Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Die Überschätzung der Musik

Cave musicam.
Nietzsche.

Die eigentümliche Stellung der Musik unter den Äußerungen des menschlichen Geistes ist stets erkannt worden. Schopenhauer ordnet sie allen anderen Künsten über, da sie, unabhängig von den menschlichen Vorstellungen, eine unmittelbare Verkörperung des Weltwillens, reine Idee, sei. Dieser ideelle Charakter der Musik ist es, der ihren Wert zum Problem macht. Wer platonisch über oder hinter dem Leben eine realere Ideenwelt annimmt, von der unsere Empfindungen nur einen blassen Abglanz geben (den Schleier der Maja), wird in der Musik die höchst mögliche Erhebung des Menschen über die Schranken der Individualität hinaus erkennen. Wem aber die »Ideen« nichts als eine logisch gewonnene Abstraktion des allein wertvollen Lebendigen sind, nur Zeichen zur besseren geistigen Verständigung, dem wird die Musik mehr ein sanftes, träumerisches Ausruhen der Seele sein. Er wird sie vielleicht der Liebe vergleichen, die im Augenblick so süß erscheint, daß man für nichts lieber die ganze Welt hingäbe, und die dennoch zu wenig ist, als daß ein Mann auf sie allein ein Leben bauen könnte. Ihn drängt es nach Taten und Werken. Er wird daher vielmehr in den sich an die Vorstellung wendenden Künsten, besonders in der Dichtung, die höchste Vermählung von Geistigem und Stofflichem erblicken und in der Musik neben ihren Wonnen die Versuchungen zu dumpfem Einschlafen und Erlahmen fürchten. Der Architektur kann die Musik nur oberflächlich verglichen werden. Wenn sie auch wie diese ungegenständlich ist, so beruht die Architektur doch auf den uns aus der Erscheinungswelt bekannten Kräften der Schwere, des Tragens, der Kohäsion; und dadurch, daß sie eine Nutzkunst ist, gewinnt sie wieder an Beziehungen zu den Tatsachen, was sie durch ihre Gegenstandslosigkeit verliert. Das einzige Gebiet menschlicher Betätigung, das mit der Musik vieles gemeinsam hat, ist ihr wissenschaftliches Gegenstück: die Mathematik. Beide verlassen die Ebene der Vorstellungswelt, die eine, um sich in die zauberischsten und dunkelsten Schächte der Kunst zu versenken, die andere, um sich zu der eisigsten Klarheit zu erheben, die der Wissenschaft möglich ist.

Das musikalische wie das mathematische Talent finden sich häufig in Menschen, deren Geist sonst unter dem Durchschnitt steht, andererseits gibt es stark veranlagte Naturen, die zu allen Gebieten Zugänge haben, die sich aber selbst in der Musik für Barbaren, in der Mathematik für Dummköpfe erklären müssen. Dazu kommt dies: alle höheren menschlichen Beschäftigungen bereichern die ganze Persönlichkeit und machen sie wertvoller für das Leben überhaupt. Bei musikalischer und mathematischer Beschäftigung ist eine solche Wirkung nicht zu spüren, ja die Frage erhebt sich, ob diese beiden ideellen Tätigkeiten nicht gar vom Mark, vom Stoff des Lebens selber zehren und dieses bisweilen unterhöhlen und verarmen lassen. Zum mindesten gestatten beide Beschäftigungen eine Flucht aus dem Leben der Vorstellungen. Man hört auch, daß das Aufgehen in Musik und Mathematik die Zeugungsfähigkeit ungünstig beeinflußt.

Es gibt noch etwas, womit man die Musik vergleichen kann: die Einsamkeit. Die Einsamkeit ist zunächst nichts anderes als die Aufhebung des Kulturlebens, das sich auf Beziehungen mit Menschen gründet, und dessen Bedeutung auf dem Sichtbarwerden innerer Werte beruht. Der Einsame lebt sich selbst und verzichtet auf die Mitteilung seiner Natur. Wenn sich einer noch durch Werke mitteilen mag, ist er kein ganz Einsamer. Wer sich dauernd der Einsamkeit ergibt, scheidet aus der Kultur aus, hat seine Bedeutung mehr für sie, mag er nun über oder unter ihr stehen, andererseits ist das zeitweise erwählte Fürsichsein ein heilsames Ausruhen für die Ermattungen des Kulturlebens und stählt zu neuen Werken und Taten. Wer nun in der Kultur ein sehr zweifelhaftes Gut erblickt, wird in ihrer Überwindung durch den Einsamen die höchste menschliche Tat sehen; wen aber die Kultur anzieht – sei es durch ihre Ergebnisse, sei es wegen des bewegten Mitwirkens an ihr – für den kann die Einsamkeit nur einen verhältnismäßigen Wert haben.

