Hedwig Schobert
Künstlerblut
Hedwig Schobert

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XI.

»Die Frau ist noch nicht zu Hause,« sagte Pauline ängstlich, als Viktor am frühen Morgen zurückkehrte. Sie hatte das nächtliche Drama zwar verschlafen, aber es war, als ob etwas davon noch in der Luft schwebte und sich nun beklemmend jedem auf das Herz legte.

Er nickte kaum. Blaß, übernächtig und erfroren wie er war, wirkte die Gegenwart weniger, als unter normalen Verhältnissen. Sein Bedürfnis war augenblicklich das warme Bett und eine warme Tasse Kaffee, alles andere hatte Zeit.

Er war fertig mit der Vergangenheit, der letzte Rest löste sich selbst von ihm ab, und er empfand keinen Kummer darüber.

Ein neues Leben! Bisher hatte er mit diesem Gedanken nur gespielt, jetzt, da er Wirklichkeit geworden war, ohne sein Zutun, hätte er kein Mann sein müssen, um das Entfliehende gegen seinen Wunsch zu halten. Er legte den Kopf auf das Kissen und schloß die Augen; ohne seinen Willen wurden die Bilder, die sich ihm zeigten, immer heller und rosiger.

Da hörte er aus dem Nebenzimmer den schlürfenden, Gang seines Freundes. Er wollte aufspringen, die Türe verschließen, aber Gregor war schneller; schon trat er ein.

»Martha ist fort,« sagte er ohne Umschweife, sich auf den Stuhl neben Viktors Bett setzend.

»Ich ahnte es!« Er richtete sich auf dem Ellenbogen in die Höhe und sah mit gefalteter Stirn dem Freunde in das Gesicht. »Soll ich sie etwa halten? Sie ist undankbar, mag sie sich ihren eignen Weg suchen! Ihre Großmutter hatte nicht so unrecht, daß ihr die Liederlichkeit im Blute läge.«

»Wie dir die Ungerechtigkeit!« sagte Gregor scharf. »Einst vermaßest du dich, das Schicksal deines Weibes sein zu wollen, und nun! ...«

Viktor warf wieder sich in die Kissen zurück.

»Willst du mich verantwortlich machen?« fragte er gereizt. »Die Träume meiner Jugend liegen zerbrochen, soll ich darüber klagen? Menschenfeind werden?«

»Das ist nur Millionären oder Bettlern vergönnt.«

»Also werde ich das Leben nehmen, wie es kommt.«

»Das heißt,« sagte der alte Mann mit hartem Spott, »du wirst, wie alle Welt, auf den Knieen vor dem goldenen Kalb liegen und den Narrentanz nach Reichtum, Lust und Ehre beginnen. Das sind deine Lebensreformen!«

»Und wenn,« rief Viktor, und das Blut stieg ihm zu Kopf. »Weißt du etwas Besseres?«

»Nein, nur daß unsere Wege dann wohl die längste Zeit nebeneinander gelaufen sind! – Du bist einverstanden, dich von Martha zu trennen?«

»Ja!«

»Scheidung?«

»Woraufhin denn?« rief Viktor ungestüm. »Verlangst du etwa, daß ich das ganze saubere Treiben bei Dallmanns vor das Forum eines Gerichtshofes zerre? Daß ich mich erniedrige, indem ich die Entwürdigung meiner Frau den Leuten vordemonstriere? Nein! Mein Name soll rein bleiben, denn was du auch denken magst, Gregor, ich bringe ihn doch noch zu Ehren. Unsere Zeit braucht keine Romantiker, sondern Realisten, und ist es nicht gleich, wie du ihr gerecht wirst, wenn es nur geschieht?«

»Hm!« sagte Gregor und rieb sich sein stachliges Kinn. »Die Saat ist aufgegangen und wird Frucht tragen.« Man sah ihm an, Viktors Abfall tat ihm weh.

»Also ... Martha!«

»Bringe ihr meine Einwilligung zur Trennung; habe ich Mittel, werde ich sie unterstützen, sie weiß ja aber am besten, wie es augenblicklich steht. Ich hätte nicht einmal so viel Geld,« schloß er höhnend – »sie durch einen Richterspruch völlig von mir zu befreien, aber inkommodieren werde ich sie in Zukunft ebensowenig.«

»Lebewohl!« sagte Gregor.

»Lebewohl!« Viktor streckte ihm die Hand entgegen. »Alter Freund, wie bitter und grausam in seinen Konsequenzen ist doch das Leben! Wer hätte gedacht, daß alles so kommen würde!«

Aber Gregor nahm die ausgestreckte Hand nicht, sein Gesicht sah undurchdringlich aus.

