Hedwig Schobert
Künstlerblut
Hedwig Schobert

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II.

»Marthchen! Pst, Marthchen!«

Frau Dallmann, ein rotes gestricktes Umschlagetuch um die Schultern, stieß leise die Küchentür auf und winkte der am Herd Beschäftigten. »Haben Sie ein bißchen Zeit? Kommen Sie einen Augenblick zu uns herüber.« »Das Wasser kocht gleich, ich muß Tee machen,« sagte Martha mit einem Blick auf die Zimmertür ihrer Großmutter. »Aber meinetwegen, Frau Dallmann! Mehr als zanken kann keiner.«

Die Aufwärterin lachte und schüttelte den Kopf.

»Wer's gewöhnt ist, fragt nicht mehr danach!« meinte sie und öffnete die Tür zu ihrer Wohnung, in der ihre Tochter, eine hübsche Brünette in Marthas Alter, auf dem altmodischen Sofa lag und in einem Heft des neuesten Kolportageromans studierte. –

Mochte Frau von Nordheim im allgemeinen recht mit ihrem Urteil über ihre Flurnachbaren haben, eines blieb wahr, sie legten ihrer Enkelin gegenüber eine seltsame Gutmütigkeit an den Tag. Nie machte Frau Dallmann irgend einen Unterschied zwischen ihrer eigenen Tochter und dem schönen Aristokratenkind, dessen Umgang ihr um so lieber zu sein schien, je unnahbarer trotz aller Freundlichkeit die alte Dame war.

»Na, Mutter,« sagte Lene sich aufrichtend und das wirre Haar zur Seite streichend. »Mach zu, was ist's?«

Aus ihrem schmächtigen Geldbeutel zog Frau Dallmann zwei farbige Papierstreifen und legte sie triumphierend auf den Tisch.

»Das hat mir mein Fräulein gegeben!« Sie war augenscheinlich sehr stolz auf die Billetts. »Morgen ist ein großes Kostümfest, und da sollt ihr hingehen und zuschauen.«

Einen Augenblick sahen sich die beiden Mädchen mit glänzenden Augen an, dann kamen Martha die Tränen.

»Darf ich denn? Darf ich denn?!« jammerte sie, »Großmutter bände mich eher an ihren Stuhl, ehe sie das erlaubte.«

»Ja, sie gönnt Ihnen rein nichts, Marthchen,« meinte die Dallmann mitleidig. »Gerade so, als wenn Sie gar nicht ihr eigenes Fleisch und Blut wären! Aber ich hab's mir schon ausspekuliert, wie wir es machen, daß Sie doch hinkommen. Wenn die Alte schläft, kommen Sie auf Strümpfen zu uns herüber, und dann geht es heidi!«

»Und wenn sie ruft?« warf Martha zweifelnd ein. Die respektwidrige Art, in der man hier von ihrer Großmutter sprach, berührte sie nicht, sie hatten gar keine Gemeinsamkeit im Fühlen und Denken.

»Ach was! Jugend hat festen Schlaf! Was will sie denn machen, wenn Sie nicht hören? Kommen Sie nur mit, Marthchen, so gut wird es Ihnen nicht wieder geboten.« Sie brachte die Billetts in Sicherheit. »Es soll ja ganz großartig werden – und mein Fräulein geht als Türkin. Na, hin müßt ihr, Kinder!«

Sie saßen zusammen und besprachen ihren Plan. Martha hatte noch Skrupel, aber Frau Dallmann wußte sie willfährig zu machen.

»Das ist kein Unrecht, wenn Sie der Alten heimlich ausrücken, wer's zu streng machen will, macht es zuletzt nur schlecht, so sage ich, und zu wissen braucht es auch niemand, keine Menschenseele, hören Sie, Kind?«

»Ich sage es gewiß nicht!« lachte Martha. »Ach, liebste Frau Dallmann, wenn Sie doch meine Mutter wären!«

Die Aufwärterin lachte geschmeichelt. »Ich wollt's schon anders machen!« sagte sie gutmütig und gab Martha einen kleinen Stoß in die Seite.

»Martha! Martha!« rief die Blinde inzwischen wiederholt. Der Teekessel in der Küche brodelte über, Frau von Nordheim hörte das Zischen, aber sie war machtlos mit ihren gelähmten Gliedern, ihrem verlorenen Augenlicht.

