Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Lebenskunst

Lebenskunst

Das Kunstwerk ist gewissermaßen eine Aufspeicherung von Kräften, die der Künstler aus dem Chaos der ihn umgebenden Welt abgeleitet hat. Durch seine Tätigkeit werden Unglück und Leiden aller Art so unter ein Gesetz geordnet, daß ihre Betrachtung für uns lustvoll wird. Der Künstler setzt also vor die negativen Ereignisse positive Vorzeichen. Lebenskunst ist die Anwendung dieses Grundsatzes der Umformung auf das Leben. An sich ist unser Leben ein sinnloses Chaos kleiner, vorzugsweise unlustvoller Ereignisse. Aber wir haben Mittel, diesen Ereignissen einen positiven Sinn zu geben. Natürlich will jeder Mensch positives: Glück, Ansehen, Liebe, Reichtum usw. Um aber Positives wirklich zu erreichen, müssen wir es – das klingt zunächst selbstverständlich – mit äußerster Schärfe erkennen und mit äußerster Inbrunst lieben. Wie wenig selbstverständlich das ist, merken wir, wenn wir beobachten, was die meisten Menschen tun. Zunächst: Erkennt ihr Geist das Glück? Keineswegs. Sie haben vielmehr nur ganz unklare Vorstellungen von sehr viel Geld, von Erfolg-haben beim anderen Geschlecht, von Berühmtheit usw. Nur die wenigsten sind sich klar, was alle diese Dinge gerade für sie bedeuten würden, ob die Art, wie ihre Natur solche Güter verarbeiten würde, wirklich Glück zu nennen wäre. Die meisten haben vielmehr ganz konventionelle Glücksschätzungen. Zweifellos würden nun sehr viele tatsächlich glücklicher sein, wenn sie etwas mehr Geld hätten oder etwas mehr Liebe fänden. Dann könnten sie wirklich vorhandene, von ihnen selbst erkannte Wünsche befriedigen. Wir sehen nun, daß fast jeder, der seinen Geist mit Zähigkeit auf solche ganz klare, nicht zu fern liegende Ziele richtet (die ja einem fernen und großen Zweck dienen mögen), seine Ziele schließlich erreicht. Es ist, als ob seine Gedanken die magnetische Kraft besäßen, das, was sie klar vorstellen, anzuziehen, so daß sie das Chaos des alltäglichen Lebens beherrschen. Was wir aber nicht einmal klar zu denken und vorzustellen vermögen, werden wir unmöglich beherrschen und verwirklichen können. Sehr viele, besonders Frauen, verzehren sich in unfruchtbarem Sehnen nach einem romantischen Ideal der Liebe oder des Reichtums; sie denken vielleicht an Max Piccolomini oder den Trompeter von Säckingen, an einen Märchenprinzen oder den fliegenden Holländer, anstatt ihren Geist gewissermaßen als Wünschelrute zu benutzen. Ihre Erkenntnis würde ihnen die tatsächlichen Quellen des Glückes verraten, die dicht unter dem Boden ihres Alltagslebens fließen und nur befreit werden müssen. Ganz von selbst wirken klare Vorstellungen auf unser Handeln und wir werden schnell einen Schatz ererbter Lebensklugheit in uns finden, wenn wir erst genau wissen, was wir eigentlich wollen, und unser Ziel fortgesetzt klar in unserer Vorstellung tragen.

Aber nicht bloß um das Erkennen handelt es sich, sondern auch um das Lieben. Nun glaubt man wohl, jeder liebe das Glück, den Reichtum usw. Keineswegs. Ich behaupte sogar, die meisten Menschen hassen oder verachten diese Dinge, wo sie ihnen begegnen, oder haben zum mindesten sehr gemischte Gefühle. Vielmehr ist es so: Sie würden den Reichtum lieben, wenn sie ihn selbst hätten, sie würden die Liebe schätzen, wenn sie sich an sie wendete. Sie lieben nur, wenn man das lieben nennen darf, dieses Phantom von Glück, das sie für sich erstreben. Wo ihnen aber Glück in Wirklichkeit begegnet, verhindert sie der Gedanke, daß es mit fremden Personen und nicht mit ihnen verknüpft ist, es wirklich zu lieben. Hier sind wir am wichtigsten Punkt: Noch mehr als ein verwirrter Geist steht ein verwirrtes Herz dem Glück im Wege. Es gibt nichts Unfruchtbareres, Verneinenderes, Selbstzerstörerischeres als den Neid. Er ist der größte Fehler in der Lebenskunst. So wie Erkenntnis und Liebe ihre Gegenstände anziehen, so stoßen Unklarheit und Neid sie ab. Es ist, als wollte das Glück angebetet werden von denen, zu welchen es kommen soll. Man hat es oft genug mit einer launischen Dirne verglichen. Nichts zwingt sie mehr zu uns zurückzukehren, als wenn wir sie eifersuchtslos immer und überall lieben, gleichgültig, ob sie uns im Augenblick lächelt oder anderen. Wir müssen der Macht unserer Liebe zu ihr so gewiß sein, daß wir fühlen, sie wird immer zu uns, ihren standhaften Liebhabern, zurückkehren. Und diese Macht ist unwiderstehlich. Durch die Liebe zum Glück und zu den Glücklichen werden wir gewissermaßen eins mit der Substanz des Glücks auf Erden. Lächeln wir dem Glück zu und fragen wir nicht danach, ob der, zu welchem es kommt, es verdient oder nicht. Was wissen wir denn überhaupt von Verdienst? Freuen wir uns über das im Augenblick reizende Liebespaar, ohne uns über seine Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen. Sie geht uns ja ganz und gar nichts an.

