Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Das heitere Theater

Die europäische Kulturentwicklung hat zweimal feste Formen des Theaters hervorgebracht: die antike Kultbühne und das romanische – sagen wir: Gesellschaftstheater. Es gibt außerdem eine Reihe hochbegabter, aber keine zehn vollendeten deutschen Dramen. Der Kampf um eine deutsche Bühne hat indessen Bayreuth hervorgebracht; aber an wie viel Gestaltungskraft dieses Wort auch erinnert, es sind nicht die schlechtesten Deutschen, in denen geteilte Empfindungen wach werden, wenn sie von den »Pilgern« hören, die zu dem »geweihten Kunsttempel wallen«, oder wie die anspruchsvollen Phrasen lauten mögen. Diese Verquickung von Kunst und Religion ist eine der vielen Lügen, an denen unser geistiges Leben krankt. Selbst wenn wirklich einige Besucher Bayreuths, die brünstig ihr Ariertum verherrlichen, von den Bekennern der Wotansreligion abstammten, so sind sie doch trotz ihrem andächtigen Deuten der mythischen Symbole der Walhalla ferner, als die griechischen Spötter des fünften und vierten Jahrhunderts den Olympiern waren. In Bayreuth einen Kultus der Götter der Väter oder einen Altar arischer Rassegefühle sehen wollen ist ein literarischer Unfug. Sehen wir von dem Pathos ab, das Bayreuth so vielen klar empfindenden Menschen verleidet, so bleibt immer noch folgendes übrig: Einem elementaren Musiker und bisweilen über die Trivialität emporsteigenden Dichter ist ein Haus gebaut worden, wo man seinen Werken gesammelt, fern von den Lasten und Zerstreuungen des Alltags, lauschen kann. Wenn ein solches Haus einmal aufhören wird, Monopol eines einzelnen zu sein und ohne jeden Schwulst derjenigen Bühnenkunst gewidmet wird, die man schwer zwischen den Ablenkungen der Großstadt voll auf sich wirken lassen kann, so wäre in der Tat ein dritter, seinem Ursprung nach deutscher Theatertyp gefunden. In den Gegenden, wo man im Sommer ausruht, am Meer oder im Gebirg, sollten der ernsten Oper, dem klassischen Drama und der modernen Tragödie Spielhäuser errichtet werden. Man würde um zehn Uhr morgens oder um vier Uhr nachmittags die Vorstellungen besuchen und nicht Zerstreuung, sondern Sammlung finden. Man wird keine große Abendkleidung anlegen, wenn es auch wünschenswert ist, das nationale Lodenkleid verpönt zu sehen. Es soll jedenfalls mehr darauf ankommen, daß man sieht, als daß man gesehen wird. Auch vor den Toren der Städte sollten sich solche Festtheater erheben, damit das große Drama nicht nur, zwischen zwei Gasthausmahlzeiten genossen, als Strapaze des Großstadtlebens gepflegt wird.

Aber nicht dieses Theater ist es, von dem ich hier sprechen will, sondern es ist jenes für unsere Zeit ebenso wichtige Gesellschaftstheater, das denselben Phrasen zum Opfer zu fallen scheint, die noch das ernste Theater entstellen. Das Gesellschaftstheater war stets die edelste Vergnügung gut geratener Geister, und auch unsere Zeit bedürfte seiner in hohem Maß, aber wirre Schulmeister enthalten es ihr vor. Es unterliegt ganz anderen Bestimmungen als jene große Bühne. Das Gesellschaftstheater dient weniger der Sammlung als der Zerstreuung. Menschen, die am Tag regiert, gehandelt, gelehrt, geforscht, geschaffen oder bloß geschwatzt haben, Menschen, die am selben Abend noch zu einem Ball gehen, oder morgen eine G.m.b.H. gründen wollen, Frauen, die Kleider oder Schultern zu zeigen haben, Fremde, die den Weg in die Gesellschaft suchen, Liebende, die sich unbemerkt anschauen oder sich etwas zuflüstern wollen, aus solchen und ähnlichen Menschen setzen sich die Besucher des heutigen Großstadttheaters zusammen. Alle diese Erregungen, die mit ins Theater gebracht werden, sind menschlich und berechtigt, und man soll nur den Mut haben, sich ruhig dazu zu bekennen. Für Äschylus, Beethoven oder Strindberg machen sie freilich nicht empfänglich, wohl aber für eine Kunst, die ähnliche Erregungen wie die mitgebrachten in höheren und tieferen Zusammenhängen zeigt. Damit ist bereits gesagt, daß ich nicht an Schwanek und Possen denke, sondern an eine Komödie höheren Stils, die freilich zunächst noch zu zwei Dritteln das Ausland zu liefern hätte. Solche Komödien werden ja wohl auch heute bei uns gespielt, aber meist mit einer Art Heuchelei von der Kritik behandelt. Ist der Kritiker ein Pedant, dem ausschließlich Kult- und Bildungstheater vorschweben, so lehnt er diese heitere Art ohne weiteres ab. Belustigt sie ihn aber selbst, so glaubt mancher, nicht aus vollem Herzen loben, sondern sein Vergnügen an dem Stück erst nach gewissen Vorbehalten gegenüber dem landesüblichen Schulmeistertum ausdrücken zu dürfen. »Wenn wir einmal von der hohen Warte herabsteigen, von welcher wir das große Kunstwerk beurteilen«, oder: »wir verkennen nicht, daß es sich der Verfasser ein wenig leicht gemacht hat, aber...« oder: »von manchen bedenklichen Theaterkniffen abgesehen« – so und ähnlich lauten die Redensarten, mit denen bisweilen der deutsche Theaterkritiker seine Seele rettet, ehe er zugibt, daß er einen außerordentlich angenehmen Abend verbracht hat.