Eine Stunde mochte vergangen sein, als sich das Mädchen ihrer Pflichten erinnerte. Mit beunruhigtem Gewissen schlich sie zurück, aber so erhoben bei der Aussicht auf das kommende Vergnügen, daß sie schweigend, wenn auch verstockten Sinnes, die Vorwürfe der Großmutter mit anhörte.

»Von allen Schrecken der Erde ist das schrecklichste, hilflos zu sein,« sagte die Blinde bitter, »besonders, wenn diejenige, die uns verpflichtet ist, keine Pflichten anerkennt. Ich verbiete dir von heut ab, zu Dallmanns zu gehen.«

»Das kannst du nicht, Großmutter!« brach es da zornig aus dieser hervor, »Lene ist meine Freundin, ich gehe doch!«

Zum erstenmal fand Frau von Nordheim offene Widersetzlichkeit bei ihrer Enkelin.

»Das Blut deiner Mutter – es regt sich!« warf sie ihr verächtlich entgegen. »Geh denn! gehe zu denen, zu denen du dich hingezogen fühlst; ich habe keinen Teil an dir!« – Und Martha ging. Sie hatte denselben Abend noch ihren Sieg triumphierend bei Dallmanns gemeldet, und kein einziger Gedanke galt der hilflos zurückgebliebenen alten Frau, als sie am nächsten Abend mit den Schuhen in der Hand über den kalten Flur schlich.

Eine halbe Stunde später gingen sie zu dreien der innern Stadt zu, denn wenn auch nur die beiden Mädchen Einlaß bekamen, Frau Dallmann begleitete sie bis an die Pforten des großen Hotels, in dem das Fest stattfand.

»War das nicht Martha?« rief Viktor plötzlich, auf der Straße stehen bleibend und Gregor hart am Arm fassend.

»Du siehst Martha wohl im Traum und im Wachen. Wie soll sie um diese Zeit hierherkommen?« fragte dieser spöttisch.

»Darin hast du recht, Hugo, ich sehe sie im Wachen und im Traum,« gab Viktor seufzend zu, »aber woher weißt du das?«

»Weil ich nicht blind bin.«

»Dann laß mich dir noch mehr anvertrauen, ich ...«

»Zum Beichtvater habe ich nie getaugt,« sagte er bedauernd, »es ist sehr schade! Man bekommt da den ausgesuchtesten Unsinn zu hören, eine wahre Blütenlese der Narrheit und des Aberwitzes, aber die Leute hatten kein rechtes Vertrauen zu mir.«

»Wohl möglich – doch ich – ich habe es, Gregor. Darum verhehle ich dir nicht, daß ich Martha liebe –« »Auf einmal?«

»Ja! siehst du, das ist das Wunderbare dabei, ich kenne sie so lange schon, und doch ist mir alles neu an ihr und mir! Wie konnte ich nur so lange blind sein, und welcher Blitz hat mir die Augen geöffnet?«

»Blitze sind meist schädliche Blender,« sagte Gregor, zu einem Café hinüberlenkend. »Übrigens hast du in einem Dinge recht! Ein Dichter braucht Liebe zu seinem Schaffen. In der Jugend die Liebe der Weiber, im Alter die Liebe seiner Leser. Einstweilen bist du noch jung!«

»Du tust,« fuhr Viktor empört auf, »als handle es sich um eine leichtfertige Liebelei; daran denke ich aber nicht. Ich liebe Martha und diese Liebe ist mir heilig.«

»Betrachte sie, wie du willst, ich störe dich nicht darin. Mir hat es immer geschienen, sie steht mit den Füßen im Schmutz, wenn auch ihre Stirn die Sterne berühren mag.« – –

Dicht aneinander gedrückt, saßen die beiden Mädchen oben in der kleinen Loge und schauten mit weit aufgerissenen Augen in die Wunder hinab, die sich unten im Saale boten.

Die gewaltigen Kronleuchter, fast in gleicher Höhe mit ihnen, beleuchteten ein lebhaftes, farbenreiches Bild, einen orientalischen Bazar, mit seinem Gewimmel von Türken, Persern, Armeniern und Chinesen. Auf den wundersamsten Trachten blitzende Steine, funkelnde Goldmünzen um dunkle Locken und entblößte Arme.

»Dort! – Dort unten möchte ich sein – mitten darunter!« flüsterte Martha mit erstickter Stimme und preßte Lenes Hand. Die Tochter aus dem Volk nahm die Suche ruhiger.

