Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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»Rückkehr zur Natur«

Seit dem 18. Jahrhundert wird die Rückkehr zur Natur gepredigt. Was ist natürlich? Was vernünftig ist, antworten jene Prediger, womit sie verraten, daß Natur für sie ein Vernunftbegriff ist. Nun ist aber die Natur gerade das, was vor aller Vernunft, trotz aller Vernunft und über alle Vernunft hinaus ist. Wir haben kein Recht, die Entwicklung der Welt bis zu einer bestimmten Stelle, etwa bis zur Erfindung des Geldes oder der Einführung des Christentums natürlich, von da ab unnatürlich zu nennen. Erst die Vernunft schafft diese Begriffe. Das was zum Untergang führt, wird gern als das Unnatürliche, Unvernünftige bezeichnet. Aber ist es etwa wider die Natur, wenn der Efeu einer Eiche alles Mark aussaugt und auf ihre Kosten lebt? Man bezeichnet den Vorgang mit Schmarotzertum. Im sozialen Dasein denkt man dabei an etwas Verdorbenes und nennt es unvernünftig, unnatürlich. Es ist nun gerade nicht »natürlich«, sondern zeugt vielmehr von einer Entwicklungsstufe, über die Natur hinaus, wenn man solche begriffliche Maßstäbe anzulegen imstande ist. Man geht dabei von dem geschädigten Einzelnen aus, der nicht mehr die Natur, sondern sein (verstandesmäßig abgegrenztes) Ich für das Wesentliche setzt. Von diesem Standpunkt aus ist Schmarotzertum unvernünftig. Wer die Einzelform der Eiche erhalten will, wird vernünftigerweise den Efeu entfernen, aber die Natur will nicht die Einzelform erhalten, sondern das Leben schlechthin. Ihr gilt die Einzelform nichts. Damit soll nur gesagt werden, daß das Natürliche nicht das Vernünftige ist, sondern sogar das Unvernünftige sein kann, unvernünftig von irgend einem Standpunkt, der erst durch einen geistigen Prozeß seiner selbst bewußt wird, sich selbst an Stelle der Natur setzt und alles, was ihm schädlich ist, für unnatürlich erklärt. So ist zum Beispiel die »naturgemäße« Lebensweise vielleicht eine sehr vernünftige und nützliche Lebensweise, aber natürlich ist sie ganz gewiß nicht. Natürlich ist, daß man ißt, was einem im Augenblick Appetit erregt, daß man nicht zu bestimmten Stunden zu Bett geht, sondern angenehmen Reizen folgt, die einen den Schlaf vergessen machen, um dann gelegentlich todmüde zusammenzufallen. Erst die vernünftige Erkenntnis unserer individuellen Lebensbedingungen veranlaßt uns, zu einer »natur«gemäßeren Lebensweise, die in Wirklichkeit eine vernunftgemäße ist, überzugehen. Die Vernunft ist das Mittel, mit welchem wir, der Natur zum Trotz, unser Einzelsein behaupten. Die Natur will das Leben schlechthin, nicht das Individuum, ihr gilt Efeu und Eiche, Mensch und Bazillus, Blume und giftiges Insekt gleich. Unser Geist erst bringt in uns Werturteile zur Erkenntnis, grenzt einzelne Naturerscheinungen ab, nennt sie gut und sucht sie zu erhalten, nennt andere schlecht und sucht sie zu zerstören.

In dieser geistigen Tätigkeit liegt zweifellos die Möglichkeit aller menschlichen Kulturentwicklung, aber der dabei so wertvolle und unerläßliche Diener Intellekt ist zugleich die größte Gefahr, wenn er sich nämlich zum Herrn macht und Gesetze gibt. Er darf nur ein Mittel der Erkenntnis sein und muß sich stets vor der Natur und ihrem Geschehen beugen, der gegenüber er sich auswählend verhalten soll. Die Gefahr besteht immer, daß er seine Denkgesetze für die Naturgesetze erklärt und statt der Natur das Individuum und seine willkürlichen Vorstellungen für das Absolute nimmt. Ohne auf die natürlichen Erfahrungen zu warten, scheidet er gern alles, was ihm nicht paßt, von vornherein als wertlos aus, verzichtet auf Leben und Erfahrung, indem er meint, in sich selbst das »wahre« Leben zu finden. Er vergißt, daß alles, was er abseits vom Lebendigen in sich zu finden glaubt, abstrakte Spekulation, nichtiges Blendwerk ist, und häufig genug liegt der Grund dieser Selbstüberschätzung und Selbstverwechslung des Intellektes mit dem Leben in einer gewissen Schwäche des Individuums, das aus Angst vor dem Leben in sich selber zurückgetrieben wird und sich an Theorien genug sein läßt. Die Theorie von der Rückkehr zur Natur ist eine dieser Verirrungen und zeigt am deutlichsten den begangenen Fehler, indem hier der Intellekt ganz offen sich selbst, das heißt einen aus sich selbst geborenen Begriff für die Natur erklärt, Verstand für Natur setzt, ein relatives Werkzeug des Individuums für den Hebel des großen, notwendigen Weltgeschehens hält. Hier wird die Verwechslung am klarsten.

