Hedwig Schobert
Künstlerblut
Hedwig Schobert

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VIII.

»Lene, Lene, bist du noch zu Hause?«

Martha Alten hatte die Tür geöffnet und ihren blonden Kopf durch die Spalte gesteckt; so frisch und fröhlich, wie sonst wenn sie diese Frage tat, klang ihre Stimme heute nicht.

»Ja!« antwortete die Schauspielerin, »heute ist ein anderes Stück angesetzt, ich habe nichts zu tun. Das ist nett, daß du kommst.«

»Nur für einen Augenblick.« Martha schüttelte den Schnee von Kleid und Jacke, ging dann auf das Sofa zu, das ihrer Freundin hauptsächlichster Aufenthalt zu Hause war und setzte sich auf die Seitenlehne.

»Mutter kann Licht bringen, ich will dir mein neues Kostüm zeigen.« Lene erhob sich aus ihrer liegenden Stellung, aber Martha drückte sie wieder herab. »Laß noch ein wenig,« sagte sie hastig, »im Dunkeln ist es so gemütlich.«

Aber anstatt zu plaudern, saß sie ganz still und zupfte in Gedanken verloren an ihrem Pelzbesatz.

»Du, Martha, du hast etwas.«

Keine Antwort.

»Willst du es mir nicht sagen?« drängte Lene.

Da brach die junge Frau in Weinen aus!

»Ach, Lene,« schluchzte sie und preßte die Handflächen ineinander, »darum bin ich gekommen! Ich – ich – wir haben kein Geld mehr!«

Lene nahm diese Nachricht ziemlich kaltblütig auf.

»So,« sagte sie, »das ist immer eklig, Martha! Wir wissen ja noch recht gut von früher her, wie das tut! Was macht dein Mann?«

»Ach, der arbeitet; er sitzt den ganzen Tag am Schreibtisch mit einem finsteren Gesicht, aber fertig bringt er nichts,« gestand sie kleinlaut. »Mit nichts darf ich ihm kommen, kaum zu reden wage ich, es ist gar nicht zum Aushalten, Lene!«

»Das glaube ich dir gern.«

Dann streckte sie den Arm über den Tisch aus und zog eine Bonbonniere heran.

»Iß, Martha! Solch Leben, wie du es führst, hätte mir schon lange nicht mehr gepaßt!«

»Ja, was soll ich denn machen?« seufzte Martha resigniert, griff aber nach einer stummen Aufforderung doch in die kandierten Früchte und schob sie zwischen die Zähne. »Ich bin zu Ende mit all meiner Klugheit.«

Sie senkte trostlos den Kopf.

»Lene, kannst du mir etwas Geld leihen?« fragte sie plötzlich aufschnellend, die Dunkelheit verbarg ihr Erröten und die Scham, die sie bei diesen Worten empfand, denn es war das erstemal, daß sie Dallmanns mit einer Bitte kam. »Mutter! Mutter!« schrie Lene mit vollster Lungenkraft.

Frau Dallmann öffnete die Tür und schaltete das Licht ein; sie trug noch immer ein rotwollenes Tuch um die Schultern, wie damals.

»Schrei doch nicht so, Lene!« sagte sie verweisend.

»Mutter, die Martha möchte Geld; gib ihr mal!« Und zu dieser gewandt erläuterte sie: »Mutter hat alles unter sich, sie ist vernünftiger als ich.«

Eine glühende Röte stieg in das Gesicht der jungen Frau. »Ich bringe es wieder, liebe Frau Dallmann.«

»Immerzu!« meinte die Aufwärterin gutmütig und legte einen Zwanzigmarkschein auf die dunkle Tischdecke. »Der Lene geht es ja nicht so ängstlich zusammen. Es war doch ein rechtes Glück, daß sie zum Theater ging, nicht wahr? Hübsche Mädchen können nichts Besseres tun heutzutage.«

Sie sah voll Stolz auf ihre Tochter.

Martha seufzte; für sie hatte Frau Dallmann nur allzu recht.

Ihr war, als stand sie jenseits des goldnen Gitters, hinter dem der Garten des Paradieses lag, und sah mit sehnsüchtigen Augen auf die trennenden Stäbe, die sie unerbittlich von dem heiß ersehnten Ziele zurückhielten.

Frau Dallmann, beide Ellenbogen auf den Tisch gestützt, sah sie mitleidig an.

