Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Gespräch zweier Weltleute über Kunst

Ludwig Parker hat soeben eine kleine Herrengesellschaft an die Tür begleitet und kehrt zu seinem Freund, Heinrich Friesmann, in das Zimmer zurück. Beide sind Anfang der dreißiger Jahre, Parker schlank, dunkel, feine, nervös bewegte Züge; Friesmann etwas behäbig, spärliches blondes Haar. Er ist etwas erschlafft in einen Sessel gesunken.

Parker: Na, du hast dich gelangweilt, sag's nur ganz offen.

Friesmann: Offen gestanden, ja. Dieses Geschwätz über Kunst und Ästhetik in einer Zeit wie der unsrigen, die doch nach ganz anderen Zielen gerichtet ist!

Parker: Es tut mir leid, lieber Freund, daß du es so schlecht getroffen hast, aber ich bin erst seit kurzer Zeit wieder in Deutschland und konnte nicht wissen, daß sich die alten Freunde nach einer so ganz anderen Richtung entwickelt haben, wie du und wohl auch wie ich.

Friesmann: Mir war manchmal zumut, wie in einem Tollhaus, besonders als der Malersmann mit den unerlaubt langen Haaren von dem absolut Schönen redete und der Privatdozent behauptete, in dieser Zeit müsse die Kunst die Religion ersetzen, und dann beide Begriffe fortgesetzt durcheinander warf. Na, Religion, dagegen will ich nichts sagen, die muß ja wohl sein. Bei meinen Arbeitern ist mir's jedenfalls lieber, sie lassen sich mit dem Jenseits trösten, als mit dem Zukunftsstaat der roten »Genossen«. Aber was hat denn das alles mit der Kunst zu tun?

Parker: Ich bin ganz deiner Meinung, mein Lieber. Wenn ich geahnt hätte, was die paar Bilder und die Kunstsachen, die ich auf meinen Reisen gekauft und jetzt hier um mich gestellt habe, für Leute herbeiziehen, und was für ein gesellschaftswidriges Geschwätz sie verursachen würden, dann hätte ich sie wohl etwas verborgener gehalten. Aber jeder, der hier hereinkommt und die Sachen sieht, schwätzt mir von Innerlichkeit, Seele und anderen schönen Sachen und verdirbt mir fast selbst die Freude an meinen Sammlungen.

Friesmann: Du scheinst übrigens einen ziemlichen Batzen in die Sachen hineingesteckt zu haben?

Parker: Es ist mein einziger Luxus, ich spiele nicht, lasse keine Pferde rennen ...

Friesmann: Aber teuer ist's doch, was?

Parker: Natürlich, was du hier so herumhängen und stehen siehst, ist ungefähr so viel wert, wie die große Dynamo, die du mir neulich in deiner Fabrik gezeigt hast.

Friesmann: (auffahrend): Mensch, du bist wohl verrückt? Dann bist du ja schlimmer als die, welche eben weggegangen sind, denn die haben wenigstens nicht das Geld, um mit ihrem Wahnsinn Ernst zu machen.

Parker: Betrachte doch die Freude an der Kunst wie jedes andere Vergnügen, und daß Vergnügen Geld kostet, das wissen wir alle. Die kleine Nelly wird dich doch wohl auch nicht bloß deiner schönen Augen wegen mit ihrer Anwesenheit erfreuen.

Friesmann: Gewiß nicht, aber davon habe ich auch etwas. Übrigens, du, lebt der, welcher diese Frau dort gemalt hat, hier? Wenn ich so ein Bild von der Nelly haben könnte, das ließ' ich mich auch etwas kosten.

Parker: Wozu eigentlich, du hast doch die Nelly selbst?

Friesmann: Komische Frage! Hast du noch nicht gehört, daß man von Menschen, die man mag, auch gern ein Bild haben mag?

Parker: Gewiß habe ich das gehört. Es wundert mich nur bei dir, der du doch von Kunst nichts hören willst.

Friesmann: Ich will ja auch gar keine Kunst haben, sondern das Mädel.

Parker: Nein, du willst Kunst haben, denn das Mädel hast du ja sowieso.

Friesmann: Du willst mich wohl aufs Glatteis führen?

Parker: Nein, ich will dir nur beweisen, daß auch du künstlerische Bedürfnisse hast. Das Bildnis hier gefällt dir also?

Freismann: Ich kann's nicht leugnen.

Parker: Was gefällt dir daran?

Freismann: Es ist so natürlich.

Parker: Diese Antwort habe ich erwartet. Es ist aber gar nicht natürlich.

Freismann: Mir gefällt es.

Parker: Mir auch, aber nicht, weil es natürlich ist.

Freismann: Sondern?

Parker: Sondern weil es künstlerisch ist.

Freismann: Das sind Wortklaubereien.

Parker: Hast du je in der Natur solche verschwommene Linien, solche ineinanderfließende Farben und dann wieder so ausdrucksvolle Hände und Lippen gesehen?

Freismann: Es ist natürlich geschmeichelt.

Parker: Auch nicht. Die Frau wirkt doch hier eigentlich gar nicht besonders schön.