Die intellektuelle Erkenntnis hat vor der natürlichen, das heißt der Erfahrung, das voraus, daß sie für nervöse Menschen bequemer ist. Der Intellekt kann von ferne einen großen Teil der Welt spiegeln, ohne sich zu den gespiegelten Gegenständen selbst hinzubemühen. Wem dieser Spiegel völlig fehlt, der wird freilich niemals das Bild der Gesamtheit haben und dadurch nie die richtige Entfernung zum einzelnen finden. Wer aber nur in diesen Spiegel schaut, sieht das Leben nur zweidimensional, er vermag es weder zu hören, noch zu schmecken, zu riechen oder zu tasten. Der Unterschied läßt sich auch durch folgenden Vergleich erklären: ein beschwerlicher Talweg führt durch Gestrüpp und Geröll zur Quelle eines Flusses. Andere Wege gibt es nicht. Gleichzeitig geht aber eine aussichtsreiche Straße oben am Hange der Bergwand, auch dieser Weg führt anfangs von Schritt zu Schritt dem Talgrund näher, kann ihn aber nie erreichen, weil er in einer anderen Ebene liegt. Er ist bequem, aber er führt nicht zur Quelle, sondern über sie hinaus, läßt sie höchstens von weitem sehen und weiß nichts von ihrem Rauschen, ihrer Frische und dem dunklen Grün, das um ihre Wände blüht. Der andere Weg ist unbequem. Die meisten bleiben am Anfang stecken, fast keiner kommt ans Ende und doch ist er der einzige Weg, der wirklich in den Talgrund führt. Wer in der Mitte seines Lebens die Quelle einmal erreicht hat, der mag dann in getroster Weisheit die hohe aussichtsreiche Bergstraße hin und her wandeln. Wer ohne diese Erfahrung auf der Höhe zu gehen bestrebt ist, vergißt sogar oft genug die Quelle selbst, ja, sie ärgert ihn vielleicht und er versucht, sie von oben zu verschütten. Der auf sich selbst gestellte Intellekt ist so sehr der Willkür unterworfen, daß er vollkommen vergessen kann, was das Ziel seiner Erkenntnis sein sollte. Er ist imstande, das Leben selbst für nichts anderes als seine eigene Spiegelung zu erklären und sich ganz von ihm abzuwenden. Wir sehen viele Intellektuelle vollkommen auf Leben und Handeln verzichten, sie haben es aufgegeben, intuitiv erkannte Werte dem Chaos der Tatsachen aufzuprägen.