»Na, Marthchen,« sagte sie tröstend und tätschelte die kleine heiße Hand, die zuckend und fiebernd auf der Tischdecke lag, »das kann ja noch ganz anders kommen, wie Sie jetzt denken. Du lieber Gott, so ein Leben ist lang.«

»Da ist jemand, Mutter,« unterbrach Lene sie hastig, denn draußen hatte die Glocke angeschlagen. »Daß du mir keinen 'reinläßt, so wie ich aussehe und so liederlich, wie es in der Stube ist.«

»Ich gehe,« sagte Martha beklommen und stand auf. »Es ist besser, ich habe auch keine Zeit mehr.«

»Wart' doch so lange, bis Mutter Bescheid bringt, wer draußen ist, es kommt ja niemand hier herein.«

Sie lauschten beide dem unverständlichen Stimmengemurmel auf dem Korridor; endlich kam Frau Dallmann wieder herein, aber nicht allein, hinter ihr auf der Schwelle stand ein kleiner, alter Herr und drängte sie fast in das Zimmer, das er mit ihr zugleich betrat.

»Es ist ja nur Herr Hellwig, Lene,« sagte die Aufwärterin in entschuldigendem Ton.

Herr Hellwig war der Leiter der Theaterschule, in der Helene ihre Studien gemacht hatte.

»Was bringen Sie uns Schönes, Herr Hellwig?« fragte sie, dem alten Herrn entgegengehend, den sie noch immer mit den Augen einer Schülerin betrachtete und nahm ihm den Hut aus der Hand.

»Daß Gott erbarm – für mich ist alles andere eher schön, als was mich herführt,« seufzte er, sich niederlassend. »Übrigens, da sind die Billetts für die Wohltätigkeitsvorstellung – Sie wollten ja wohl drei, Fräulein Helene – wenn nur überhaupt noch etwas daraus wird.« »Aber weshalb denn nicht? Ich denke, in acht Tagen soll es schon sein?«

»Soll es auch – soll es auch!« rief er eifrig. »Fast alle Billetts verkauft, alle Kräfte ausgezeichnet – da hat der Teufel die Hand im Spiele! – Paula Herbst schreibt mir, daß sie krank geworden sei und schickt mir eben die Rolle zurück.«

»Was, die dicke Paula krank?« jubelte Lene. »Das glaube ich nicht.«

»Ich auch nicht, aber was kann ich machen,« sagte der alte Herr resigniert. »Wenn die Damen einmal krank sein wollen, so sind sie es eben. Wenn ich nur jemand anders für die Rolle hätte, die Zeit ist so kurz. Wollen Sie nicht einspringen, Fräulein Lenchen?« Er sah ganz niedergedrückt aus und blickte das junge Mädchen überredend an.

»Ich würde es herzlich gern, aber wie kann ich denn, ich habe die ganze nächste Woche im Theater zu tun, – es ist rein unmöglich, Herr Hellwig.«

»Himmelbombenelement! Dann fällt mir am Ende der ganze Abend ins Wasser! Gott! Gott! Was mache ich denn nur!«

Er stützte stöhnend den Kopf in die Hand, durchdrungen und völlig zerknirscht von der Größe seines Unglücks.

»Wenn ich Ihnen nur helfen könnte!« sagte Lene nachdenklich, »aber ich weiß auch niemand. Elly ist in der Provinz engagiert, und Meta hat mit mir zu tun.«

Vergessen stand Martha noch immer in der Nähe des Fensters, wohin sie sich gleich bei Hellwigs Eintritt zurückgezogen hatte. Ihre Augen hafteten an dem feinen, kleinen, alten Gesicht mit Neugierde und Sehnsucht. Dieser Mann war also berufen, seinen Schülerinnen die Pforten der Kunst zu öffnen, er hatte ein Urteil über Wert und Unwert der Leistungen, er wäre imstande, ihren höchsten Wunsch zu erfüllen.

Im Eifer der Rede hatte der alte Herr gar nicht bemerkt, daß außer seiner früheren Schülerin und deren Mutter noch jemand im Zimmer anwesend war, ganz unverhofft begegneten seine Augen den großen, feuchten Sternen, die ihn aus dem Hintergrunde heraus so sehnsüchtig ansahen. Er stockte betroffen.

»Meine Freundin Martha!« sagte Lene, die junge Frau am Arm fassend und näher ziehend. »Ach, und Sie glauben gar nicht, was die für das Theater schwärmt!«

Herr Hellwig verbeugte sich artiger, wie sonst vor jungen Damen, es lag eine Atmosphäre um Martha, die ihn unbewußt dazu nötigte.