»Das wäre ganz schön!« meinte sie, aber ohne die Begehrlichkeit, die aus Marthas Augen leuchtete. »Ach, wie es hier warm ist!«

Hinter ihnen klangen Schritte, Stimmen ... »Nun wollen wir uns das Ding einmal aus der Vogelperspektive ansehen,« sagte jemand noch jenseits der Logentür, »ich wette, Breskow, es macht sich schöner, als mitten darin.«

Zwei Herren traten ein, in Pilgerkutten, die sie geöffnet hatten, um sich unter ihnen im tadellosen Ballanzug zu präsentieren.

»Herrgott, die Hitze!«

Derjenige, der es ausrief, kniff gleichzeitig sein Monokel ein und betrachtete die jungen Mädchen, die verlegen die Köpfe gesenkt hatten. Auf französisch machte er seinem Begleiter eine Bemerkung.

Es war eine hagere, elegante Erscheinung aus der Gesellschaft, über die Mitte des Lebens hinaus, sein Benehmen jenes undefinierbare Gehaben des Weltmannes. Ohne weiteres zog er einen Stuhl heran, setzte sich neben Martha und begann ein Gespräch. Blutrot und schüchtern antwortete sie.

»O, wie das schön ist!« seufzte sie endlich. »Wie glücklich müssen alle diese Menschen sein!«

»Glücklich?« Er lachte über ihre naive Bewunderung äußeren Scheines. »Vielleicht denkt jeder dasselbe von Ihnen, wenn er Ihre Meinung hört.«

»Ich sollte glücklich sein?« fragte sie verwundert, und das großäugige Kindergesicht sah ihn zum erstenmal voll an. »Wie ist das möglich? Wer bin ich denn?«

»Ja, wer sind Sie?« fragte er, sich zu ihr herabbeugend. »Ich weiß es nicht – ich weiß nur, daß Sie – sehr – sehr schön sind!«

Ein neues, fremdes Gefühl durchrieselte Martha, zum erstenmal sagte ein Mann ihr eine Schmeichelei. Stolz ließ ihr Herz klopfen, das Weib in ihr erwachte. –

»Sie sind schön – sehr schön!« Das Wort nahm sie mit sich, als sie mit Lene aus der heißen Luft des Ballsaales in die kalte, klare Winternacht hinaustrat. Schön! – Ja, mit vollem Bewußtsein wollte sie es von jetzt ab sein. Ihr Sinn hatte schon immer nach Putz und Tand gestanden, und nur die knappen Mittel der Großmutter ihren heimlichen Wünschen Zwang angetan. Jetzt wollte sie das Doppelte arbeiten, aber für sich, sie wollte nähen und sticheln Nächte lang, aber für ihren Putz. Sie schämte sich jetzt, daß sie kein besseres Kleid angehabt, und doch war ihr, als trüge sie ein köstliches Geschenk heute abend mit nach Hause.

»Warum sprichst du gar nicht?« fragte Lene, als sie durch die menschenleeren Straßen über den knisternden Schnee gingen. »Bist du müde?«

»Nein! ach nein!« seufzte Martha.

Sie und müde! Der Kopf brannte ihr, die Gedanken jagten sich wie aufgescheuchte Bienenschwärme in ihrem Gehirn, aber sie hätte nicht sagen können, welch' rauschartiges Gefühl sich ihrer so plötzlich bemächtigt hatte.

Da blieb Martha plötzlich stehen, ihre Brust arbeitete heftig, ein wilder bacchantischer Zug lag über der noch völlig weltfremden Mädchengestalt.

»Lene!« rief sie und packte den Arm ihrer Gefährtin fest, »weißt du, was ich will? Eine von denen werden, die da unten im Saal tanzten und sich freuten. Ich will – ich will!«

»Dann mußt du zum Theater gehn,« riet Lene, denn seitdem Frau Dallmann, bei einer Schauspielerin bedienstet, dort den Luxus und das Wohlleben sah, erschien ihr das Theater das einzig erstrebenswerte auf Erden. Daß dazu etwas mehr gehöre als schöne Kleider und langes Schlafen, ahnte sie kaum. »Mutter will, daß ich auch Schauspieler lerne!«

Zum Theater! – Martha seufzte, was würde die Großmutter sagen, wenn sie ihr mit solchen Ideen käme? Vielleicht half ihr Gregor! – Jedenfalls wollte sie ihn für ihre Pläne zu gewinnen suchen. – Unhörbar wie Diebe schlichen sie die Treppe hinauf, mit klopfendem Herzen berührte Martha die nur angelehnte Küchentür. Unter dem leichten Druck öffnete sie sich geräuschlos; eine Entdeckung hatte also nicht stattgefunden. Befreiten Herzens schlüpfte sie hinein. Da stand alles noch wie sie es verlassen, alles wie sonst! Nur kam es ihr so eigentümlich still vor, als hielten alle Gegenstände ringsum den Atem an, um sie nicht zu stören, oder als zürnten sie ihr wegen der nächtlichen Flucht.

