Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Mode

Zur Psychologie der Mode

Die Macht der Mode beruht auf einer Fiktion; es wird eine mustergültige Gesellschaft angenommen, die in ihren Bedürfnissen besonders verfeinert und in deren Ausdruck besonders vollkommen ist, die täglich von neuem die Formel findet für das Gleichgewicht zwischen aristokratischer Überlieferung und den Forderungen einer neuen Zeit, sie ist bis zu einem gewissen Grade konservativ, doch skeptisch gegen alles Veraltende, bis zu einem gewissen Grade fortschrittlich, doch viel zu sehr Erbe, um zu radikalen Reformen oder Versuchen behufs allgemeiner Weltverbesserung zu neigen. Erst das dem siedenden Kessel des Fortschrittes schlackenlos und lauter entströmende Metall, das nur noch der Prägung harrt, dünkt ihr der Beachtung wert, und sie ist der Präger. Praktische Entdeckungen und Erfindungen, wie Elektrizität und Automobilismus, deren Vorzüglichkeit leicht kenntlich ist, werden naturgemäß schneller von ihnen angenommen als die vielumstrittenen Sätze moderner Weltanschauung, Sozialpolitik, Ästhetik, Mystik. Auf diesen Gebieten charakterisiert jene Olympier eine mehr konservative Skepsis.

Scheinen sie auch in ihrem Kern sehr abgeschlossen, so verbürgt doch schon der vollkommene Besitz ihrer Formen die Zugehörigkeit zu ihnen, denn man bedarf einer, dieser Gesellschaft verwandten, ganz bestimmten Triebrichtung und Begabung, um ihrer Formen wirklich mächtig zu sein. Diese Gesellschaft ist nicht gleichbedeutend mit den Adeligen, den Reichen, nicht einmal mit dem, was man unbestimmt »die gute Gesellschaft« nennt, sondern sie ist überall zwischen den Klassen eingeschichtet.

Wie gesagt, diese gleichzeitig konservative und fortschrittliche Gesellschaft ist eine Fiktion, wie der ewig blaue Himmel Italiens, die Selbstlosigkeit der Mutterliebe oder die Überlegenheit der germanischen Rasse. Es gibt bekanntlich gewisse höchst großartige und zahllose achtbare Existenzen, die sich der Herrschaft der Mode absichtlich, noch öfter aus Gleichgültigkeit entziehen, und ausgemachte Trottel tänzeln häufig hochbegabt hinter dem Karren der Mode einher. Aber etwas Wahres steckt nun doch hinter dem ewig blauen Himmel Italiens trotz den Äquinoktialstürmen, hinter der Selbstlosigkeit der Mutterliebe trotz Medea und dem Märchen vom Machandelboom, hinter der Überlegenheit der germanischen Rasse trotz den deutschen Sittlichkeitsvereinen.

Ganz gewiß haben nicht die allerbesten Franzosen, sondern teilweise sogar die allerschlechtesten an den Höfen Ludwigs des Vierzehnten, Fünfzehnten und Sechzehnten gelebt, aber der Ausdruck des jeweiligen französischen Lebensstils, der Mode, wurde an diesen Höfen gefunden, und auch die Allerbesten fügten sich ihr ohne viel Nachdenken, als einer ganz hübschen Sache.

Im Leben ist das Wichtigste, daß überhaupt etwas geschieht, daß sich ein paar Leute, gescheite und dumme, wie sie der Zufall durcheinander wirft, zusammen tun und etwas aufbauen. Es ist sehr leicht, klug beiseite zu stehen und zu sagen: »Was diese Leute schaffen, wird etwas Unvollkommenes werden, ich tue nicht mit, denn mir schwebt eine höhere Vollkommenheit vor«. Schwebt vor! Diesen anspruchsvollen Ideologenstandpunkt nennt man Individualismus. Er sollte nach § 218 des Strafgesetzbuchs als Verbrechen gegen das keimende Leben bestraft werden. Alles nicht durch Hinz oder Kunz von Hirnes Gnaden Aufgestellte, sondern spontan und anonym Gewordene hat Recht auf Anerkennung; so auch die Mode, die man mit dem Troste skeptischer Ironie lächelnd im Ganzen annehmen sollte, womit nicht gesagt ist, daß jemand etwas tun oder tragen muß, was ihm nicht steht, nur weil es Mode ist. Wer sie recht begreift, sieht in der Mode keinen Zwang, sondern eine Erlaubnis.