»Wollen Sie auch zur Bühne, mein Fräulein?« fragte er, mit prüfendem Blick die reizende Erscheinung studierend. »Ich dächte, das ließe sich machen bei Ihrer Jugend und Ihrem Aussehen!«

Martha schlug die Augen nieder. »Ach nein!« stammelte sie verwirrt, »ich bin verheiratet, mein Mann würde es nicht leiden. Aber meine Mutter war eine große Künstlerin!«

»So, so!« Er setzte sich neben sie und schaute sie, während er mit ihr sprach, immerfort an. »Also verheiratet – schade! – Ich bin überzeugt, Sie hätten Karriere gemacht. Da ist nun leider nichts mehr zu ändern – aber es will mir gerade so vorkommen, als pulsiere auch in Ihnen noch echtes Künstlerblut. Schade!«

Mit einem Schlag war Martha verwandelt, ihre Wangen glühten, die Augen blitzten.

»Es ist der Traum meines Lebens,« sagte sie tief atmend.

Herr Hellwig lächelte.

»Nun ja, Sie sehen ja nur die schillernde Oberfläche, mein Kind, wer auf dem Wege wandelt und es wirklich ernst mit seiner Kunst meint, dem fehlen weder die Dornen noch alle übrigen Enttäuschungen. Aber das echte Talent, das wahre Künstlerblut setzt sich darüber hinweg, nichts raubt ihm das ernste Streben und den nötigen, kühnen Mut.«

»Den hätte ich sicher!«

Martha legte beide Hände auf die Brust, als wolle sie ihr heißes Wünschen dort festhalten, in ihre Augen trat wieder das sehnsüchtige Verlangen, mit dem sie schon vorher diesen Hüter des Tempels der Kunst angesehen hatte; er war aufs neue betroffen von der Schönheit dieser lebenswarmen, bestrickenden jungen Frau.

»Wollen Sie mir nicht die Selma spielen?« fragte er plötzlich, dem impulsiven Gedanken gehorchend, der ihm durch den Kopf geschossen war. »Ich bin überzeugt, in acht Tagen sind Sie dazu imstande.« Martha sprang auf, glühende Röte schoß über ihr Gesicht, dann folgte tödliche Blässe.

»Ich?« sagte sie ganz tonlos vor Erregung.

»Sie müßten natürlich jeden Tag eine Stunde zu mir kommen, um mit mir zu üben,« begann Hellwig, dem die Sache immer mehr einleuchtete, je mehr er darüber nachdachte, »und außerdem ist auch wohl Fräulein Helene so gut, die Rolle mit Ihnen noch durchzuprobieren; lang ist sie ohnehin nicht.«

Er nahm einige Blätter aus seiner Rocktasche und hielt sie Martha entgegen. Mit zitternden Fingern, halb betäubt griff sie danach und sah nichts weiter, als eine Menge schwarzer Buchstaben, die regellos über das Papier liefen. Ein Taumel befiel sie vor Seligkeit.

Auftreten! Bejubelt, beklatscht werden, wie ihre Mutter ... Da griff es plötzlich eiskalt nach ihrem Herzen.

»Mein Mann wird es nicht erlauben,« sagte sie tonlos.

»Aber es ist ja eine Wohltätigkeitsvorstellung, zum Besten der Armen, und überdies in einem ganz engen, privaten Kreise,« redete Hellwig zu.

»Wenn ich dürfte – o, wenn ich dürfte!« murmelte Martha sehnsüchtig.

»Sie müssen das Ihrem Mann nur recht vernünftig vorstellen, verehrte Frau, zum Überfluß bin ich auch noch gern bereit, mich mit ihm persönlich in Beziehung zu setzen. Sie werden es sicher nicht bereuen.«

»Tu's doch, Martha,« rief Lene, die der Freundin die Lust dazu an den Augen absah.

»Fragen Sie ihn gar nicht, Marthchen,« wisperte Frau Dallmann in ihr Ohr. »Die Männer brauchen nicht alles zu wissen, und Sie sind ja so viel allein!«

»Über das Kostüm brauchen Sie sich auch keine Sorge zu machen, ein elegantes Hauskleid genügt.«

»Dann nimmst du mein Hellblauseidenes, wir haben ja die gleiche Gestalt,« überredete Lene und gab ihr einen kleinen freundschaftlichen Schubs.

