Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Weltverbesserer

Jeglichen Schwärmer schlagt mir an's Kreuz im dreißigsten Jahre!
Kennt er nur einmal die Welt, wird der Betrogene der Schelm.
Goethe, 53. venezianisches Epigramm.

Der höchste und letzte Zweck jedes Menschen ist die proportionierliche Ausbildung seiner Kräfte und ihrer individuellen Eigentümlichkeit, die notwendigen Bedingungen der Erreichung derselben: Freiheit des Handelns und Mannigfaltigkeit der Situationen.« Es ist vielleicht am Platze wieder einmal an dieses bekannte Wort Wilhelm v. Humboldts zu erinnern, in einer Zeit, deren geistiges Leben von radikaler Weltverbesserungssucht aus dem Gleichgewicht geworfen wird. Anstatt sich der eigenen Kräfte bewußt zu werden und die möglichen Situationen zu erwägen, zieht es der moderne junge Mensch, der nach geistiger Entwicklung strebt, vor, sich mit irgendeinem erlauschten prinzipiellen Satz zu durchdringen, daraus eine Reihe von Schlußfolgerungen zu ziehen und das so gewonnene »System« kritisch auf die Welt der Tatsachen anzuwenden. An der Ordnung dieser Welt hat er nicht teilgenommen, er wird in sie geboren. Kaum öffnet er die Augen, und schon findet er es unerträglich, daß er in ihr noch nichts bedeutet. Anstatt ihre und seine Art zu erforschen und zwischen beiden eine fruchtbare Ehe herzustellen, wendet er sich verächtlich und träge weg und versenkt sich schwelgerisch in eine billige Kritik. Wer eine südliche Landschaft mit dem Maßstabe nördlicher Schönheit oder eine nördliche mit dem Maßstabe südlicher mißt, wird natürlich unendlich viel auszusetzen haben, irrt sich aber sehr, wenn er das für Ideenreichtum hält. Daher entwickelt unsere Zeit so wenig Persönlichkeiten und so viele unzufriedene Individuen, die sich für Persönlichkeiten halten.

Ich will zunächst den Einwand vorwegnehmen, daß gerade die bedeutendsten Geister, mit der sie umgebenden Wirklichkeit unzufrieden, einen ausgesprochenen kritischen und weltverbessernden Drang gezeigt haben. Dagegen etwas zu sagen, sei ferne, solange es spontan ist und rein von allem verdächtigen »Außenseitertum«. Lord Byrons großartige Gesellschaftskritik stammt aus der Fülle eines auf den Höhen der Menschlichkeit dahinfließenden Lebens. Anders die Weltverbesserungssucht der geduckten Lakaien des Lebens, welche die Aussichtslosigkeit fühlen, selbst in festlichen Räumen wohnen zu können und diese darum zerstören möchten.

Diese Weltverbesserung ist Ohnmacht, denn ein fähiger Mensch wird sich instinktiv zunächst mit seiner eigenen Verbesserung beschäftigen, nur dadurch kann die Welt wirklich besser werden, daß jeder sich selbst möglichst vollkommen macht, indem er sein eigenes Wesen aufrichtig erlebt und entfaltet ohne Hinblick auf außer ihm liegende Werte gesellschaftlicher oder auch revolutionär individualistischer Art. Die einzige aussichtsreiche Friedensbewegung z. B. ist, daß möglichst viele Menschen sich selbst mit Frieden erfüllen und dadurch die Macht des Friedens stärken. Der Friede aber als intellektuelles Programm ist wie jedes Programm verfehlt. Es ist ein geheimnisvolles Gesetz des Lebens, daß so gute Dinge, wie Nächstenliebe, Bildung, Lebensformung in dem Augenblick, wo sie, vom Intellekt berührt, Programm werden, die Farbe des Lebens verlieren, grau und langweilig werden und in jedem lebendigen Geist aus Widerspruch die Aufstellung des entgegengesetzten Grundsatzes hervorrufen. Es ist uns Menschen kein anderes fruchtbares Material gegeben als das eigene Selbst. Dessen Kräfte können wir erforschen und entwickeln in den mannigfaltigen Situationen, die uns das Schicksal schenkt. Heute fühlen nur wenige, wie grotesk und ungeheuerlich es ist, daß so viele im Namen des Fortschritts meinen, es sei selbstverständlich, dem Leben als Reformer gegenüberzutreten. So sehr sind wir an diese Gebärde gewöhnt. Diese Art der Gesellschaftskritik gehört heute geradezu zum guten Ton der »Intellektuellen«. Wer sie nicht übt, ist ein »Opportunist« oder ein »Reaktionär«.