Sie nahm den Spiegel und betrachtete sich genau. Also schön war sie! Die blonden Löckchen zog sie tiefer in die Stirn, während sie vor Frost und der ungewohnten Erregung zu zittern begann.

Sie löschte die Lampe und kroch in das Bett, die Uhr schlug gerade drei. Aber anstatt einzuschlafen begann nun die Phantasie erst recht ein tolles Spiel. Die Tanzmusik klang ihr in den Ohren, das erregte Blut, der Wein, den ihnen schließlich die Herren aufgenötigt, klopfte in ihren Pulsen.

Ihr wurde heiß und kalt, als sie plötzlich mit dem Kopf in die Höhe fuhr. Die Großmutter hatte gerufen! Oder war es doch nur Täuschung? Atemraubend legte sich ihr wieder die nächtliche Stille auf das Herz, es kam ihr vor, als läge sie lebendig im Grabe. Frostschauernd schlüpfte sie aus dem Bett und lief bloßfüßig über die kalten Fliesen bis zur Tür der Großmutter; nur ihr altes, schwarzes Tuch raffte sie auf und hüllte sich ganz darin ein. Leise drückte sie die Klinke nieder und trat ein.

Das Zimmer war ganz angefüllt mit bläulich hellem Mondlicht; es kroch an den alten Möbeln entlang bis in die fernsten Ecken; von den Rändern des blinden Spiegels gingen weiße Lichter aus und fielen über das Bett der alten Frau von Nordheim, die friedlich darin schlummerte. Sie lag ganz still, beide Hände auf der Decke gefaltet, den Kopf etwas zur Seite, so daß gerade der Schatten des Nachttischchens über ihr Gesicht fiel; nur das Kinn lag schon im Hellen. Martha ging näher. Ihr war so unheimlich zumut, allein in der silbern schimmernden Mondnacht, daß sie fast wünschte, die Großmutter möchte erwachen.

Frau von Nordheim regte sich nicht.

Nun rückte das Licht weiter, über dem Gesicht lag es nicht mehr wie ein schwarzer Schatten, sondern wie lichte Dämmerung, man unterschied die einzelnen Züge deutlich, und in der bläulichen Mondhelle sahen sie fahl und eingefallen aus. Martha beugte sich über die Schläferin.

Wie Eiseskälte drang es ihr aus dem bewegungslosen Körper entgegen, ein plötzliches Entsetzen, namenlos wie ihr ganzes Empfinden heut abend, ließ ihr Blut erstarren; zwischen den Lidern der alten Frau schien sich ein Blick hervorzudrängen, so unheimlich und gläsern, daß ihre Zähne zusammen schlugen. Sie konnte es nicht länger ertragen! Lieber Entdeckung, lieber körperliche Züchtigung als dieses starre Schweigen ringsum.

»Großmutter!« flüsterte sie und wunderte sich, daß ihre Stimme so erstickt und tonlos klang.

Nichts regte sich, kalte Schauer fuhren über sie hin.

»Großmutter!« Sie berührte, außer sich vor Angst, die gefalteten Hände auf der Bettdecke und fuhr mit einem Schrei zurück. Über den Mond zog eine Wolke. Und nun schien es dem entsetzten Mädchen, als rege es sich gespenstisch überall, als hebe die Tote die Arme, um nach ihr zu greifen, als wehe ein Grabesschauer über ihre Glieder.

Außer sich, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, stürzte Martha vorwärts auf die Tür zu, hinter der Viktors Zimmer lag, sie schlug mit den Fäusten gegen das Holz, das Schreien, das ihr der erste Augenblick des Schreckens eingegeben, wurde zu einem angstvollen Wimmern, und als Alten, aus tiefem Schlaf aufgeschreckt, endlich den Riegel geöffnet hatte, fand er Martha bewußtlos an der Schwelle hingestreckt, eingewickelt in das schwarze Tuch, umflutet von den gelösten goldnen Haaren.