Für den handelnden oder nach wahrer Lebenserkenntnis strebenden Menschen ist der Spiegel seines Intellektes das unvergleichliche Werkzeug, einen Überblick über das Leben zu gewinnen und zu erkennen, wo und wie er mit seinem Geiste formend einzugreifen vermag. Er sucht gewissermaßen eine Gleichung zwischen seinem Selbst und dem Weltgeschehen hervorzubringen, und je stärker sein Selbst, desto neuer ist die Gleichung. In demselben Maße aber, als er sein Individuum in das flüssige Erz des, Lebens prägt, empfängt er Stoff von diesem Leben und wird hineinbezogen. Er tut das wahrhaft Natürliche, indem er zwar das Äußerste erstrebt, was sein Selbst zu begreifen vermag, aber es soweit beschränkt, daß es in den Strom der Lebenstatsachen einbeziehbar wird. Dieser Strom ist die im Wesen unwandelbare Natur, und alle intellektuellen Vorstellungen, die sich abseits von ihm bilden, sich in seinen Stoff nicht prägen lassen, sind Unnatur, intellektuelle Willkür, die sich häufig selbst für die Natur setzt und die Rückkehr zur Natur darzustellen glaubt. Die Philosophien dieser Unnatürlichen sind oft daran zu erkennen, daß ihr reformatorisches Programmwort mit den Silben »anti« beginnt, oder daß ihnen leicht ein solches Wort zur Charakteristik gegeben werden kann. Wer ohne etwas hervorzubringen, uns gegen die Kunst oder gegen den Kapitalismus, gegen die Religion, gegen die Börse, gegen das Theater, gegen die Unsittlichkeit oder gegen was es auch immer sei, eifert, zeigt meist auch Disharmonie seines Seelenzustandes, seiner Erscheinung und meistens auch seiner Verdauung. Jedes System, gleichgültig ob Kapitalismus oder Sozialismus, ob Staatskirche oder Ketzertum, ist für einzelne Individuen unbequem, wenn nicht verderblich, es hat daher gar keinen Zweck, nichts als Theorien gegen irgend ein einzelnes System aufzustellen. Der Logiker weiß, daß es eine Kleinigkeit ist, für und gegen jedes Ding ebenso gute Gründe als Gegengründe zu finden. Wessen Individualität es nun aber nicht erlaubt, sich einfach vom Strom des Lebens mitreißen zu lassen, für den gibt es nur eine Möglichkeit, mit sich, der Natur und dem Unendlichen in Harmonie zu kommen: indem er statt Doktrinen aufzustellen und dafür Proselyten zu werben an der ihm nächsten Stelle Richtung und Form der Tatsachen, wenn auch in bescheidenstem Maße mitbestimmt. Er wird so weder ein Anarchist, noch ein Reaktionär sein, er wird weder diese Zeit im Vergleich zu einer anderen verdammen, noch irgend etwas für hoffnungslos erklären. Er wird nicht die Hände in den Schoß legen und reden, noch wird er aus seiner grundsätzlichen Überzeugung heraus einfach tun, was er für gut hält, gleichgültig, ob und wie es wirkt, sondern der Sinn seines Kampfes wird, wie der jedes gesunden Kampfes, Friede sein, was freilich um so schwerer wird, je stärker sein Selbst ist. Die Probe aber, ob es individuelle Stärke oder Lebensschwäche war, die seinen Frieden mit den Tatsachen so schwer machte, ist die, daß ihn der Starke eines Tages immer findet und sich dadurch mit der Natur in Einklang bringt, so wenig sein Leben dem des für so besonders natürlich geltenden Landbewohners gleichen mag.