Auch heute sehen wir die Mode aus gewissen, keineswegs das ganze Leben der Zeit zusammenfassenden, aber doch beträchtlichen Kreisen kommen. Die heutige Herrenmode ist englischer Herkunft und hat ihre Prägung durch den klügsten europäischen Monarchen unserer Tage erhalten, der während seiner reichlichen Mußestunden als Thronfolger in einem internationalen Kreise lebte, wo sich alter Aristokratismus mit modernen Neigungen berührte, mit amerikanisch-geschäftlicher »Smartneß« und mit diesen neuartigen Reizen, die das Sportleben hervorbringt, also kein ganz Unberufener zum Schaffen oder richtiger zum Erlauschen werdender Formen und zum Festhalten. Der Geist dieser Mode ist genaue Knappheit und Ächtung allen pittoresken Ungeschmacks.

Der Charakter der Herrenmode ist vorwiegend Zweckmäßigkeit, den Charakter der Frauenmode bestimmt vorwiegend Phantasie, aber die moderne Frau ist ein wenig unsere Kameradin geworden, sie ist nicht mehr bloß Hüterin des Hauses und Herrin des Salons, wo sie, auf französische Manier unpraktisch und hübsch angezogen, die Huldigungen derer entgegennimmt, die von draußen aus der rauheren Welt des Mannes kommen: sie ist selbst bei vielem dabei, sie treibt z. B. Sport. Die Ausdehnung der Großstädte, die Zerstückelung des Lebens in kleine Haushalte mit wenig Dienstboten stellt an ihre Beweglichkeit bedeutende Ansprüche, und so sehen wir – selbst in Paris – die lakonische Solidität der Herrentracht in das liebenswürdige Firlefanzreich der Frauenmode eindringen: das von einem Manne gearbeitete Schneiderkleid hat einen entscheidenden Sieg davongetragen, es ist das typische Alltagskleid der modernen Frau geworden; die anmutige Phantasie der Schneiderinnen muß sich an Gesellschaftskleidern schadlos halten.

Die heutige Mode befriedigt Industrielle, Geschäftsleute aller Art, Techniker, Theater-, Variete- und Zirkusleute, impressionistische Maler, Komödienschreiber, die besseren Zuhälter, die Oberkellner großer Hotels, Chauffeure, Sportsmen usw., kurz, die ausgesprochenen Typen des modernen Lebens und ihre Damen. Alle diese Menschen haben Gründe, ihre Modernität wenigstens formal an den Faden der Überlieferung anzuknüpfen. Von der heutigen Mode vollkommen übergangen ist der Ideologe: der Oberlehrer und seine modernen Erscheinungsformen als Kunstvernünftiger, Lebensreformer usw. Diese Klasse hat eine charakteristische Abneigung gegen steife Hüte, Tennisanzüge, Pyjamas, besonders gegen den modernen Frack. Alles dies bedeutet ihnen das feindliche Prinzip des Amerikanismus, gegen das sie ein verwässertes Humanitätsideal vertreten. Entweder bleiben sie ganz nach rückwärts gekehrt in vormärzlicher Verträumtheit sympathisch dem schwarzen Bratenrock treu mit schwarzer Hose und einer Form Umlegkragen und fester schwarzer Halsbinde, deren Bezugsquelle ihr Geheimnis ist (denn in den Auslagen der Geschäfte sieht man so etwas seit 20 Jahren nicht mehr), oder aber sie machen, vollkommen überlieferungslos, bewußt Front gegen die »konventionelle Schablone«, das Modejournal, das »Gigerltum«, den Salon, um aus willkürlich zusammengesuchten antiken und Biedermeier-Erinnerungen sowie philosophischen, besondere ethischen Theorien die dem in ihrem Sinne modernen, d. i. individualistischen Menschen entsprechende Kleidung abzuleiten. Hier ist der Herd des Widerstandes gegen die Mode, die Parole heißt: Persönlichkeit, die Losung: Innerlichkeit, das Schlachtgeschrei: ästhetische Kultur.