Freismann: Da hast du allerdings recht.

Parker: Und doch ist etwas darin schöner als die Natur, ja man könnte sagen, natürlicher als die Natur, nicht?

Freismann: Du drückst es gar nicht schlecht aus.

Parker: Ich gebrauche nur einen Ausdruck von dir. Dir gefiel das Bild, weil es so natürlich ist. Das, was dir daran als das Natürliche erscheint, obwohl es doch in der Natur, wie du zugibst, gar nicht vorkommt, das ist eben das Künstlerische.

Freismann: Dann wäre ja die Kunst eine ganz einfache Sache?

Parker: Ist sie auch, denn wie mit den Bildnissen geht es mit allem Dargestellten. Landschaften, Interieurs, Stilleben, sie alle geben eine Verdichtung des Lebens wieder, die uns trotz ihrer Unwirklichkeit bisweilen mehr erfreuen kann, als das Leben selbst in seinen mehr oder weniger unvollkommenen Erscheinungen. So ist die Kunst weniger und zugleich mehr als das Leben; weniger, weil sie nicht Gegenstand, sondern nur Bild ist, mehr, weil das Bild den Sinn, die Form, den Rhythmus der Gegenstände eindringlicher ausdrückt, als es die Natur selber vermag.

Freismann: Ich glaube, du hast recht, nur sprich mir nicht von Rhythmus, sonst muß ich wieder an das abstrakte Geschwätz von vorhin denken.

Parker Ich danke dir, daß du mich warnst, denn ich will beileibe nicht abstrakt werden. Ich glaube, die ästhetische Freude setzt sich zusammen aus unbewußten Erinnerungen an Lustgefühle und Schönheiten aus der Wirklichkeit und Sehnsucht danach. In der Freude am Wald, auch an einem gemalten, zittert sicher lebhaft die Erinnerung an einst unter Bäumen genossene schattige Kühle mit. Die Darstellung des menschlichen Körpers faßt gewiß Erinnerungen und träume höchster Liebeserfüllungen zusammen und diese Zusammenfassung kann so vollkommen und groß sein, daß sie tiefer als die reizendste Wirklichkeit berührt, ja daß sie, im Augenblick wenigstens, diese keusch verschmähen lehrt.

Friesmann: Sehr wahr. Jetzt wird mir klar, warum ich mir auf Reisen antike Statuen lieber ohne die Nelly ansehe. Ihre wirkliche Anwesenheit stört mich geradezu.

Parker (lächelt): Es ist erstaunlich, wie ausgesprochen ästhetisch du zu empfinden vermagst.

Friesmann: Das ist also ästhetisch?

Parker: Ohne Zweifel.

Friesmann: Aber wie erklärst du dir dies, daß auf vielen Bildern Sachen dargestellt sind, an die man doch keine lustigen Erinnerungen mitbringen kann?

Parker: Das erklärt sich zum Teil daraus, daß es eine Ausdrucks- und Charakterschönheit gibt, die, von reinen Linien- und Farbenharmonien unabhängig, Lebensinhalte ausdrückt, die uns wertvoll sind; aber ich gebe zu, daß auch das absolut Unangenehme ästhetisch zu einer lustvollen Wirkung gebracht werden kann. Die Römer z. B. haben die Schönheit der Alpennatur nicht erkannt. Sie sprachen von der Scheußlichkeit der Alpen (foeditas Alpium), ihnen waren sie nur das feindliche, wüste Gebirg. In dem Maße nun, als der Mensch einer wilden Natur praktisch Herr wird, lernt er, sie auch ästhetisch zu empfinden: aber wir wissen eigentlich nicht, ob wir die Wucht der Bergformen, die Öde der Felsentäler, die Unabsehbarkeit der Schneeflächen genießen oder unser erweitertes Selbst, das sich gegen die »foeditas« dieser Dinge innerlich gewappnet weiß. Dies ist das Rätsel aller Kontrastwirkung. In dem künstlerisch dargestellten Pathos des Todes genießen wir das Leben, denn der Tod ist schlechterdings schrecklich, aber ihn aus Lebenstrunkenheit nicht persönlich nehmen, sondern nur in seiner großen Schicksalstragik fühlen, d. h. seine Furcht individuell überwinden, das ist die herrlichste Kontrasterscheinung, deren die menschliche Seele fähig ist; bei aller ethischen Bedeutung, die es hat, ist es ein wesentlich ästhetisches Phänomen der Lust.

Friesmann: Und wenn Regen und Sturm an eine Alpenhütte rütteln, in der man beim Feuer sitzt, genießt man die Hütte und ihr Behagen und nicht, wie man glaubt, den Aufruhr der Elemente.

Parker: Niemals würde man Winterlandschaften schön finden, wenn es keine Pelze und Öfen gäbe, die unser Dasein steigern, indem sie es des Winters Herr werden lassen. Am stärksten empfinden wir solche Steigerung natürlich in der künstlerischen Darstellung, die eine Bändigung der Zufälligkeiten des mühseligen Daseins durch den reinen vollkommenen Ausdruck ist.