Die Heuchelei der sich als Weltverbesserer berufen Fühlenden geht so weit, ihr aus Neid und unbefriedigter Eitelkeit hervorgehendes Gebaren Altruismus und jenes harmonische Arbeiten an sich selbst Egoismus zu nennen, ein Vorwurf, der bekanntlich dem größten jener »Egoisten«, Goethe, nicht erspart geblieben ist. Abgesehen von dem objektiven Wert eines solchen »Egoismus« für die Welt, ist er subjektiv schon dadurch kein Egoismus mehr, daß er sich selbst formuliert und mitteilt. Der wirkliche Egoismus kann sich nicht freiwillig mitteilen, Eigennutz wird ihm vielmehr gebieten, sich zu verbergen und nach außen Altruismus zu heucheln, wie es ja jene Weltverbesserer, die meist aus kleinlichen Ichtrieben handeln, mit Erfolg tun. Was mich betrifft, so liebe ich jene »Egoisten« mit bestimmten Bedürfnissen und formulierten Ansprüchen, sie haben etwas Beruhigendes und dadurch, daß sie ihre Grenzen verteidigen, wissen sie Abstand zu halten. Man betrachte dagegen jene zerflossenen unharmonischen Naturen, die beanspruchen, erlauscht und erraten zu werden, sich immer wieder gekränkt in ihr Inneres verschließen, um in ihrer Ohnmacht das Leben in seiner Kraft und Buntheit zu verklagen. Jeder reiche Instinkt ist eine Erweiterung und Erhöhung des Selbsts. Aus dem Drange dieses Selbsts handeln wir alle, ob wir es nun, an der Mannigfaltigkeit des Daseins genährt, befreien und erhöhen, oder ihm die kleinen Ressentimentbefriedigungen kümmerlicher Weltverbesserer verschaffen. Der Schenkende ist ebenso selbstbedingt wie der Geizige, nur fühlen sich ihre beiden Selbste durch andere Mittel befriedigt.

Dennoch ist der Individualismus als Weltanschauung verwerflich. Er will vom individuellen Hirn aus die Welt verbessern, statt eine Vermählung des Selbsts mit der Gemeinschaft einzugehen, und so diese aus jenem, jenes aus dieser zu bereichern.

Es darf indessen nicht verkannt werden, daß eine Neigung zur Opposition und zum Radikalismus geradezu ein Zeichen der kraftvollen Jugendlichkeit ist. Wer sich in dieser Welt, in die er, ohne gefragt zu werden, hineingeboren wird, restlos zufrieden fühlt, muß ein laues Blut und einen flauen Geist haben. Der jugendliche Kampftrieb verschafft sogar fruchtbare Situationen, bereichert den Geist und stählt den Charakter, aber diese Möglichkeiten erschöpfen sich in den Jahren der Reife. Grundsätzliche Feindschaft gegen die Wirklichkeit ist bei reichen Naturen ein vorübergehender, gesunder Spannungszustand, der Berührungen mit dem Leben und Erfahrungen verschaffen kann, wenn er auch in sich selbst nicht fruchtbar ist. Wer sich aber nicht zu einem intellektuellen Anarchismus verdammen will, der schließe in den Jahren der Reife einen ehrenvollen Frieden mit der Wirklichkeit und ihren Mächten. Die Jugend vermag sich, ohne leer zu werden, an Worten zu berauschen, der Mann will endlich das Material des Lebens in seinen formenden Händen spüren, ein unfruchtbares Opponieren aber verhindert ihn, überall da zugelassen zu werden, wo sich Kräfte als wirkliche Macht auswirken. Die Macht, woher sie auch kommt, gibt Erfahrungs- und Lebensmöglichkeiten, die dem Außenseiter verschlossen sind. Die Gesellschaft, so fehlerhaft sie sein mag, ist ein Hort von Wirklichkeiten, die der intellektuelle Sonderling und Individualist nicht ahnt. Wir sehen im politischen Leben die glänzendsten Köpfe ideologischem Doktrinarismus erliegen, wenn sie sich einer Partei anschließen, die niemals die Aussicht hat, aus Worten Taten werden zu lassen. Es ist aber ein Naturgesetz, daß unbenutzte Organe verkümmern. Der tiefste Geist muß notgedrungen dem Geschwätz verfallen, wenn er den Maßstab der Tatsachen, der praktischen Möglichkeiten verliert. »Jede direkte Opposition wird zuletzt platt und grob. Die Zensur zwingt zu geistreicherem Ausdruck der Ideen durch Umwege. Gerade zu gehen ist meist täppisch.« (Goethe an den Kanzler Müller.)