»Ist das nun nicht idealer, als sich herdenmäßig dem Zwange der Mode zu fügen?« fragen viele durch verkehrte Bildung gelähmte Geister, die man gelehrt hat, alles Unzweckmäßige als edel und groß zu empfinden. Nein, es ist nicht idealer, sondern bloß schief gedacht. Nichts ist, wie gesagt, leichter, als vom individuellen Gesichtspunkte aus die Mängel des spontan Gewordenen zu erkennen, nichts ist z. B. billiger, als den lieben Gott zu kritisieren und im einzelnen die Unsinnigkeiten seiner Welt zu erweisen. Die pessimistische Philosophie hat das mit einigem Geist versucht und die impulsive Genialität unseres alltäglichen Ärgers stellt beständig Fragen, die für den Urheber dieser Welt sehr peinlich sein, müssen. (Warum sind wir Menschen z. B. so entsetzlich dumm, bösartig und unsauber, wozu haben wir den Wurmfortsatz des Blinddarms, was soll die Laus in der Welt, was der indische Sandfloh, was bedeuten die Balkanstaaten, der sächsische Dialekt, die Sittlichkeitsbewegung deutscher Frauen, usw.?) Alle diese Fragen sind sehr berechtigt, aber jedes unfruchtbare Hirn vermag sie zu formulieren, ohne daß darum das schöpferische Talent des Welterschaffers oder die Pracht der Erde in Frage gestellt wird.

Versucht ein Individualhirn verbessernd in den Strom der unpersönlichen anonymen Lebenserscheinungen einzugreifen, so entsteht immer etwas Furchtbares: zunächst ein System, dann kommen Schulmeister und Pedanten, die es vertreten, Fanatiker, die es übertreiben, und wenn sie können, revolutionären Henkern das Schwert in die Hand drücken, um in dem Fleisch der Menschheit zu metzgern. Alle dem Hirn einzelner entstammenden Reformen haben das bisher gezeigt. Robespierre war nichts als ein Pedant mit unbegrenzter Vollmacht, ein Schulmeister, der statt der Gewalt, nachsitzen zu lassen, die Gewalt besaß, Köpfe abzuschlagen. Sätze und Aussprüche wie diese: »Alle Menschen sind gleich«, »die allgemeinen Menschenrechte«, »Recht auf persönliche Ausgestaltung des Lebens«, »individuelle Kleidung«, das alles sind vollkommen gleichwertige Ausgeburten grober Individualschädel, welche die reizvolle Kristallisation sozialer Gruppenbildung im warmen bunten Fluß des Werdens und Vergehens nicht begreifen, aus dem ungerufen Formen tauchen, um einen Augenblick zu bezaubern und wieder zu verschwinden. Die Asiaten finden solche Lebensmißverständnisse unendlich lächerlich.

Man kann ein Gemeinwesen durch kluge Steuergesetzgebung vom Zusammenbruch retten, man kann Aktiengesellschaften sanieren, man kann verfettete Vielfraße durch Holzhacken und Diät dem Menschlichen näher bringen, man kann ein gespanntes Eheverhältnis durch Einstreuung von Kindern erträglich machen, überhaupt bleibt dem Willensmenschen vieles Wertvolle zu tun auf der Welt, aber das zwang- und sinnlos Gewordene, die Sitte, die Kultur, die Mode, läßt sich nicht vom archimedischen Punkt eines Einzelhirnes beeinflussen, zerstören kann natürlich ein einzelner immer, falls er die Macht hat, aber Kultur kann man ebensowenig machen wie Natur, man kann sie bloß tottreten oder still wachsen lassen.