Martha schwindelte. Ein heftiger Kampf entspann sich in ihrem Herzen. Sie wußte genau, daß Viktor ihre Bitte einfach abschlagen würde, da halfen weder Tränen, noch Bitten, noch Jammer. War sie denn aber eine Sklavin geworden durch den blitzenden Reif, den sie trug? All ihr Selbstbewußtsein wallte heftig empor bei dem Gedanken und unterstützte energisch die brennenden Wünsche, die sich kaum bändigen ließen.

Tat sie ein Unrecht, wenn sie ihnen einmal – nur einmal nachgab? Sie hatte deren Verwirklichung ja nicht gesucht, der Zufall warf sie ihr auf den Weg – und konnte nun wirklich jemand ernstlich von ihr verlangen, daß sie sich mit geschlossenen Augen abwandte?

Der Traum ihrer Jugend – da stand er ja – sie mußte ihn erfassen.

»Ich will – ich will!« sagte sie atemlos und drückte die Rolle an ihre Brust, als hätte sie Angst, es könne sie ihr jemand entreißen.

»Bravo! Bravo!« rief Hellwig entzückt. Jede ihrer weichen Bewegungen, die in schnellem Wechsel über das süße Kindergesicht hinjagenden Empfindungen, ließen ihn das Wagnis immer geringer erscheinen, das er mit ihr vorhatte. »Beginnen wir gleich, schöne Frau – hören Sie mir zu!« Und hingerissen von seinem Eifer begann er Martha vorzudeklamieren und in der nötigen Haltung im Zimmer hin- und herzugehen, um ihr einen Begriff von dem zu geben, was sie darzustellen hatte.

»Wir kriegen es! Wir kriegen es!« sagte endlich Herr Hellwig, sich die Schweißtropfen wischend, aber mit dem Brustton vollster Überzeugung. »Sie sind ein Talent, verehrte Frau, nach dieser ersten Probe zu schließen. Vielleicht besinnen Sie sich noch eines Besseren und werden später ganz eine der Unsern, bereuen würden Sie es nicht.

Behalten Sie also die Rolle und kommen Sie morgen um diese Zeit pünktlich zu mir.«

»Ich komme!« sagte Martha hochatmend, »ich komme bestimmt!«

»Siehst du, Martha, wer hätte das gedacht!« Lene drückte sich wieder in ihre Sofaecke und begann weiter Bonbons zu knabbern, »Laß dir's nur nicht leid werden, Angst brauchst du nicht zu haben, es wird schon gehen!«

»Mir ist gar nicht angst!« rief Martha, mit beiden Händen an den Schläfen herabstreichend und mit glänzenden Augen um sich sehend. »Warum sollte ich mich fürchten? Ich fühle ja, daß ich Talent habe, daß alles um mich her lebendig wird – daß ich bin, was ich sein soll – ach, Lene! Lene!«

Sie warf sich in den Sessel und preßte die Stirn fest gegen das Polster; für das, was sie sagen wollte, fand sie keine rechten Worte.

»Wenn Sie nun schlau sind,« sagte die Aufwärterin und ordnete mit ihren groben, roten Fingern etwas an Marthas goldenen Löckchen, »sagen Sie zu Hause kein Wort, am Sonnabend abend sind Sie dann bei uns eingeladen. Wissen Sie noch, Marthchen, wie wir es damals mit Ihrer Großmutter gemacht haben?« Sie lachten alle drei.

»So machen wir es diesmal auch mit Herrn Alten. Das wäre noch schöner, wenn er uns die Freude verdürbe! Und auf die Billetts geh' ich hin und Frau Habel und Guste Lüders, na, wir wollen schon klatschen, wenn Sie dastehen in Lenes Blauseidenem.«

»Hol' mal das Kleid, Mutter.«

Und nun beugten sich die drei verschiedenartigen Köpfe auf die schimmernde Seide, prüften und erwogen so lange und ernstlich, daß Martha viel zu spät nach Hause kam.