Nicht darum übergehe ich hier das Possen- oder Operettentheater, weil ich es ablehnte, im Gegenteil: ich glaube, daß gerade die ernsteste Beschäftigung am meisten zu einer leichten Abendunterhaltung geneigt macht. Sehen wir doch auch, daß die Wagner-Vorstellungen, ähnlich wie die Kirchen, vorwiegend von einem unbeschäftigten Frauenpublikum besucht werden. Aber es ist nicht nötig, für das bloß dem Lachen dienende Theater einzutreten, denn das Bedürfnis danach ist so verbreitet und unabweislich, daß es sich eine bisweilen restlose Befriedigung erzwungen hat.

Ich will vielmehr für die feine, heitere Theatergattung eintreten, für ein Theater, das die Franzosen stets in hoher Vollkommenheit besaßen, wie es in Deutschland augenblicklich zu entstehen scheint und vielleicht längst entstanden wäre, wenn nicht törichte Lehrmeinungen diese Art bei uns brandmarkten. Wer sich für einen Dichter hält, schreibt bei uns nicht leicht was Lustiges; wer aber was Lustiges schreibt, verfällt in Deutschland oft genug dem Spießbürger- oder dem Handlungsreisendengeschmack, neuerdings ästhetischem wie moralischem Anarchismus. Ein Hauptfehler unserer Kritik scheint mir, daß sie den Verfassern so streng nachrechnet, ob sie wirklich ganz richtige Dichter sind. Als ob nicht auch ein Stück, das eine bewegende Zeitfrage in fesselndem Dialog behandelt, den Abend eines geistig gut genährten Menschen bisweilen wertvoll ausfüllen könnte!

Überhaupt der Dichter! Ich finde, er dürfte etwas mehr Schamgefühl und Verschwiegenheit im Bezug auf den Verkehr mit der Muse zeigen. Man schreibe ein Theaterstück, man erzähle eine Geschichte und man mache dies alles so gut wie man kann. Daß für ein tiefer wirkendes Werk der rätselhafte Vorgang des Dichtens nötig ist, wie für eine vollkommene Ehe die Liebe, ist nicht zu bezweifeln; aber so wie man zwar seine eheliche Haushaltungsgemeinschaft mit einer Dame, nicht aber seine Gefühle zu ihr anzeigt, so spreche man nicht alltäglich von seinen Inspirationen, sondern von seinem Material, nicht von seinen Dichtungen, sondern von seiner Arbeit. Wenn Kritiker oder Publikum nachträglich finden, nur ein rechter Dichter besitze das Geheimnis solcher Wirkungen, wie sie jemand hervorgebracht hat, so mag man sich freuen, aber es ist meist leicht komisch, als Dichter aufzutreten und als Dichter Forderungen an das Publikum zu stellen. Das Theater und seinen Leiter geht der Dichter so gut wie nichts an, für ihn gibt es das Stück und seine Wirkung. Das Theater ist nicht für den Dichter, sondern für das Publikum da. Es ist traurig, wenn dieses Publikum ungebildet oder verbildet ist und das Dichterische eines Stückes nicht begreift, aber es will und kann seiner Art nach nichts anderes wollen als ein Theaterstück, die Poesie kann ihm nur unmerklich und muß ihm schmerzlos eingegeben werden. Die Genugtuung dafür, daß man ein Dichter ist, kann man nur in sich selbst finden, ebenso wie der Arzt, der mehr als ein geschickter Handwerker, nämlich ein edler Helfer ist, sich nicht seine Gesinnung, sondern nur sein Können bezahlen läßt und stets zugeben wird, daß die Heilkunst nicht für die edlen Helfer da ist, sondern für die armen Hilfsbedürftigen, die nicht viel danach fragen können, ob ethische oder wirtschaftliche Triebfedern das Handeln des Arztes bestimmen. Es liegt eine geschmacklose Heuchelei darin, Anerkennung dafür zu suchen, daß man die Dinge nicht aus geschäftlicher Berechnung, sondern – was den Dichter ausmacht – um ihrer selbst willen tut, denn dann tut man sie doch nicht mehr um ihrer selbst willen.

