwärtig geblieben waren.

Es war ein kindisches Gebaren, aber sie hatte Freude daran. Theater blieb ihre einzige Zerstreuung, ihre einzige Passion. Allwöchentlich lag sie ihrem Manne damit in den Ohren, und als Viktor endlich ungeduldig wurde und ihr diese Bitte rundweg abschlug, da steckte sie sich hinter ihren alten Freund Gregor.

»Es ist doch gewiß nicht zuviel verlangt,« sagte sie. »Was habe ich denn von meinem Leben? Nichts! Gar nichts! Ich denke manchmal, ich war doch viel glücklicher früher – ich hatte wenigstens Lene – wen habe ich jetzt?«

»Ihren Mann, Martha!«

Sie blickte lebhaft auf.

»Ja, das hatte ich wohl auch gemeint; in Wirklichkeit ist es aber nicht so. Ich störe ihn wenn ich komme, und dann sagt er mir, daß er arbeiten müsse um Geld zu verdienen, der Haushalt sei so kostspielig! Nun und jetzt...«

»Was tun Sie jetzt?« munterte er die Zögernde auf.

»Jetzt bleibe ich mit meinen Gedanken allein,« schloß sie energisch. »Aber manchmal bin ich überzeugt, daß es besser gewesen wäre, ich hätte gar nicht geheiratet, sondern wäre geworden, was meine Mutter war.«

Sie schaute an ihm vorüber zum Fenster hinaus.

»Daß Sie so unvernünftig sind, Martha!« sagte er kopfschüttelnd. »Gewiß muß Viktor arbeiten, aber für wen denn – für Sie! Allerdings müssen Sie Rücksicht auf ihn nehmen, damit er ungestört bleibt, denn was er verdient – es ist doch für Sie.«

»Aber ich will auch leben!« rief sie, »hören Sie, Gregor, leben! Es genügt mir nicht, daß ich das Mittagessen für Viktor koche und dann an das Abendbrot denke, Staub wische und seine Wäsche besorge, ich will mehr...! Ganz unglücklich macht mich diese Einsamkeit – furchtbar unglücklich!«

»Das tut mir leid für Sie, Martha,« sagte er in sehr trockenem Ton. »Ich glaubte bisher, das wäre der Beruf der Frau, ein hoher, schöner Beruf, wenn man ihn richtig auffaßt. Was erscheint Ihnen denn begehrenswerter?«

»Das!« rief sie rasch und zeigte mit dem Finger in die Ecke, in der der Lorbeerkranz hing. »Sie war doch auch eine Frau, meine Mutter, und mein Vater hat sie sehr geliebt, und andere Menschen haben sie bewundert.«

Sie sprang auf und kam mit dem Zeitungsfragment zurück. »Sehen Sie her – lesen Sie – und dann sagen Sie mir, ob meine Mutter nicht eine große Künstlerin gewesen sein muß!«

Triumphierend, mit blitzenden Augen lehnte sie sich vornüber und sah ihm in das Gesicht, während er die Zeilen studierte – langsam – sich dabei überlegend, ob es geratener sei, ihr diese Illusion zu rauben oder zu lassen. Er war ja bewandert genug in der Tagesliteratur, um zu wissen, daß diese Phrasen aus irgend einem Landstädtchen stammten, daß der Verfasser beeinflußt war, vielleicht nur durch die Schönheit der Schauspielerin, vielleicht auch noch durch klingende Münze. Er zweifelte keinen Augenblick, daß Frau von Nordheim recht gehabt, wenn sie in ihrer Schwiegertochter höchstens einen Stern fünften Ranges sehen wollte, aber war es darum nötig, der Tochter das Andenken der ungekannten Mutter zu nehmen?

Und so reichte er ihr mit ernster Miene das Zeitungsblatt zurück und sagte:

»Lassen Sie Ihrer Mutter das Andenken, das Sie ihr weihen, ungeschmälert, Martha! Aber trösten Sie sich damit, daß Lorbeer nicht für jeden wachsen kann!«

Sie sah ihn ungeduldig und etwas enttäuscht an, aber sie schwieg.

Zu Alten sagte Gregor noch denselben Abend:

»Gib Marthas Theaterlust nur nicht allzuviel nach, das erhitzt die Phantasie zu sehr. Sie ist ja noch so jung.«

Mit ingrimmigem Lächeln zog Viktor die ominöse Schublade auf.

»Der kärgliche Rest hier verbietet es ohnehin!«

Und dann sprang er auf, und, sich durch die Haare fahrend, rief er voll Pein:

»Dies elende Geld! Dies erbärmliche Geld! Es bemächtigt sich der Seele und schlägt sie in Ketten!«

»Schon?« fragte Gregor mit eigentümlichem Aufblick.

»Schon!«


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