»Gehe zu denen, die dich zu diesen Konsequenzen verlockt haben.«

Viktor richtete sich auf und streckte ihm die Arme entgegen.

»Nein, so nicht – so dürfen wir uns nicht trennen, Gregor,« rief er leidenschaftlich, »bleibe mein Freund – ach, du weißt ja nicht ...«

»Ich will auch nichts wissen,« sagte der hartnäckig.

Er schob sich zur Tür hinaus und Viktor fiel in die Kissen seines Bettes zurück. Er hätte gern geweint, aber die Erregung schwemmte gleichzeitig den letzten Rest von Uneigennützigkeit fort, und gab ihm einen klaren Kopf und ein kühles Herz. – Sie hatten sich alle von ihm abgewandt, die Vertrauten seines einstigen Wollens, die Freunde seiner sturmlosen Jugend. Alle! Auch seine Frau! Mochte er ihr wirklich, durch den Schein verführt, unrecht getan haben, weshalb fand sie kein aufklärendes Wort? Er hatte ihre Mutter verunglimpft! – Es tat ihm jetzt leid, aber schließlich war es doch ein frommer Betrug gewesen, den Gregor und er ihrem Kinderherzen gegenüber aufrecht erhalten hatten. – Was dann geschehen, lag allerdings wie ein tiefer, unüberbrückbarer Abgrund zwischen ihnen.

Sie sollte in Gottes Namen gehen! Er wurde ja frei – frei! – Frei von allen Fesseln, von der lähmenden Sorge um den Bedarf des Haushalts – frei!

Er atmete tief auf und strich mit der Hand durch das dunkle Haar. Frei!

Aber auch den Freund hatte sie ihm genommen! Er wußte genau, die Bande zwischen ihnen waren zerrissen.

Nun, er brauchte nicht um ein freundliches Wort zu betteln; andere gaben ihm in reicher Fülle, wenn man ihn hier darben ließ. – Wie anerkennend hatte Füßlein gestern gesprochen, wie wertvolle Fingerzeige ihm gegeben. Seine Eitelkeit regte sich. Er mußte jetzt etwas leisten, das ihm mit einem Schlage Ruhm, Erfolg und Reichtum brachte – er würde es, nun die Fesseln von ihm abgefallen waren; und wenn er dabei seine eigenen Wege ging, so hatte Gregor wahrlich kein Recht, ihm den Rücken zu drehen. –

Noch an demselben Vormittag ließ er sich bei Rose Marie melden.

Sie lag in dem rosigen Dämmer der geschlossenen Vorhänge abgespannt auf dem Diwan und hieß ihn willkommen, indem sie ihm ihre schmale Hand entgegenstreckte. »Sie bringen Neues!« sagte sie, ihre klaren, kühlen Augen auf ihn heftend.

»Neues?« wiederholte er bitter, ohne sich zu setzen. »Nun ja, vielleicht! So wie Sie mich hier sehen, sieht ein verlassener Ehemann aus. Gefalle ich Ihnen in der Rolle?«

Sie richtete sich auf dem Ellenbogen auf und sah ihn an; ein leises Vibrieren zitterte über ihr sonst so gleichmäßiges ruhiges Gesicht.

»Setzen Sie sich und erzählen Sie, was sich zugetragen hat!« befahl sie fast.

Er gehorchte. Aus seiner Stimme klang nichts anderes wie Bitterkeit, kein Herzenston, weder verwundete Liebe noch Haß – nichts! – Sie hatte ein Ohr dafür.

»Haben Sie diese Frau einst geliebt?« fragte Rose nachdenklich.

»Vielleicht, ich weiß nicht!« rief er erregt. »Wenn das Menschenherz so wandelbar sein kann, gibt es wohl nichts mehr, an dessen Dauer man noch glauben kann.«

Sie lächelte.

»Ja, es ist wandelbar!« sagte sie bestimmt, »und die Ewigkeit hat mit dem heute, gestern und morgen nicht das Geringste zu tun. – Im Grunde genommen scheint es mir ein Glück für Sie, Alten, daß alles so gekommen ist, wie es eben kam. Das mag herzlos klingen, aber bei mir hat der Verstand das erste Wort.«

»Immer?« fragte er und tauchte seinen Blick tief in den ihren.