»Der Herr ist weggegangen mit Herrn Gregor,« meldete Pauline in jenem verschmitzten Ton, in dem Dienstboten ihrer Herrschaft gern unangenehme Mitteilungen zu machen pflegen. »Er war sehr böse!«

Martha nickte nur. Kopf und Herz waren ihr von ganz anderen Dingen voll, sie empfand das Alleinsein als Erlösung. Sie war nicht gleich gezwungen, Rechenschaft für ihr Ausbleiben zu geben, noch lag es in ihrer Hand, eine Lüge zu erfinden oder die Wahrheit zu sagen. Noch konnte sie sich mit dem Gedanken trösten, nichts Unrechtes getan zu haben, nichts, über das Viktor mit Recht erzürnt sein konnte – mit wahrer Genugtuung klammerte sie sich an den Gedanken und wußte doch mit absoluter Bestimmtheit schon jetzt, daß sie schweigen würde, auch wenn sie ihm Auge in Auge gegenüber stand, daß ihr die Lüge morgen so sicher war wie heute abend, und daß sie Viktor keine Gelegenheit geben würde, sich der Erfüllung ihres heiß ersehnten Wunsches entgegen zu stellen.

Sie ging im Wohnzimmer auf und ab und memorierte die Worte ihrer Rolle; der prickelnde Reiz, den das Theater immer für sie gehabt, und dem sie sich schon hingegeben hatte, wenn sie ihre eigenen Übungen abhielt, machte sie zu einer ganz anderen.

Und diese andere blieb sie auch für die nächsten Tage, so daß es Gregor auffiel. Nur ihr Körper bewegte sich mechanisch in der gewohnten Häuslichkeit und tat, was er zu tun gewohnt war, ihr Geist war nicht dabei. Wenn sie schweigend dasaß, irrte zuweilen ein süßes, verlorenes Lächeln um ihren Mund, oder eine plötzliche Röte färbte ihr Ohr und Wangen. Viktors gereizte Ungeduld nahm sie schweigend auf, als höre sie nichts, und er hatte wahrlich auch noch niemals so viel Ursache gehabt, sich zu beklagen, als gerade jetzt. Das Essen war fast ungenießbar, das Mädchen nachlässig und Martha wie im Traum, aber es mußte ein wonniger Traum sein, ihrem Aussehen nach zu urteilen. Zu der Zeit, in der sie ihre Einkäufe zu machen und bei Dallmanns vorzusprechen pflegte, beherrschte sie eine atemlose Ungeduld. Sie lief hin und her, sah auf die Uhr und dann ängstlich auf Viktor, ja, atmete erst befreit auf, sobald die Haustür hinter ihr zufiel.

Viktor achtete nicht darauf, auch seine herrschenden Interessen lagen außerhalb des Hauses, Gregor aber begann darüber nachzudenken.

Zu ihm kam sie täglich mit ihren Klagen und erwartete Hilfe, wie von einem Vater; natürlich fragte sie nicht, wo er es hernahm, das kümmerte sie nicht; er half, das genügte ihr. Und gerade durch diesen fast kindlichen Egoismus dem alten Manne gegenüber, wuchs sie ihm täglich mehr an das Herz. Er fühlte deutlich, wie sie allmählich der Inhalt seines Daseins wurde, wie sich seine Gedanken, seine Sorge nur um sie drehten.

Diesen Gedanken hing er nach, als er eines Abends nach Hause ging. Der alte Ahasver der Kneipen beeilte seinen Schritt, je näher er seinem Heim kam. Seitdem er bei Altens wohnte, hatte er sehr solide Gewohnheiten angenommen; kein Wunder, war es doch jetzt weder kalt noch einsam um ihn, wenn er sein bescheidenes Plätzchen am Herde des Freundes einnahm. Was er dafür gab, daran dachte er nie, wohl aber empfand er mit regen Sinnen die Wohltaten der Häuslichkeit. –

Es war recht unfreundliches Wetter, und, den Rockkragen emporgeschlagen, strebte Gregor eiligst vorwärts. Da plötzlich stockte sein Fuß – und er starrte mit weit geöffneten Augen auf eine Dame, die soeben im Innern einer Autodroschke verschwand.

Welch ein lebhaftes Spiel seiner Phantasie! Er hatte an Martha gedacht, nun sah er sie wohl überall? Im ersten Augenblick hätte er darauf geschworen, daß sie es gewesen, die an der Straßenecke jenes Gefährt bestiegen, das jetzt die Straße hinabratterte. Er mußte sich doch getäuscht haben; was hatte Martha denn allein und um diese Stunde fortzufahren?