Als er sie aufhob, schlang sie, ihrer Sinne noch nicht ganz mächtig, beide Arme wie Klammern um seinen Hals und preßte sich fest an ihn.

»Sie ist tot!« ächzte sie. »Tot!«

»Mein armes Kind, meine arme kleine Martha! Wie Sie erschrocken sind!« sagte er, der Zitternden das Haar streichelnd. »Setzen Sie sich hier her, ich werde einmal nachsehn!« Er drückte sie in die Sofaecke, zog das Tuch fester um sie und machte Miene ihr eine Decke von seinem Bett her zu holen. Aber mit eiserner Kraft hielt sie ihn fest.

»Gehen Sie nicht fort! – Gehen Sie nicht fort, – ich sterbe vor Angst!« murmelte sie zähneklappernd.

Ein leidenschaftliches Mitleid mit der Entsetzten überfiel ihn. Wenn Frau von Nordheim wirklich tot war, konnte er ihr doch nichts mehr nützen, dachte er, während Marthas fiebernde Angst Schonung verlangte.

Er setzte sich zu ihr auf das Sofa. Sie drückte sich fest an seinen Arm, er hörte den Schlag ihres Herzens, spürte das Leben, das unausgesetzt durch ihren Körper rann. Ihm wurde beklommen.

»Ich bitte Sie, Martha, werden Sie doch nur ruhig!« begann er nach einer Pause und fühlte selbst, daß ihm allmählich die Ruhe abhanden kam. »Und lassen Sie mich doch gehen, daß ich Ihnen etwas Wärmendes hole.«

»Ich will nicht! – Ich will nicht! – Ich fürchte mich!« wiederholte sie und hielt ihn nur fester.

Nach einer kleinen Weile machte er sich mit einem jähen Ruck frei.

»Es ist nötig, daß ich nach Ihrer Großmutter sehe!« sagte er fast rauh, »ich gehe ja nicht weiter!«

Stumm stand sie auch auf, und ihn festhaltend ging sie mit, das schwarze Tuch schleppte hinter ihr her, die nackten Füße leuchteten auf der dunklen Diele. Der Mondschein war fort, aber noch füllte dämmerige Helle das Sterbezimmer. Viktor blickte nur nach dem Bett hin, in dem die Tote lag, er fürchtete sich wie vor einer tödlichen Gefahr auf Martha zu blicken, deren körperliche Nähe er unausgesetzt fühlte. Es schien fast, als lächle Frau von Nordheim ihnen entgegen.

»Wie friedlich Ihre Großmutter zur Ruhe eingegangen ist,« sagte er ergriffen. »Wollte Gott, es ginge uns einst ebenso.«

»Ich will nicht sterben, ich will leben – leben!« murmelte Martha und drückte ihren gesenkten Kopf gegen seinen Arm; eine schwerfällige Mattigkeit hatte sie plötzlich überwältigt.

Er blickte zu ihr nieder, endlich mußte er es doch. Wie ein goldner Schleier schien ihm ihr Haar, die nackten Füße standen noch immer auf dem kalten Boden.

Da hob er sie ohne weiteres auf und trug sie in sein Zimmer zurück, weil es ihm dort am wärmsten dünkte.

»Seien Sie vernünftig, Martha,« begann er, als er sie in die Sofaecke gleiten ließ, »überwinden Sie diesen Schrecken und versuchen Sie zu schlafen, Ihrer Großmutter kann keiner mehr helfen. – Bleiben Sie hier auf dem Sofa – ich werde die Nacht bei Frau von Nordheim wachen!«

Trotz der bleiernen Ermattung, die sie befallen, hob sie doch die schweren Lider und packte aufs neue seine Hand.

»Gehen Sie nicht« – murmelte sie schlaftrunken – »bleiben Sie bei mir!« – Und dann sank ihr Kopf auf die Seitenlehne, und tiefe, ruhige Atemzüge zeigten ihm bald, daß sie den besten Tröster der Jugend – den Schlaf – gefunden hatte.

Seine Hand hielt sie noch immer umklammert; er fürchtete sie zu wecken, wenn er sie jetzt schon aus ihren Fingern befreite, und so kniete er vor dem Sofa und sah auf das schöne Gesicht, das er mit jeder Fiber seines Seins zu lieben glaubte.