Ich trete für das heitere Theater ein, das der Gesellschaft, die es besucht, in seinen äußeren Formen entgegenkommt, nicht vor halb neun anfängt, damit jeder seine Geschäfte erledigt, sich umgezogen und vorher gespeist haben kann. Der Raum soll nicht wie die ansteigenden Sitzreihen des Münchener Künstlertheaters einem physikalischen Hörsaal gleichen, in dem jedes Damenkleid erbarmungslos verschwindet, sondern von einem Kranz von Logen umgeben sein, in denen die Damen ihre Hüte zeigen dürfen. Ein kurzes Vorspiel mag von allzu strenger Pünktlichkeit entbinden, und zwei Zwischenakte sollen ein reizvolles Foyerleben entfalten.

Um für das heitere Theater – ohne daß dies das Publikum etwas angeht – auch den Dichter zu gewinnen, möchte ich an das Wort Renans erinnern: »Die tiefste Philosophie ist die gallische Heiterkeit.« Man vergißt ganz, daß es die Heiterkeit ist, die uns über das Tier erhebt. Man findet bei Tieren Traurigkeit und freudige Munterkeit; Heiterkeit, Lächeln und Lachen wird man auch in dem sympathischsten Tiergesicht vergeblich suchen. Die Heiterkeit ist die erstaunlichste Leistung der menschlichen Seele. Die pessimistischen Philosophen haben logisch recht: Wir sind zum Tode Verurteilte, nur der Tag unserer Hinrichtung steht noch nicht fest, die unaufhaltsame Vergänglichkeit aller Werte prägt sich uns täglich ein, und der Glücklichste wird fortgesetzt durch kleinere oder größere Unglücksfälle an das Damoklesschwert erinnert, das über uns hängt. Nichtsdestoweniger lachen und lächeln wir. Die Heiterkeit löst die Schwere des Daseins, an der wir tragen. Freilich gibt es kurze und nachhaltig wirkende Heiterkeit. Wenn auch diese nur ein wirklicher Dichter auslöst, so sind doch die Grenzen nicht so leicht zu ziehen, wie manche unserer Kritiker tun. Sie scheiden mir zu ängstlich zwischen Witz und Humor und denken mir zu ausschließlich an jenen von ihnen allein gebilligten biedermeierisch-deutschen Humor, der ein Lächeln unter Tränen sein soll. Dieses wird gewöhnlich dadurch verursacht, daß ein im Lebenskampf versagendes, goldenes Herz, so eine Art Schlemihl, in unverdiente, lächerliche Lagen gerät, für die er eigentlich zu schade ist. Nein, ich meine jene freimütige, unbekümmerte Heiterkeit, die einen in Deutschland leicht oberflächlich, unkünstlerisch oder unwissenschaftlich erscheinen läßt, die aus Beaumarchais spricht, wenn er keck als Gesetz für die Komödie das Wort ausruft: »Seit wann hebt die Lustigkeit nicht die Unwahrscheinlichkeit auf?« Viele werden hinter solchen Grundsätzen die Gefahr der Verflachung fürchten, aber liegt denn diese Gefahr bei uns nicht viel mehr in der unseligen Neigung zur pathetischen Phrase, die seit zwei Jahrzehnten den deutschen Ernst manchmal verdächtig macht?


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