Bis zu einem gewissen Grad bedarf freilich dieser Satz einer Einschränkung. Es gibt Einzelwesen, wie der frühere Prinz von Wales, oder große Schauspielerinnen und Halbweltdamen, deren persönliche Art einer Mode die Prägung zu geben vermag. Ich stelle mir vor, daß im Winter 1905/06 einmal in Paris eine liebenswürdige Dame vorm Spiegel saß und durch Zufall ihre Toque schräg auf den Kopf setzte, oder daß ein Freund sie ihr mutwillig (mit der für die Frisur notwendigen Vorsicht) quer auf den Kopf legte. Ich stelle mir weiter vor, daß die liebenswürdige Dame von diesem Mutwillen nicht lange gekränkt war, sondern plötzlich einen kleinen entzückten Schrei ausstieß und rief: »Das steht mir ja ausgezeichnet, ich behalte den Hut heute abend so auf, du wirst sehen, ich werde gefallen.« In einem Restaurant sahen das andere liebenswürdige Damen, und da die Erfinderin für ihren guten Geschmack bekannt war, wurde das Quersetzen gewisser Hüte für einige Zeit Mode, ich glaube, ein Jahr später wußte man's schon in Berlin und in weiteren sieben Jahren haben es auch die kleinen Bürgersfrauen in Winsen a. d. Luhe oder in Irrelohe begriffen. Solch ein Modewechsel wird allerdings meist durch ein bestimmtes Individuum verursacht, so wie das Volkslied irgendeinen, wenn auch gewöhnlich unbekannten Urheber hat. Ja, das Individuum kann sogar bekannt sein und der Mode seinen Namen geben, auf keinen Fall aber tritt es wie ein Professor hervor, erhebt die Rechte und beweist, daß a) aus organischen, b) aus konstruktiven, c) aus hygienischen Gründen (was manche Leute bei uns zusammen ästhetische Gründe nennen) gerade gesetzte Frauenhüte eine Verirrung des Geistes sind, wie Witwenverbrennung, konventionelle Ehen oder die Erasmussche Aussprache des Griechischen, daß nur der schiefgesetzte Hut hinfort der sittlichen Forderung aufrichtiger, modern-individualistischer Lebensauffassung entspreche. Alle diese antipathischen Vorgänge haben nicht stattgefunden, sondern ein liebenswürdiges Menschlein hat aus der zufälligen Chemie seiner Lebenssäfte, bedingt durch das letzte Frühstück und die letzte Liebesangelegenheit, einen glücklichen Einfall entbunden, der nun wie ein guter Witz ein paarmal wiederholt wird, verblaßt und später vielleicht einmal eine Auferstehung erlebt.

Wann kann ein solcher Einfall zur Mode werden? Wenn er für eine als bedeutend oder anmutig empfundene typische Art zu leben bezeichnend erscheint. Heute ist z. B. folgende Art zu leben typisch: Acht bis zehn Stunden täglich Cityleben oder am Schreibtisch, geschäftliche Besuche, Empfänge und Sitzungen, jeden Monat fünf oder sechs Schlafwagen- oder Hotelnächte (Voraussetzung: bequeme, haltbare und doch der Persönlichkeit schmeichelnde, d. i. elegante Kleidung), eine Stunde später in einer Gesellschaft (Voraussetzung: vollkommener Wäschewechsel, repräsentative Feierlichkeit mit doch etwas Anmut), manchmal eine Woche Unterbrechung durch Sport und Jagd, oft in Gesellschaft von Frauen (Voraussetzung: Unverwüstlichkeit des Materials und äußerst diskrete Hervorhebung körperlicher Vorzüge). Wer so typisch lebt, gleichzeitig Sinn für Anmut und Zweckmäßigkeit besitzt und eine weithin sichtbare Persönlichkeit ist, dessen Angaben beim Schneider, Hemdenmacher und Schuster fallen für die Gestaltung der Mode ins Gewicht, er erzieht diese Leute und veranlaßt, oft absichtslos, zunächst seine Umgebung, schließlich vielleicht Europa zur Nachahmung, weil seine Ansprüche aus einem tatsächlichen, von vielen geteilten und von den meisten begriffenen Leben hervorgehen, nicht aus einer willkürlichen, Jünger werbenden Theorie, wie Quäkertum, Vegetarismus oder Frauenbewegung.