Sie nickte. »Schon seit langer Zeit, und deshalb sage ich Ihnen: eine Ehe, die innerlich durch Weltweiten voneinander getrennt ist, wie die Ihre, kann niemals zum Guten führen. Sie haben Pflichten gegen sich selbst! Befolgen Sie die und lassen Sie die Leute über Ihren Egoismus schreien. Was bedeutet Ihnen das? Ich bin ich, und du bist du! Jeder ist ein Ganzes für sich, und in dem steten Kampf der Atome gegeneinander wird schließlich der Stärkere siegen. Es fragt sich aber noch, wer der Stärkere in der Ehe ist? Ich glaube, die tadellose Dummheit, die nichts begreift, und die deshalb den feiner organisierten andern Teil unrettbar zu sich herabzieht. Das wäre auch Ihr Los gewesen, mein Freund.«

Er hörte ihr mit gesenktem Kopf zu. Ja, sie hatte recht, tausendmal recht! Wer wußte denn besser als er, was sein Los an Marthas Seite gewesen wäre! Frondienst für das tägliche Brot, und ein allmähliches Vertrocknen in dem engen Kreislauf kleinlicher Pflichten.

»Nehmen Sie das Leben, wie es ist,« sagte Rose Marie und drehte an ihren Ringen. »Dann wird man mit ihm fertig! Und vor allen Dingen gehen Sie einmal ein Jahr auf Reisen, dann wird die Schaffenskraft schon wiederkommen.« Er erblaßte und seine Stirn furchte sich.

»Sie schicken mich fort?« fragte er grollend.

Sie lächelte wieder.

»Das nicht. Ich möchte Sie nur mitnehmen!«

Er nagte an der Unterlippe, ein Gefühl von wahnsinnigem Schmerz würgte ihm in der Kehle.

»Zu arm – zu arm!« murmelte er bitter.

Da legte sie ihre kühle Hand auf sein lockiges Haar, weich und liebkosend spielten ihre Finger mit den dunklen Wellen.

»Aber ich bin reich!« sagte sie halblaut.

Er sprang heftig auf. »Nie!« stieß er hervor.

Sie lehnte sich zurück und streckte die Hand nach ihm aus.

»Wie heftig Sie sind, Alten! Hören Sie mich ruhig an. Ihr Künstler seid wunderliche Menschen! – Was will ich denn? Ihnen eine Summe vorstrecken, daß Sie ein Jahr Ihren Studien und Liebhabereien leben können. Das Material, das Sie brauchen, sind Menschen, suchen Sie sich Menschen, und dann arbeiten Sie und geben mir das meinige zurück. Daß ich daneben die egoistische Absicht habe, Sie ein wenig für mich auszunutzen, wollen Sie mir das zum Vorwurf machen?«

Sie sah ihm mit all der hinreißenden Liebenswürdigkeit in das Gesicht, über die sie in so reichem Maß gebot, und als er mit sich kämpfend, schwer atmend und die Stirn gesenkt schweigend stehen blieb, lachte sie plötzlich auf.

»Machen Sie kein solches Gesicht, Alten, und gönnen Sie mir das Vergnügen etwas für jemand tun zu dürfen, der meinem geistigen Menschen nahe steht.«

Er beugte sich lange auf ihre Hand.

»Sie sind mein guter Engel, Rose Marie,« flüsterte er bewegt.

»Das hat mir lange niemand mehr gesagt; aber Alten denken Sie stets an eins für die Zukunft. – Ich glaube an Sie; ich will, daß Sie etwas aus sich machen und mich nicht enttäuschen, und – ich warte darauf.«

»Ja!« dachte er begeistert. »Der Stern in meinem neuen Leben heißt Rose Marie!« –

Als er sie verließ, trug er eine namhafte Summe und den Reiseplan in der Tasche, den ihm die Kommerzienrätin entworfen hatte.

»Auf Wiedersehen in Rom, Ende Februar!« sagte sie zum Abschied.

Er seufzte über den Zeitabschnitt, der sich endlos vor ihm ausdehnte, dann aber trat das Neue verheißungsvoll in seine Rechte. Er hätte jubeln mögen wie ein Kind, wenn er an die geplante Reise dachte.

Fort aus der Misere des sorgenvollen Hausstandes, hinein in ein unabhängiges, wechselvolles, lockendes Leben und dabei frei – ganz frei!

Es kam ihm vor, als habe er Rose Marie nicht genug gedankt, und zugleich quälte ihn doch das unbehagliche Bewußtsein, daß jeder, der davon hörte ihn nicht sonderlich günstig beurteilen würde, also nur fort – rasch fort! An Gregor schrieb er ein paar Zeilen, denen er einen namhaften Geldbeitrag für die Miete des Hauses und Martha beischloß, so glaubte er genug getan zu haben. Daß er den alten Freund nicht persönlich vorfand, war ihm eine uneingestandene Beruhigung. Der hatte zuweilen eine so unangenehme Manier, der Wahrheit die Ehre zu geben, und er war beeinflußt durch seine Zuneigung für Martha.

Als die Stadt im grauen Wolkennebel eines unfreundlichen Wintertages hinter ihm versank, atmete er auf. Nun erst fühlte er sich befreit. –


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