Ihre Hilflosigkeit, die Angst, die sie drängte, sich an ihn zu klammern, hatte sie ihm auf einmal so nahe gebracht; es gab nichts mehr, was trennend zwischen ihnen stand. Sie mußte sein werden mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie sich vorhin um seinen Hals gehängt hatte.

Sein! – Seine Geliebte! – Seine Frau! – Die Mutter seiner Kinder, wie er es einst von der Zukunft erträumt hatte. Sein Glück, alles – verlangte er von diesem süßen, kindlichen Geschöpf, das da in tiefem Schlaf vor ihm lag.

Sein Empfinden war rein, noch nicht angefressen durch das leichte Leben der Großstadt und deshalb war seine Liebe für Martha, durchsetzt mit lebhafter Phantasie, genährt durch ihre Schönheit, ebenso heiß und leidenschaftlich wie groß und edel, aber – auch gefährlich für diejenige, der sie galt. Er gab viel, aber er verlangte auch für sich dasselbe Maß.

Auf ihren sonst so rosigen Wangen lag noch die Blässe des Schreckens, über die halbgeöffneten Lippen glitt ein zitternder Seufzer. Da beugte er sich nieder und küßte sie leise auf den Mund.

Ihre Lippen waren kühl und blaß, aber wie ein Feuerstrom rann es ihm durch die Adern; er sprang auf, stellte sich an das Fenster und beobachtete den Himmel und die schwarze Masse des gegenüberliegenden Hauses.

Aber wohin er auch sah, überall war Marthas Gesicht vor ihm, Zug um Zug, immer aufs neue empfand er den wonnigen Gedanken: wie schön ist sie! Er hatte schließlich für alles andere das Bewußtsein verloren, vor ihm lag sie ruhig und bewegungslos, das weiße Kinn auf dem schwarzen Tuch, die langen Wimpern auf den Wangen und atmete friedlich.

Er hatte gewiß nicht im Stehen geschlafen, aber er fuhr doch erschrocken zusammen, als die Uhr in Frau von Nordheims Zimmer sieben schlug. Um ihn wurde es Tag. Ein bleicher Schein drang durch die Fenster, in undeutlichem Licht schienen die Möbel ringsum zu schwimmen, dann wurde es Heller, und deutlicher tauchten alle Umrisse auf.

Martha hatte eine Bewegung gemacht, mit klopfenden, Herzen sah er sich um. Sie saß aufrecht und betrachtete mit erschrockenen Augen ihre Lage und die warmen Hüllen, in denen sie eingebettet lag; augenscheinlich war sie noch nicht Herr ihrer Erinnerungen. Als sie Viktor auf sich zukommen sah, fiel ihr erst das Geschehene ein.

»Herr Alten – – mein Gott!« – sagte sie, und eine Blutwelle stieg ihr plötzlich in das Gesicht.

»Martha! – Martha!« er nahm ihre Hände, zog sie leidenschaftlich an seine Lippen, »sag' mir das Eine – das Eine... hast du mich lieb – willst du meine Frau werden?«

Sie sah ihn fassungslos an, im ersten Augenblick begriff sie nicht. Sie hatte das Gefühl, als müsse sie sich die Augen reiben, ob sie auch nicht träume, ob das wirklich Herr Alten war – der berühmte Mann – wie ihn Herr Gregor nannte, der da vor ihr auf den Knien lag und sie ansah. – So hatte sie noch niemand angesehen, so voll leidenschaftlicher Zärtlichkeit und Verehrung. – Seine Frau! – Das Wort schlug wohl an ihr Ohr, sie verstand auch seinen Sinn, aber wie konnte das sechzehnjährige Kind die Tragweite ermessen, die es für sie hatte.

»Martha!« flehte er, »sprich doch ein Wort – willst du mich glücklich machen, dann sage Ja!«

Ihr kurzes Zögern hatte ihm den Maßstab für die Macht seines Empfindens gegeben, es überlief ihn eiseskalt während des kaum sekundenlangen Schweigens. Und ihr fiel ein, daß die Großmutter tot war, daß sie nun allein und arm in der Welt stand, daß Viktor viel Geld verdienen, und sie niemals mehr Mangel leiden würde, – das alles nicht in kaltblütiger Überlegung, sondern impulsiv, mehr geahnt wie bewußt, – daß es jemand gab, der nun wieder zu ihr gehörte; und endlich lag etwas in seinen Augen, sprach aus dem Ton seiner Stimme, das sie warm und weich berührte, wie noch nichts im Leben. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, und sagte: »Ja!« wie er verlangte.


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