So ist z. B. in den Tropen das Pyjama entstanden, dieser klassische Nachtanzug, der erlaubt, bei großer Hitze unbedeckt zu schlafen und morgens unangezogen (doch nicht ausgezogen) im Zimmer umherzugehen. Es ist ferner das unerläßliche Kleidungsstück dessen geworden, der zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang aus Gründen der Verdauung oder der Galanterie die Korridore der großen Gasthöfe oder Ozeandampfer zu überschreiten hat. Es bietet dem Manne größere Möglichkeiten, als das veraltete Nachthemd, an dessen Komik gewiß schon manche Ehe gescheitert ist. Dieses ist ästhetisch nicht anders zu werten, als die weibliche Nachtjacke oder die Zipfelmütze. Moralisch und ästhetisch bedeutet das Pyjama das der »Nacktkultur« entgegengesetzte Prinzip der Toilettenkultur. Es wird in unserem an originellen Mißverständnissen reichen Land noch manchmal verkannt. Es will nämlich ebensowenig den Strand-, Tennis- oder Schwimmanzug, wie den Frack »ersetzen«. Es kann nicht einmal zu einer Gartengesellschaft getragen werden, selbst, wenn es aus Seide ist. Ich weiß allerdings eine Frauenrechtlerin, die in ihrem Garten im Pyjama mit Herrenstrohhut zum Tee empfängt. Die Formel für das Gleichgewicht zwischen aristokratischer Überlieferung und neuen Richtungen, wie sie die Mode ausdrückt, muß täglich etwas geändert werden, sonst stimmt sie nicht mehr; der Spannungszustand dieser beiden Kräfte wechselt, wenn auch im Augenblick unmerklich, doch auf die Dauer sehr ersichtlich. Im einzelnen, besonders im Ornamentalen, das in der Frauenkleidung vorwiegt, spielt freilich viel Laune und Willkürlichkeit hinein, ja, die Formen von vorgestern können morgen wieder modern werden. Ich weiß z. B. nicht, welchen neuesten Umwälzungen in der weiblichen Seele die kurzen Ärmel entsprechen, die noch vor kurzem so hübsch die Vorderarme und Handgelenke freiließen, sie waren wahrscheinlich der »Evolution der weiblichen Psyche« einiger Saisons so gemäß, wie vorher die bis an die Fingerwurzeln reichenden Ärmel, die wir heute nicht mehr ertragen würden, und wie haben sie uns vor Jahren entzückt! Es ist mir auch unbekannt, welchen Wandlungen des modernen Mannes es entspricht, daß man seit ein paar Jahren wieder schwarze Jackettanzüge mit Seidelitzen einfaßt. Vorher hätte man das für das Ergebnis eines nur allzu praktischen Übereinkommens zwischen einem sächsischen Philologen und seinem gefügigen Flickschneider gehalten.

Das beweist die Verrücktheit der Mode, wird man sagen. Aber ist sie verrückter als irgend eine andere menschliche Erfindung, z. B. die sittliche Weltordnung, trotz welcher so oft das Laster über die Tugend siegt, oder die poetische Gerechtigkeit, die so leicht zum Verfassen schlechter Tragödien aufreizt?

Die Mode ist, als gegenwärtige Tatsache, höher als alle Kunstvernunft, sie bringt z. B. fertig, daß Tournüren wirklich nur dann gemein sind, wenn gerade keine getragen werden. Weite Westenausschnitte wirken, wenn hohe Westen Mode sind, als aufdringliches Prahlen mit frischer Wäsche, und hohe Westen beunruhigen in der Zeit weiter Ausschnitte über die Reinlichkeit des hoch zugeknöpften Herrn aufs äußerste. Alles dies vermag die dumme Mode, während das hochentwickelte Hirn, zu dem Herr Schulze-Naumburg gehört, nicht erreicht, daß z. B. Reformkleider und quadratförmige Schuhe schön werden. Drückten sie wenigstens das Leben der irregeleiteten, manchmal lieblichen Opfer aus, die darin stecken, so wie der »cul de Paris« unbedingt dem Geschmack jener derben Generation entsprach, die in den ersten Semestern war, als wir in Sexta saßen!

Gegen das Grundsätzliche der heutigen Mode, z. B. die schwarze Nüchternheit unserer vielgeschmähten Herrentracht, ist nichts zu sagen: sie entspricht ganz der Zeit zwischen 1870 und 1890, ja, sie ist das einzige nicht lügenhafte Kunstgewerbe, das jene gottverlassene Zeit hervorgebracht hat. Seitdem redeten der gelbe Schuh, der Flanellanzug, der Panamahut von einem neuen, lustigeren Geist, der uns vielleicht noch den farbigen Frack bescheren wird, vielleicht auch Escarpins und kurze Hosen, wenn einmal die Sportwade die Ideologenwade ganz verdrängt haben wird. Diese sich ankündigende neuartige Schönheit hat nichts zu tun mit jenen gewaltsamen Kleidungsreformen, in denen nur ein ohnmächtiger Pariaprotest gegen die Überlieferung zu erblicken ist.