Ebenso wird die Wertung der Musik ganz verschieden ausfallen, wenn wir sie als die süßeste, trostreichste Beigabe des Daseins betrachten oder als einen Ersatz des Daseins selbst, ja als das wahre Dasein, in dem ganz aufzugehen das Ziel der Melomanen ist.

Es soll hier nichts über den Wert der Musik überhaupt gesagt, sondern nur der Vermutung Ausdruck gegeben werden, daß ihr ein absoluter Wert als Kulturquelle nicht in dem Maße zukommt, wie man heute annimmt. Die an sich unbegreiflich hohe musikalische Entwicklung des deutschen Geistes neben der Zerrissenheit der sonstigen deutschen Kultur, der sich in der bekannten Form- und Geschmacklosigkeit, staatlichen und gesellschaftlichen Verworrenheit, kurz in allen Mißständen unseres gemeinsamen Daseins zeigt, wird erst begreiflich, wenn man das auflösende Wesen der Musik erkennt.

Man kann in manchen deutschen Kleinstädten, wenn auch sonst jedes geistige Leben fehlt und jede Achtung davor, den Amtmann mit dem Apotheker und einem Geschäftsinhaber Kammermusik machen hören, und oft keine üble; aber abgesehen davon sind sie ebenso engherzige Bürger wie die, deren Mußestunden eine Markensammlung belebt. Und der ungeheure Andrang zu den Konzerten, wo Bach und Beethoven herrschen! Er beweist leider nicht das mindeste für die Geistigkeit der Hörer. Dasselbe Publikum stellt oft in der Dichtung und Malerei moralische Werte ober die Sensation über den Lebensgehalt, in der Geselligkeit Belehrung über den Reiz eines gepflegten Beisammenseins.

Wir müssen zweierlei Musik unterscheiden. Musikalische Steigerung des menschlichen Gefühlsausdrucks ist mindestens so alt, wenn nicht älter, als die ersten menschlichen Symbole, die man als bildende Kunst ansprechen kann. Liturgische Musik, heilige und profane Tänze, Kriegs- und Marschmusik, Lieder, religiöse Hymnen wie Gesellschafts- und Liebessänge, bleiben im Rahmen der das Zusammenleben der Menschen wertvoll wollenden Kultur. Wenn solche Art der Musik vielleicht für die älteste Gattung der Kunstbetätigung gelten kann, so ist die Musik des modernen Konzertsaales die jüngste. Meines Wissens beginnt erst in der Spätrenaissance der Strom der Musik von dem religiösen und Gesellschaftsleben abzuzweigen, der schließlich in der Symphonie und der Kammermusik sich ein breites Bett gräbt. Von der Oper, die auch von Musikern allgemein als Zwittergattung anerkannt wird, brauchen wir nicht zu sprechen. Die abstrakte Musik des Konzertsaales hingegen birgt die Gefahren in sich, auf die ich anfangs hindeutete. Heldische Kühnheit, elementare Wucht, die Entzückungen und Verzweiflungen der Leidenschaft, religiöse Inbrunst, betäubende Wollust und bestrickender Traum, alle Säfte des Lebens sind in den Partituren dieser Symphonien und Quattuors abgefüllt und können durch den Zauberstab des Dirigenten jederzeit aus dem Gewirr der Notenzeichen entbunden, niemals aber in Werte des Lebens umgeprägt werden, sowenig wie der Goldklumpen, den Robinson auf seiner einsamen Insel findet. Aber während das Liebeslied des Minstrels Liebe weckt, während der Schlachtruf der Trompete Mut entfacht und der Chorgesang der Messe die Herzen zum Glauben erhebt, scheint diese abstrakte Musik nicht nur solche Wirkung nicht hervorzurufen, ja sie scheint die allzu häufig sich einfindenden Hörer von den starken Erregungen des wirklichen Lebens zu befreien, da sie ihnen ein vollkommeneres, von den Schlacken der Individualität befreites Bild davon für ein geringes Eintrittsgeld als Ersatz des Lebens zu bieten vermag.

Man beobachte einmal von einer Loge aus die zerflossenen Gesichter einer andächtigen Konzertgemeinde (im Vergleich mit den angespannten Zügen der vor der Madonna Betenden oder einem feurigen Kanzelredner Lauschenden). Welch eine bedenkliche Sache, sich gewöhnheitsgemäß tief erregen zu lassen und niemals, niemals den erweckten Bewegungsantrieben nachzugeben! Da entrollt sich eine Beethovensche heldenhafte Vision und zeigt dem Hörer, was man alles könne (wenn man nämlich der Bey von Tunis wäre) aber nicht kann. Unsere Zeit, die von der »weltverneinenden« Askese des Christentums mit Stolz befreit zu sein glaubt, ahnt nicht, ein wie viel bedenklicheres Gift die Askese der »Innerlichkeit« ist, die der Konzertsaal lehrt. Wie anders muß die Musik des Altertums gewesen sein, welche die Bewegungsantriebe weckte, um sie dann walten zu lassen. Auch von dem Kalifen Jasyd II. wird berichtet, daß er einst vor Freude über einen neuen Gesang so lange tanzte, bis er besinnungslos zu Boden fiel. Solche Gefahren kennt der Konzertsaal nicht, aber viel schlimmere.

