Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Der Künstler in der Gesellschaft

Die moderne Kunst und die moderne Gesellschaft sind im Grund Feinde. In den Kreisen der Industrie, des Handels, der Bank, der Technik, ja der Wissenschaft finden die Künstler (ich rechne die Dichter dazu) heute keinen natürlichen Platz mehr. Trotzdem ist ihre Anzahl, wohl auch verhältnismäßig, größer als in jenen Zeiten, da ihr Beruf und das Bedürfnis nach ihnen anerkannt und ihre gesellschaftliche Stelle bestimmter war. Ein anderer, eng damit zusammenhängender Zug der modernen Künstler ist, daß ihre Werke sich nicht an die Gesellschaft der tätigen Menschen wenden, daß ihre Probleme häufig genug abseits von ihr liegen, ja sehr oft sogar eine Spitze gegen sie zeigen.

Niemals wurden so viele Bücher geschrieben, in denen der Stoff aus dem Leben der Künstler und Schriftsteller selbst genommen ist, in denen Kämpfe und Leiden der sogenannten Schaffenden dargestellt sind. Oft findet man darin den Standpunkt eines »höheren« Menschentums vertreten und den Anspruch, die Gesellschaft der Tätigen verachten oder belehren zu dürfen. Dieser halbversteckte Ärger der Künstler, dieses »Beleidigtsein« wird von der Gesellschaft nicht im selben Grade erwidert. Sie fühlt sich vielmehr selbst ein wenig getroffen und zeigt ein nicht ganz gutes Gewissen. Durch die Geselligkeit schlägt sie eine Brücke in das feindliche Lager, und man sieht nun zunächst diejenigen, welche einen Frack besitzen, zu Gastereien und Bällen herüberkommen. Aber auch gerade die, welche keinen Frack haben, die eigentliche Bohême holt man sich bisweilen, staunt über ihr seltsames Gebaren und ihr scheinbares Erhabensein über die Konventionen. Besonders die Lästerchronik dieser Klasse reizt heftig, und die Frauen, ja viele junge Mädchen sind genau unterrichtet, mit wem gerade der Maler X. oder der Schriftsteller Y. in »freier Ehe« lebt. Dieser Reiz aber beseitigt nur scheinbar die Feindschaft der beiden Klassen. In allen wesentlichen Fragen, sowie es sich um Familien- oder Vermögensangelegenheiten handelt, zeigt sich die Kluft. Das Vorhandensein der Überläufer bestätigt die Regel. Die Teilnahme der Gesellschaft für den Künstler gleicht der für den zoologischen Garten. Es ist seltsam und manchmal schauerlich zu sehen, wie sonderbare Tiere fressen, lieben und sich verständigen. Dieses fast perverse Interesse der Gesellschaft, sowie die wachsende Anzahl der Künstler, die sie, genau wie die modernen Arbeiter, selbst zu einer beträchtlichen Konsumentenklasse macht, läßt sie leben, häufig gut leben. Bei weitem die größere Zahl, und unter ihnen sind vielleicht gerade die Sonderbarsten, bleiben der Gesellschaft überhaupt fern, verhöhnen oder hassen sie und kennen sie nicht. Die Folge von alledem ist, daß wir nur wenige Dichter haben, welche die Probleme der Zeit umfassend zu begreifen und zu gestalten wissen, sondern nur solche, die sich für die Kämpfe der mit der Zeit nicht Mitkommenden einsetzen. Natürlich spielt auch hier immer die Zeit hinein, aber meist als die mißverstandene Feindin. Ich denke an jene Romane, in denen Schuster, Schneider, Nachtwächter, Pfarramtskandidaten und andere Pächter der Ideale im Kampfe mit den Forderungen der Zeit scheitern. Ich denke ferner an die Malerei der Heimatskünstler, der modernen Präraffaeliten usw., ohne zu vergessen, daß die bildende Kunst in ihren hervorragenden Vertretern doch dem modernen Leben bei weitem kühner zu Leibe gegangen ist als die Literatur. Der Grund mag darin liegen, daß das einmal erzogene Künstlerauge sich nicht um soziale, moralische und ähnliche Probleme der Zeit zu kümmern braucht, um vortreffliche Bilder ihrer Menschen sowie von deren Umgebungen und Vorfällen hervorzubringen. Der Schriftsteller hingegen muß die zentralen Fragen erlebt und durchdacht haben, um zu gestalten. Das tut er jedoch heute selten, sondern er begnügt sich meist mit einer ablehnenden Sonderstellung mit mehr oder weniger revolutionärer Note. Alle die aus dem Lager der Künstler gegen die moderne Gesellschaft erhobenen Vorwürfe gipfeln in dem einen, daß sie überaus unkünstlerisch sei. Dieser Vorwurf ist ebenso zweideutig wie der eines Vaters, der seinen erwachsenen Sohn unerzogen schelten wollte. Damit trifft er nur sich selbst, warum hat er ihn nicht erzogen? Kein Mensch hat irgendwelche Verpflichtung, künstlerisch zu sein, außer dem Künstler selbst. Dessen Aufgabe ist es, das Künstlerische in die Welt zu tragen, es ihr zu deuten, den Alltag selbst künstlerisch zu sehen. Wo dies nicht gelungen ist, ist es Schuld des Künstlers, der, statt an der Brust des Lebens zu liegen, sich in verstiegene Träumereien verspinnt, deren Niederschlag in Werken kein Mensch des tätigen Lebens begreifen kann. Vielmehr hat die Gesellschaft ein Recht, zu klagen: Warum ist das Dasein so eintönig, warum ist aller Reiz des Märchens von uns geflohen, warum haben wir keine Geschichtenerzähler, die uns den Sinn unseres Daseins deuten?