Mag eine Kultur noch so unvollkommen sein, das, was der Paria an ihr angreift, ist immer gerade das, was der Erhaltung wert ist. War das ancien régime hundertmal zum Untergang reif, der Jakobiner ist doch im Unrecht. Mag unsere Kleidung auch verbesserungsbedürftig sein, ein gutes hat sie, daß sie überhaupt gewisse Bindungen schafft. Und gerade das greift der Paria an, der neuerdings alles auflösen will.

Es ist ein Zeichen unästhetischen Empfindens, instinktbarer Vernünftelei, wenn jemand behauptet, seine Seele sei auf der Flucht vor moderner Häßlichkeit und erlabe sich nur noch an vergangener Schönheit. Wer die Schönheit seiner Zeit nicht versteht, versteht die vergangene noch weniger. Man kann zu dieser erst von jener aus gelangen. Wer für Velasquez schwärmt und Manet nicht begreift, wer das Peplon schätzt und ein gutsitzendes Gesellschaftskleid ablehnt, der sucht im Alten die Geschichte oder Gott weiß was, auf keinen Fall die Schönheit. Glauben im Ernst die Leute mit langen Haaren und flatternden Halsbinden schöner zu sein als die knapp Gekleideten?

Ein Hauptgrundsatz, der freilich seltene Ausnahmen zuläßt, ist: Es genügt nicht, daß ein gutes Kleidungsstück aus vorzüglichem Material besteht, ausgezeichnet geschnitten ist und der Erscheinung des Trägers entspricht, es darf auch das gegenwärtige Gesamtbild der bekleideten Menschheit nicht stören. Gewiß können jene Vorzüge eine gewisse über allen Modelaunen stehende Überlegenheit geben, wenn man alles Übertriebene vermeidet. Wer sich aber irgendwie »ausgesprochen« anzieht, kann es nur ausgesprochen modern tun, falls er nicht barbarische Mißklänge mit der Umwelt schaffen will. Dem Worte »barbarisch« haben absolute Geister einen falschen Begriff gegeben; es ist unrichtig, die moderne Kleidung im Vergleich zur griechischen barbarisch zu nennen, denn sie hat ihren Stil; wer aber den sogenannten »Mut« besitzt, im Peplon oder in der Toga auf der Marine-Parade in Brighton zu erscheinen oder als Christus stilisiert auf der Strandpromenade in Nizza aufzutauchen, der ist barbarisch, er tut ästhetisch genau dasselbe, wie der barfüßige Stänker im Jägerhemd oder der alle Formen vernachlässigende Bohémien, er schafft Mißklänge. Die Behauptung, sein Gewand sei an sich schön, ist falsch. Nichts ist an sich schön. Wenn einer wunderschönen Frau etwas Wunderschönes, z.B. ein Stück Apollo von Belvedere aus dem Ohr wüchse, so wäre das noch gräßlicher als ein Weichselzopf, während man an Bäumen Flechten beobachten kann, die wie Weichselzöpfe aussehen, und prachtvoll sind. Es gibt nichts Geschmackloseres, als das Individuelle in der Kleidung zu betonen, wie es viele Künstler, Vegetarier, Antivivisektionisten und sonstige Lebensreformer tun. Überhaupt, es muß einmal gesagt werden, nirgends gibt es heute mehr Ungeschmack als in gewissen Künstlerkreisen, die meinen, damit wär's getan, daß man Raffael für »Kitsch« hält.

Freilich: diese grundsätzliche Bejahung der Mode bejaht nicht die Gepflogenheiten des heutigen Händlertums, Ihrer Herrschaft, nicht der Modeherrschaft gilt es, sich zu entziehen. Die Modeherrschaft zwingt die Händler, den Käufern immer wieder Neues zu bieten. Die Händler aber zwingen heute, immer wieder Neues zu kaufen, indem sie künstlich den Modewechsel beschleunigen. Die Mode soll wechseln, aber langsam, nur so kann sie Stil werden. Dies aber verhindert der heutige Händler aus Gewinnsucht.


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