Oft hört man heute jene »Anti«geister von der Brutalität der Dinge philosophieren, gegen die der höhere Intellekt nicht aufzukommen vermöchte. Daran sind die »Intellektuellen« selber schuld. Nie wäre das heutige Massendasein so brutal geworden, hätte der Geist sich besser mit den Tatsachen auseinandergesetzt, statt sich als weltfremder Kritiker von ihnen zurückzuziehen. Warum konnte die Macht der Zahl so furchtbar anschwellen, daß sie unser ganzes politisches, soziales und das bischen geistige Leben, das wir noch haben, erdrückt und beherrscht? Weil nur selten noch ein eigenartiger Geist mit einem dem Leben gewachsenen Kraftmaß erscheint. Unsere Intellektuellen denken im Namen dessen, was ihnen als Natur erscheint, so Unnatürliches, daß sich der Körper rächt, denn nicht ungestraft können wir unwahre, das heißt dem Leben unverwandte Gedanken in uns tragen. Unsere Intellektuellen rechnen sich ihre Einsamkeit zum Ruhme an, sie hat aber Nichts zu tun mit der großen religiösen Einsamkeit der Anachoreten, sondern sie ist nur ein ganz pathosloses, spießbürgerliches Abseits-seinen-Kohl-bauen-wollen, das sich mit intellektuellen Redensarten aller Art, wie »Individualität« und dergleichen verbrämt. Die Sprache besitzt dafür das Wort »Eigenbrödler«. Der »Eigenbrödler« flieht häufig die Großstadt und geht aufs Land, womit er den Begriff der Natur verbindet. Aber er vergißt, daß sein Land bloß Nicht-Stadt ist, ohne die positiven Inhalte dessen, der wirklich vom Lande stammt, mit ihm zu tun hat, von seinen Gesetzen auch materiell abhängt. Auch die Naturfreuden dieser »Eigenbrödler« sind alles, nur nichts Natürliches. Die Freude an der Natur ist vielmehr ein Kulturerzeugnis des in die Stadtmauern verschlossenen Intellektualmenschen. Sie soll hier keineswegs gescholten werden, im ganzen ist sie eines unserer besten Dinge, nur dürfen wir uns nicht einbilden, sie bringe uns dem Landmann näher, im Gegenteil, nichts unterscheidet uns mehr von ihm. Ich will hier nicht auf die vielerörterte Frage eingehen, ob der Bauer die Natur genießt oder nicht. Er genießt sie selbstverständlich, genau wie der Schauspieler das Theater, wie der König das Herrschen genießt, aber es ist etwas ganz anderes, der Natur gegenüber Publikum zu sein. Der einsame Intellektualmensch unserer Zeit läuft sogar auf dem Lande besonders Gefahr, sich von der Natur zu entfernen, denn das ihm natürliche Element, in dem er sich läutern und seine Wahrheit finden kann, ist die Kultur und ihr Sitz ist die Stadt. Durch allerlei Gedrucktes bleibt er ja auch auf dem Lande fortgesetzt in Verbindung mit ihr, ohne dem Leben des Landes wirklich verwandter zu werden, begnügt er sich einfach mit einer spärlicheren Ernährung durch Stadterzeugnisse. Er verliert den Abstand, die Wohltat der Aufsicht, die das städtische Zusammenleben über unsere Narrheiten ermöglicht, er kann sich in die tollsten Spekulationen einlassen, ohne sich vor irgend jemand lächerlich zu machen, ohne sich an irgend welchen Tatsachen schmerzlich zu reiben. Der »Eigenbrödler« auf dem Lande ist die Mensch gewordene Unnatur selbst, der Herd der unwahrsten Gedanken, der unsinnigsten Doktrinen, der unreinsten Gefühle, der unklarsten Blicke. Etwas ganz anderes ist die Abkehr eines Mannes wie Gauguin von Europa. Sie war nicht intellektuell auf jene billige Erkenntnis gegründet, daß die Konventionen wertlos sind, sie kam nicht aus der schwächlichen Ermattung, die sich ohnmächtig fühlt, die Verknüpftheit des modernen Lebens zu bewältigen, sondern dieser starke Geist war wirklich hinausgewachsen über Europa, dessen Rätsel er für sich gelöst hatte. Er war nicht müde, sondern unersättlich, nicht überreizt, sondern nach reicherem Borne dürstend. Unter einem »Natur«volk lebend, beginnt er neu zu sehen und gelangt zu ähnlichen Zielen wie die, denen am Anfang unserer modernen Kultur die Augen aufgingen: Giotto, Signorelli. Mit viel mehr Glück erreicht er ähnliches wie das von Marées Erstrebte: die Unmittelbarkeit der Erscheinung in einer spontanen Synthese des Blicks zu ordnen.

Die Stadt hat den Vorzug, daß sie alles lächerlich macht. Aus diesem harten Kampf ums geistige Dasein geht nur das Echte lebensstark hervor. Das übrige verfällt als kurzlebige Mode. Nehmen wir an, der »Eigenbrödler« verläßt die Stadt in einer Zeit, wo irgend eine hysterische Dummheit wie zum Beispiel »Nacktkultur«, »Heimatkunst« oder dergleichen in Blüte steht. Während die in die Stadt Zurückkehrenden schon im nächsten Winter finden, daß das vor einem halben Jahr Gepriesene lächerlich geworden ist, sitzt der »Eigenbrödler« jahrelang auf seinem Land, ohne die Wohltat des Zweifels. Nach einigen Jahren besucht ihn ein Freund und traut seinen Ohren kaum, ihn in der Entwickelung noch da zu finden, wo er ihn verlassen hat, nur noch ein gutes Stück verrückter. Ich will keineswegs die Großstadt verteidigen. Sie ist eine Lebenserscheinung mit vielen Nachteilen, von der die Menschen mit der Verbesserung des Verkehrs langsam zurückkommen werden, aber die Großstadt hat für alle ihre Gifte Gegengifte, und dem schadet sie am meisten, der nur die Gifte in sich aufnimmt. Gewiß, sie ersinnt das Wahnwitzigste, aber sie entwickelt dafür auch wieder den Spott und das Lachen, so daß die meisten mit halbwegs unverletztem Verstand in ihr leben können. Bringt man aber eine ihrer Torheiten aufs Land, wo alles ernst genommen wird, dann ist der Teufel los. Aus diesem Grunde kann mancher, der die Großstadt tadelt, doch die Kleinstadt nicht loben. Man denke sich »Nacktkultur « in Eberswalde. Das wäre eine Katastrophe, während sie in Berlin bloß komisch ist. Wer heute die Großstadt flieht, aber ihre Bücher und Zeitschriften liest, saugt oft genug ihr Gift ein, ohne ihre Gegengifte zu besitzen, er verliert den Blick für Distanzen.