Die Dame hatte zum Schutz gegen die Kälte einen Muff vor ihr Gesicht gehalten, dessen entsann er sich deutlich, er sah also nur ihre Gestalt, die schmiegsamen Bewegungen und einige krause, blonde Löckchen auf der dunklen Jacke, das war nicht genug, um jemand mit Sicherheit zu erkennen. Es war auch einfach unmöglich! Dallmanns wohnten ganz in der Nähe, und Marthas Geldmittel waren augenblicklich sehr beschränkt, er brachte ja erst wieder etwas nach Hause.

Aber ein nagendes Gefühl von Unruhe trieb ihn vorwärts, er lief fast.

Sie konnte es nicht gewesen sein. Sie durfte nicht! Da zog er schon die Glocke an der Altenschen Wohnung; es fiel ihm gar nicht ein, sich des Schlüssels zu bedienen, so aufgeregt war er.

Das Dienstmädchen kam.

»Frau Alten ist nicht zu Hause,« sagte sie, auf die Pakete blickend, die er trug.

»So – dann gehen Sie zu Dallmanns und rufen Sie sie her,« sagte er kurz; es war ihm ganz gleichgültig, was das Mädchen dachte, er mußte Gewißheit haben.

»»Bei Dallmanns ist sie nicht, die Alte war schon hier und fragte auch.«

»Wo ist der Herr?«

»Auch fort!« entgegnete Pauline fast pikiert, denn sie fand die Fragen des Hausgenossen mindestens überflüssig, da er ebensogut wie sie die Gewohnheiten des Hauses kannte.

Gregor nahm mit einem Seufzer den großen Schlapphut ab und trat in das leere Wohnzimmer.

Martha war also nicht zu Hause, das stand fest, auch nicht bei Dallmanns, wo konnte sie also sein?

Plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, wie schön das junge Weib eigentlich war, auf das er hier in Ängsten und Sorgen wartete, und wie müßig, begehrlich und verderbt eine gewisse Sorte seines eigenen Geschlechts.

Er wußte zu gut, daß es für eine Frau eine Berührung mit der Welt gibt, die ganz unmerklich zuerst die Unerfahrenheit, dann Zartgefühl und Anstand zerstört, ohne daß man äußerlich den Schaden gewahrt.

Er ging in sein kleines Zimmer hinüber und versuchte zu arbeiten, dies tatenlose Grübeln machte ihn fast toll, aber es gelang nichts.

Und dann kam Martha – er hörte sie die Haustür öffnen, ihren leichten Schritt. – Nein, so frisch und fröhlich konnte die Sünde nicht einher hüpfen! Mit vorgestrecktem Kopf lauschte er auf die helle Stimme, die mit dem Mädchen sprach – unmöglich!

Und nun klopfte sie an seine Tür.

»Kommen Sie doch hinüber, Gregor, wir wollen Abendbrot essen, ich habe einen Wolfshunger!«

Unmöglich! Sie hätte sonst sicher keinen Hunger gehabt! Und er schalt sich selbst einen mißtrauischen Toren und fühlte all seine Angst zerstieben wie Nebel vor der Sonne.

Als er eintrat, stand sie in ihrem Straßenkleid vor dem gedeckten Tisch und lachte ihm entgegen. Er prallte fast zurück – ganz fremd, ganz verändert schien sie ihm. Ihre Schönheit war ordentlich intensiv geworden seit den wenigen Stunden, in denen er sie nicht gesehen. Die Augen so tief und leuchtend, als hätten sie direkt in den Himmel gesehen, die Lippen feucht und glühend. Über ihrer ganzen Erscheinung lag es wie ein Rausch und machte sie geradezu verführerisch.

Er sah sie mißtrauisch an. Konnte es nicht doch Liebe sein, die sie so verwandelt hatte?

»Wo waren Sie, Martha?« fragte er noch grämlicher als gewöhnlich und setzte sich ihr gegenüber. All seine Sorge und Angst, all seine Zärtlichkeit für sie verkroch sich wieder in den tiefsten Winkel seines Herzens. Er war immer nur theoretisch ein Prediger in der Wüste, im Leben wollte ihm meist nicht das kleinste Wörtchen über die Lippen, das sich gut, liebevoll und sorgsam anhörte. »Seit einer kleinen Ewigkeit warte ich schon.«

Sie lachte ihm entgegen. Alles an ihr atmete Feuer, Leben und Glückseligkeit.

»So hätten Sie doch eher essen sollen.«

»Es handelt sich nicht ums Essen; ich will wissen, wo Sie gewesen sind.«

S»e strich mit beiden Händen die Haare aus den Schläfen.