Suchen wir die Welt und ihre Gesetze zu erforschen, um zwischen ihr und uns eine Harmonie herzustellen! Klagen wir nicht über den Egoismus anderer, sondern stärken wir uns im Kampf mit ihm, entrüsten wir uns nicht über die Dummheit, sondern suchen wir sie zu beherrschen, schmähen wir nicht das Weib, sondern vertragen wir uns mit ihm, erziehen wir unsere Söhne nicht zu Ideologen, sondern befähigen wir sie, sich einen Platz zu erobern, verhindern wir unsere Töchter Märtyrerinnen einer neuen Moral zu werden, indem wir ihnen eine gute Welterziehung geben!

Es gibt drei Arten, sich den Mißständen des Lebens gegenüber zu verhalten: die jugendliche, die reife und die hoffnungslose. Jugendlich ist es, an diese Mißstände noch nicht hinreichend angepaßt zu sein, von ihnen plötzlich verwundet zu werden und sie radikal zu bekriegen. Reif ist es, sie hinzunehmen, womöglich Friede zu schließen, wenn aber Krieg nötig ist, dann einen Krieg der Mächte, nicht der Doktrinen zu führen. Hoffnungslos ist es, an die Wirklichkeit mit »idealen Forderungen« zu treten, überall den »edlen« oder »hochstehenden« Menschen anzurufen, weil es ja so außerordentlich bequem wäre, wenn alle Menschen so »edel« oder so »hochstehend« wären, unsere idealen Anforderungen zu erfüllen. Die unausbleibliche Enttäuschung dieser Idealisten verursacht dann eine verbitterte und unfruchtbare Menschheitsverachtung.

Oft hört man den Trugschluß, ohne diese Schwärmer käme die Welt niemals weiter, es sei gut, wenigstens »Adelsmenschentum« oder ähnliches als Ideal zu fordern, wenn es auch unerreichbar ist. Nein, selbst das Streben nach solchen luftigen Idealen ist schlecht, weil es die Kräfte verzettelt, vom Ziele wirklicher Menschenwerte abführt und nur dem großschnauzigen Faulenzer zu Ansehen verhilft, der zu allem unfähig ist, am wenigsten aber ein schlichter Mensch sein kann, von dem nicht viel geredet wird.

Seien wir nicht so eitel, uns einzubilden, wir hätten eine »Sendung« im Dienste der Menschheit. Niemand in der Welt hat eine »Sendung«, und, wer es von sich behauptet, wird unsachlich und benutzt seine realen Kräfte zum Schaden anderer. Wer wirklich den Frieden der Einsamkeit und Armut gefunden hat, der freue sich, aber strafe sich nicht Lügen, indem er sich unter die Kinder der Welt drängt und sie mit Bekehrungsversuchen belästigt. Wer ernstlich ein Glück der Innerlichkeit besitzt, der tritt nicht mit der Miene des Anklägers, des Weltverbesserers auf den Markt. Das tut nur der, welcher nicht mit sich fertig werden kann und die Zwiespälte seines Innern mit lauten Reden an die Menschheit überschreien muß. Eine Entwicklung der Menschheit herbeiführen wollen, ist blinder Wahn. Die höchsten Entwicklungsstufen, die nur unsere Phantasie ausdenken kann, wurden schon erreicht und der Weg zu ihnen ist offen: Buddha, Christus, Alexander, Cäsar, Shakespeare, Goethe. Um auf diesem Weg auch nur einen Schritt vorwärts zu kommen, durch Liebe, Erkenntnis, Tat oder Werk, hat man so unendlich viel mit sich und dem, was einem begegnet, zu tun, daß es vielmehr ein Zeichen von Unausgefülltheit ist, Phrasen an die Adresse der »Menschheit« zu senden. Alle Großen haben sich mit ihrer Wirklichkeit (der geistigen, seelischen und körperlichen) befaßt, erst nachträglich konnte die Menschheit etwas damit anfangen. Die Menschheitsbeglückung ist Sozialdemokratie der Gefühle auf Kosten der Werte. Also sollen die besten Dinge den meisten verschlossen bleiben? Keineswegs. Sie sind in einem nach allen Seiten freien Tempel zu finden. Der steht jedem Kletterer offen auf steilem Berg. Der Himmel aber bewahre uns vor modernen Verkehrsmitteln, die auf den Gipfel führen.


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