Solange Musik das Leben durch Inbrunst oder Freude erhöhen oder für eine Stunde Sammlung oder Zerstreuung gewähren soll, gehört sie zu den höchsten Lebensfreuden, die denkbar sind. Verderblich wird sie erst, wenn sie ihr abstraktes Eigendasein betont, und besonders für die, welche in ihr leben und weben!

Man könnte glauben, die Richard Wagnerschen Lehren seien ein Schutz gegen das Überhandnehmen der abstrakten Musik. Aber Wagner stellt die Musik nicht in den Dienst des Lebens zurück, sondern in den der Literatur (und was für einer bisweilen!). Er ist wieder eine Besonderheit der Musik, daß sie sich mit seinem anderen Geistigen verbinden läßt. Man erträgt den trivialen Text zum Beispiel des Preisliedes in den »Meistersingern« nur darum, weil man ihn nicht hört, weil er von der Musik aufgefressen wird, es ist genau wie in der alten Oper. Nur ganz anspruchslose, zum Beispiel komische Texte oder schlichte Liebeslieder lassen sich einfacher Musik beiordnen. Alle verwickelten, dramatischen Texte beunruhigen, wenn man sie, durch die Musik halb verdeckt, nicht ganz versteht, und stören den Musikgenuß. Gewisse Häufungen sind barbarisch, weil sie kein Ganzes ergeben, gehäufte Größen sind noch keine Einheiten. Die Chemie unterscheidet eine Verbindung von einem Gemenge.

Es ist möglich, daß das Überwuchern der abstrakten Musik in unserer Zeit nur eine natürliche und vorübergehende Episode der geistigen Entwickelung ist. Es scheint, daß die Völker beim Erwachen zur Bewußtheit (Renaissance) viel Musik hervorbringen, und daß sie wieder aufhören, wenn die Bewußtheit zu groß wird. Die Blüte der Musik war in dem halbbewußten Deutschland. Heute sind auch wir ganz erwacht, und unseren Musikern fällt nicht mehr viel ein. Man hört, die musikalische Ausdrucksmöglichkeit sei erschöpft. Ich weiß nicht, ob dieses Zusammentreffen zufällig oder tief begründet ist. Andererseits kann aber die Musik gerade dem bewußten Geist eine immer erwünschtere, notwendigere Gelegenheit zum Ausruhen werden.

Es ist für den Wert dieser Ausführungen nicht gleichgültig, wie ihr Verfasser persönlich der Musik gegenüber veranlagt ist. Ich muß daher von meiner Person bemerken, daß sie dem Einfluß der Musik in hohem Maße zugänglich ist. Ich halte sie für die vielleicht am tiefsten erregende, zugleich technisch schwierigste Kunst. Aber gerade darum wird sie zur Gefahr. Sie ist nicht eine Form des an die Vorstellungen geknüpften Lebens, sondern ein Leben für sich. Sie verlangt Aufgehen und Verzicht, das Selbstopfer dessen, der ihr verfallen. Sie ist antisozial, obwohl sie wie keine Kunst in der Gesellschaft gepflegt wird; denn das beweist nur, wie ungesellig unsere Gesellschaft ist. Der Charakter der Geselligkeit ist Wort und Gebärde, und zwar aus dem Stegreif, nicht das Vorführen eingelernter Stücke. Je besser die Musik ist, desto mehr führt sie von der Gesellschaft fort. Nur der Tanz und allenfalls das Lied mögen sich ihr gerne eingliedern.

Wenn sich die überall rege Kultursehnsucht unserer Zeit auf Sichtbarwerden, auf Formung des Lebens und seiner Beziehungen, der Sitten, der Feste, der moralischen Werte durchsetzen soll, dann muß der Musikbetrieb, der uns heute zu viele Kräfte entzieht, erheblich beschränkt werden. Ob die ganz auf ihr Inneres gestellten Musikverehrer gegen die Kultur und gegen die Gesellschaft recht haben, ist ein tiefes Problem der Weltanschauung, das wir hier nur berühren, nicht lösen können. Wollen wir auf sichtbare geformte Kultur verzichten, dann laßt uns wieder das lyrisch-musikalische Volk mit den unsichtbaren Innerlichkeitswerten werden und in die politische und gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit von ehemals zurücksinken, genug belohnt, daß vielleicht einmal ein bei uns ausbrechendes Werther-Fieber Europa ansteckt, oder daß unsere Musik zeitweise welsche Modesache wird. Die Frage ist jedenfalls zu entscheiden, welches Deutschtum wertvoller ist, das des Volkes der Musiker und lyrischen Dichter, oder das noch größtenteils zu formende der mächtigen Hand, der klaren Blicke und des ordnenden Geistes.


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