»Ich?« wiederholte sie fast abwesend und starrte in das Lampenlicht, als sähe sie ein Zauberland dort vor sich. »Ich war ein paar Stunden einmal glücklich – ganz glücklich! Es ist unbegreiflich, Gregor, wie viel Glück das Leben doch bergen kann!«

»Meinen Sie?« fragte er skeptisch. »Nun ja, es kommt nur darauf an, wie unsere Grundsätze sich mit dem Glück zu stellen vermögen.«

Martha sah erstaunt auf, dann lachte sie.

»O, Grundsätze! Ich habe keine! – Mir wäre das Glück die Hauptsache.«

»Martha,« sagte er streng, »eine anständige Frau darf dergleichen nicht aussprechen.«

Sie schnippte mit den Fingern ein Brotkrümchen von der Bluse.

»Sie sind ja heut scheußlicher Laune, Gregor. Ach, ich merke schon, mit diesem Hause will das Glück nichts zu tun haben, sogar die Erinnerung läuft davon.«

Sie lehnte sich in die Sofaecke und schloß die Augen, von dem dunklen Hintergrund hob sich der leuchtende Kopf herrlich ab. Sie sah dabei aus, als lebe sie nur körperlich in der Gegenwart, alles Geistige völlig mit anderem ausgefüllt. »Sind Sie schon satt?« fragte Gregor. »Ich dachte, Sie wären hungrig.«

»Das ist vorüber.«

»Nun, dann können Sie mir jetzt vielleicht erzählen, wohin Sie heut gegen abend gefahren sind,« sagte er, sie starr anblickend. »Sie werden begreifen, daß ich neugierig darauf bin.«

Plötzlich aufspringend, trat sie dicht vor ihn.

»Bin ich Ihnen Rechenschaft schuldig?« fragte sie mit sprühenden Blicken und bis in die Lippen erblassend. Es lag dieselbe starre Feindseligkeit in ihrem Ton, die sie gegen die Großmutter und dann auch gegen Viktor zu kehren pflegte.

Er senkte den Kopf auf die Brust. Hatte sie nicht recht, ihn der Anmaßung zu zeihen? Was war er ihr denn? Nichts – gar nichts! Ein Fremder!

»Nein,« sagte er resigniert.

Der Ton traf sie bis ins Innerste. Sie warf sich neben ihm auf die Knie und griff nach seinen Händen, in dem großäugigen, bildschönen Kindergesicht stand eine ganze Welt von Bitten.

»Gregor, lieber, alter Freund! Fragen Sie mich nicht – noch nicht! Gönnen Sie mir die paar kurzen Tage, in denen ich mich glücklich träumen will. Ich bin so furchtsam wie das Kind im Märchen, ein Wort, und das Glück fliegt mir vielleicht auf ewig fort, ehe ich es nur einmal – ein einziges Mal mit Bewußtsein fassen kann! Einmal glücklich gewesen zu sein – ist das zuviel verlangt? Gönnen Sie es mir, o gönnen Sie es mir und stören Sie mir's nicht!«

Er befreite sich schnell aus ihren Händen und umfaßte nun seinerseits die schlanken, weißen Handgelenke mit festem Griff, dann sah er ihr starr in die schimmernden Augen.

»Also ein Geheimnis, Martha?«

»Ja, ein Geheimnis.« »Und Sie verlangen blindes Vertrauen?«

»Als ob es eine Weihnachtsüberraschung sein soll,« nickte sie ernsthaft.

»Nun denn, in Gottes Namen, ich glaube Ihnen, so sonderbar mich auch alles berührt,« sagte er aufstehend.

Da sprang sie auf und schlang, in jäher Aufwallung sich an ihn schmiegend, ihre Arme um seinen Hals.

»Wollen Sie schweigen?« flüsterte sie in sein Ohr.

Er schwieg betreten, seine Gewissenhaftigkeit sträubte sich doch gegen sein weichmütiges Herz.

»Niemals ein Wort!« bettelte sie weiter, und die frischen roten Lippen streiften seine unrasierte Wange.

Gregor begriff in diesem Augenblick zum erstenmal die Ohnmacht des Mannes dem Weibe gegenüber. Er begriff, daß die besten Grundsätze, der ehrlichste Charakter der Welt in Versuchung geraten und unterliegen könne um der glänzenden Augen und roten Lippen eines Weibes willen. Er begriff und schüttelte den Kopf dazu. –


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