Verlangen wir statt Rückkehr zur Natur Streben nach Echtheit. Darauf kommt alles an, aber nicht nur das Biedere Einfache kann echt sein, sondern auch das Verwickelte und Widerspruchsvolle. Niemand wird zweifeln, daß Baudelaires »Künstliche Paradiese« echter sind, als unsere sogenannte Heimatkunst, welche die Rückkehr zur Scholle erstrebt. Baudelaire war ein sonderbarer Mensch, dem das Künstliche die echte Heimat war, während das Land niemals die echte Heimat der Intellektuellen sein kann. Was nun die Heimatkünstler mit der Scholle machen, das tun gewisse junge Dichter mit Baudelaire. Bei ihnen ist die Künstlichkeit unecht. Nun ist zweifellos in einem Menschen, der zur »Natur« zurück will, meist ein Stück echten Gefühls, zugunsten dessen der Intellekt den ganzen übrigen Menschen ins Ursprüngliche umwandeln will. Das Naturgefühl der Intellektuellen ist nun einmal nicht ursprünglich, sondern zweiter Hand, es ist idyllisch, romantisch, sentimental, und auch die Erhabenheitsgefühle, die ihnen der Alpensport vermittelt, sind nichts anderes.

In unserer modernen Welt ist der englisch angezogene Mensch natürlicher, echter, als der Sandalenmann. Es gibt echte Lügner, echte Dirnen, ja, fast möchte man sagen, echte Unechtheit. Der Lorbeerkranz des Agathokles, die Toilettenkünste Cäsars, die Pose Barbey d'Aurévillys sind echter als Naturmenschentum. Den intellektualisierten Philister bringt das aus dem Häuschen, denn er verliert nun seine intellektuellen sicheren Maßstäbe.

Die Zahl derer, die »Rückkehr zur Natur« predigen, beweist, daß ein Empfinden für die Unnatürlichkeit und Unechtheit der Zeit weitverbreitet ist, aber die dagegen vorgeschlagenen Maßnahmen sind selbst der Ausdruck der Unnatur. Die Rückkehr zur Scholle, zur Bodenständigkeit, die Forderungen der Heimatkunst und der Reformkleidung, das Streben nach »organischer« Entwicklung der Kunstformen gegenüber der »geschmacklosen« Verwilderung des Rokokos, alles dies hat nichts mit wahrer Natürlichkeit zu tun, sondern verrät einen erkrankten Intellekt, der in Natur und Natürlichkeit auch nur abstrakte Begriffe, »Forderungen« erblickt. Diese Prediger der Natur vergessen, daß Natur überall ist, wo von Abstraktionen ungehemmtes Leben fließt. Die natürliche Landschaft vieler moderner Menschen ist nicht das Heimatdorf, sondern die Großstadt; wer seiner ganzen Natur nach in den Salon oder ein Boudoir gehört, beginge eine Unnatürlichkeit, wenn er auf »Gottes grünem Rasen« schlafen wollte. Was der Zirkus, die Matrosenkneipe, das Nachtkaffeehaus manchem modernen Künstler gegeben hat, war echter als die Ergebnisse einer aus Müdigkeit oder abstrakten Forderungen beschlossenen »Rückgewöhnung« zur Scholle. Der deutlichste Ausdruck mißverstandener Natur unsrer Zeit ist eben jene Forderung der Rückkehr zur Natur, denn sie faßt die Natur nicht als das in immer neuen Formen webende Leben, sondern sie wird diesen Aposteln ein durch Abstraktionen willkürlich hervorgebrachter Begriff.


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