Wenn wir genauer zusehen, so ist es selten die Kunst, sondern meist etwas Persönliches, was den modernen Künstler von der Gesellschaft scheidet. Die Künstler sind in der Regel Söhne des großen oder des kleinen Bürgertums. Im ersten Falle sind ihre Brüder, Vettern und Schwäger Ärzte, Juristen, Industrielle usw. Sie selbst sind oft schon als Kinder nervenmüde und für praktische Berufe unfähig gewesen. Solche Menschen finden nun häufig im Betrachten von Kunstwerken und im Grübeln über Probleme einen Ersatz für die ihnen fehlenden Befriedigungen der Tätigkeit. Sie studieren allerlei, wozu die Tätigen keine Zeit haben. Nachdem sie jahrelang unter ihren Knüffen gelitten haben, entwickelt sich leise ein kritisches Überlegenheitsgefühl in ihnen, und damit ist schon fast alles gegeben, woraufhin sich ein moderner junger Mann einbilden mag, er habe das Zeug zum Künstler. Noch deutlicher wird das bei jungen Mädchen. Sich mit den Eltern über Liebe und Heirat nicht verstehen können ist gleichbedeutend mit Talent für Malerei oder mindestens für Buchschmuck. Die Hoffnung, sich in Künstlerkreisen »auszuleben«, womöglich in München, ist die verbindende Vorstellung. Nun ist heute die Gelegenheit ungewöhnlich leicht, technisch einiges zu lernen und dann ein Werk hervorzubringen, das die künstlerisch unerzogene Gesellschaft nicht versteht. Ist gar irgendein origineller Wurmstich darin, so ist die Möglichkeit zur Berühmtheit gegeben. Bisweilen äußert sich ein atavistischer Rückschlag auf einen schon »entarteten« Onkel, von dem die Familie ungern spricht, als moderne Kunst. Vielleicht hält man mir jetzt vor, daß ich nicht vom Dilettanten, sondern vom Künstler sprechen wollte. Nun, ein Drittel der heutigen Künstler, wenn nicht mehr, sind solche Dilettanten. Die berühmtesten Ausstellungen, die bekanntesten Verlage sind voll von ihren Werken, Werken für Abseitige, Traumverlorene, ohne jeden Wert für den Tätigen und Welterfahrenen, der neues Leben oder neue Deutung bekannten Lebens in Literatur und Kunst sucht. Viel gesunder ist der aus dem Kleinbürgertum oder dem Volk stammende Teil der Künstler. Unter ihnen sind häufig diejenigen, welche als Maler die Zeit verstehen. Für das geistige Begreifen ihrer Probleme werden sie jedoch auch nur dann fähig, wenn ein glückliches Schicksal sie von der Bohême fern gehalten hat. Geraten sie hinein, so empfinden sie diese Klasse als die höhere Bildungs- und Gesellschaftsstufe, nehmen ihre Urteile über den »Philister« und den »Bourgeois« ungeprüft hin, zumal ihre meist enge Lage sie oft einer mehr oder weniger sozialistischen Beurteilung der Gesellschaft geneigt macht.

Es ist also nicht die Kunst, die die Feindschaft zwischen dem modernen Künstler und der Gesellschaft sät, sondern die einen macht Nervenschwäche zu Feinden der Tätigen, die anderen mangelhafte Erziehung zu Gegnern der Konvention.

Welches ist nun die wünschenswerte Stellung des Künstlers zur Gesellschaft? Allerdings hat Leben und Tätigkeit des Künstlers etwas von dem übrigen beruflichen und gesellschaftlichen Tun und Treiben ganz Verschiedenes. Aber nur der hat ein Recht für dieses Verschiedensein, dessen Außenstehen ein heiteres Darüberstehen, nicht ein erbittertes Beiseitestehen ist. Der wahre Künstler gleicht dem verkleideten Harun al Raschid, der freudig und freundlich, auch ein wenig neugierig, unter die Menschen geht und, über die Einzelzwecke der Tätigen erhaben, den Sinn ihres Gesamtzweckes errät und dadurch ihren Alltag zum Märchen wandelt. Der Künstler unterliegt in Monte Carlo weniger dem Reiz des Spiels, als dem der Spieler. Er besucht Moulin Rouge weniger, um sich Frauen zu kaufen, sondern um sich über das Leben dieser Frauen zu wundern oder zu entzücken, er geht weniger in die Gesellschaft, um eine Partie zu machen, sondern, weil für ihn die Gesellschaft selbst eine Partie wird. Er trinkt von den Quellen der Wissenschaft, um sich zu nähren oder bloß um sich zu erfrischen, nicht, um ein Gelehrter zu werden. Er beschäftigt sich mit der Politik, mit den sozialen Fragen, aber sein Ziel ist weder der Politiker, noch der Zukunftsstaat, sondern die Seele des Menschen. Er ist ein echtes Weltkind und liebt alle Orte der Weltlichkeit, aber oft unbewußt sucht er dort etwas ganz anderes als die anderen Weltkinder, etwas Unvergänglicheres, das ihn unverwüstlich, unenttäuscht und jung erhält. Das Leben ist ihm ein Märchen.


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