Neid und Mißgunst machen den Menschen unbedingt zum Außenseiter des Glücks. Nichts ist gefährlicher als die geistige Verhüllung dieser verneinenden Gefühle, z. B. der vielverbreitete Glaube der entsagungsvoll Neidischen, nur denen, die es nicht verdienen, nähere sich das Glück; oft bleibe der Fleißige arm, während der Träge spielend gewinne, gerade leichtfertige Menschen würden am meisten geliebt, während die Standhaftigkeit oft unbelohnt bleibe; der wahre Künstler sterbe unbekannt, während der gesinnungslose Diener der Masse im Luxus lebe. Solche Erwägungen mögen wohl fremdem Leid gegenüber am Platze sein, weil sie dann in uns die bejahenden Gefühle der Teilnahme und der Anerkennung hervorrufen. Wer aber solche Ansichten als trügerischen Trost für sein eigenes Unglück benutzt, der macht sein Unglück dauernd. Die weite Verbreitung dieser manchmal für erhaben geltenden Lebensauffassung ist sogar wahrscheinlich daran schuld, daß so viele fleißige Arbeiter, standhafte Liebhaber und ringende Künstler ihr Ziel nicht erreichen. Solche verneinenden Gedanken, die im Grunde nichts anderes als eine Philosophie des Neides sind, vergiften ihre Lebenslust und stoßen das Glück ab. Wer sich auf Grund einiger Mißerfolge einredet, er sei ein Ausgestoßener, wird wirklich einer. Häufig sehen wir solches Philosophieren zu Systemen anschwellen, zur Sozialdemokratie in der wirtschaftlichen Welt, zum Puritanertum in der moralischen Welt, zu den verschiedenen Formen des Pessimismus und Nihilismus in der geistigen Welt. Das sind die verfluchtesten Sackgassen, in die ein Mensch geraten kann. Wir brauchen darum nicht tatlos und mit geschlossenen Augen den Mißständen des Daseins gegenüberzustehen. Wir können überall eingreifen und verbessern. Es handelt sich nur darum, daß vor allen unseren Handlungen das positive Vorzeichen steht. Auch Sozialdemokratie und Anarchismus behaupten zwar, sie handelten im positiven Sinn, um die schlechte Welt besser zu machen, aber das positive Vorzeichen setzen sie nur vor ihre Theorie, die im Grunde negativ ist, richtet sie sich doch gegen eine angeblich schlechte Welt. Alle, die erst zerstören und dann aufbauen wollen, sind Lügner. Sie verneinen das Leben und bejahen die Theorie, auch wenn sie sich auf Menschenliebe berufen. Diese negativen Philosophien haben eine verderbliche Anziehungskraft für schwache Naturen, die immer ernten möchten ohne gesät zu haben. Sie vergessen, daß die geringste Genugtuung die Frucht irgendeiner wenn auch vielleicht unbewußten Anstrengung ist. Um die Morgensonne im Park zu genießen, muß ich aufstehen und das langweilige Verfahren des Anziehens auf mich nehmen. Jedes angenehme Wort, das uns von Menschen gesagt wird, ist die Folge einer kleinen Tat und wäre es nur eines Lächelns, das unsere freundliche Gesinnung verrät. Aber dieses Lächeln ist notwendig. Es zieht Heiteres, Angenehmes herbei, oder vielmehr die ihm zugrunde liegende Gesinnung tut es, so wie eine verdrossene Geistesverfassung Verdrießliches anzieht und sich damit immer mehr zu einem Magneten des Unglücks macht.

Wenn ich vorhin behauptete, nur ein scharfvorstellender Geist könne das Glück anziehen, so darf sich das Herz ganz allgemein der Liebe des Daseins hingeben, um sich für das Glück zu magnetisieren. Wir können durch »Talismane« unsere magnetische Kraft vermehren. Alle Handlungen, Vorstellungen und Gegenstände, die der Verwirklichung des Glücks dienen, sind Talismane. Sie erinnern immer wieder an das Ziel, verdeutlichen es, befestigen es, nehmen selbst bis zu einem gewissen Grade etwas von der Substanz des Glücks an, kurz, machen uns eins mit dem Glück. Das aber ist Lebenskunst, daß sich der Geist durch positive Gedanken und das Herz durch positive Gefühle mit dem Glück eins macht.


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