Friesmann: Wie kommt es aber, daß gewisse Dinge uns auf dem Bild oder auf der Bühne Freude machen können, um die wir im Leben einen weiten Bogen beschreiben würden, weil uns ihre Kontrastwirkung rein unangenehm ist?

Parker: Das sind die Dinge, denen wir in der Wirklichkeit, falls wir ihnen nahe kommen, zu sehr preisgegeben sind, die wir zu wenig bändigen, um sie als Kontrast genießen zu können. Erst die Darstellung bändigt sie und macht sie dadurch lustvoll. So würden wir z. B. über eine dramatische Darstellung der Gesellschaft, die uns eben verlassen hat, lachen und ihren Kontrast zu dem, was wir für wertvoll halten, genießen, während sie uns in der Wirklichkeit recht auf die Nerven ging. Ja, die Darstellung solcher Dinge kann uns darum besonders interessieren, falls wir nicht jenem Bauer gleichen, der nach der Ouvertüre das Theater verließ, weil ihn die Familienverhältnisse nichts angingen, die auf der Bühne verhandelt wurden.

Friesmann: Du findest also im Gegensatz zu dem Maler von vorhin, daß es doch auf den Stoff in der Kunst ankommt?

Parker: Ja und nein. Es ist natürlich nicht der Stoff, der uns am Kunstwerk anzieht, sondern es ist seine Meisterung. Die Bedeutung eines Sieges hängt aber wesentlich von der Art des Besiegten ab und von dem Verhältnis, in dem wir zu dem Besiegten stehen. Das drückt sich beim Kunstgenuß in den Assoziationen aus, die jemand ohnehin zu dem Stoff hat. Insofern ergreift auch den künstlerisch Empfindenden der Gegenstand. Während den Unkünstlerischen der interessante Stoff allein, auch falls er nicht oder nur halb bemeistert ist, freuen kann, fühlt sich jener dann besonders unbefriedigt, wenn er besondere Neigung zu dem Gegenstand mitbringt, so wie uns das mißlungene Bildnis einer geliebten Person mehr ärgert, als das einer unbekannten.

Friesmann: Das gebe ich zu.

Parker: Ästhetische Wirkung ist also: durch sinnliche Eindrücke Empfindungen erregen, die wir zwar einzeln aus der Wirklichkeit kennen, aber doch niemals so tief und rein finden, sie können durch das Mittel der Kunst scheinbar zur phantastischsten Unwirklichkeit gesteigert werden, die ja nur eine verborgene Wirklichkeit ist.

Friesmann: Wie erklärst du aber die Tatsache, daß einzelne Dinge und besonders Menschen schon in der Wirklichkeit eine ästhetische oder unästhetische Wirkung haben?

Parker: Auch durch die Erinnerungen, die sie, oft ahnungslos, wachrufen. Je mehr wir vom Leben kennen, desto häufiger werden uns seine Formen Erinnerungen erwecken, die daran schuld sind, daß der Erfahrene so empfindlich und wählerisch wird.

Friesmann: Wie meinst du das?

Parker: Mir fällt seit meiner Rückkehr auf, wie wenig feinhörig man in Deutschland für die Erinnerungen ist, welche die Worte, Manieren und Gebärden hervorrufen. Man verwirft hier so leicht die Konvention als etwas Äußerliches und vergißt, daß sie sehr lebendig wird durch die angenehmen Erinnerungen an gute Gesellschaft, die ihre im einzelnen vielleicht unvernünftigen Formen erwecken.

Friesmann: Du sprichst mir aus der Seele. Darum sind mir Frauen so unausstehlich, die gewisse Jargonworte gebrauchen, ohne zu ahnen, daß sie dadurch eine Kneipen- oder Kommisatmosphäre um sich schaffen.

Parker: Die Ästhetik ist für die Seele, was die Hygiene für den Körper, oder sie ist vielmehr die Hygiene der Seele. Unser ganzes gegenseitiges Verstehen beruht auf Assoziationen, die aus den paar Eindrücken, die wir von jemand empfangen, einen Menschen ergänzen. Bei uns ist eine feinere Geselligkeit darum so schwer, weil die meisten Menschen aus Mangel an Erziehung neben dem Grundton ihres Wesens ungewollte und unerwünschte Nebengeräusche hervorbringen. Sie selbst ahnen nicht, was für Assoziationen ihr Betragen oft erweckt. Bei uns sind die meisten in jenem an meiner heutigen Gesellschaft auffallenden, religiös-metaphysischen Mißverständnis des Ästhetischen befangen, was ihnen, die so entschieden geschmacklos wirken, gestattet sich »Künstler« zu nennen. Die so denken wie du, Kunst sei ein nebensächliches Spielzeug, bestenfalls eine äußerliche Freude an schönen Formen, sind nicht die geeigneten Bekehrer.

Friesmann: Vielleicht wird dir meine Bekehrung noch gelingen; ich merke, daß sich meine Geringschätzung gar nicht gegen die Kunst richtet, sondern nur gegen das Geschwätz, das um sie herum gemacht wird. Vergiß übrigens nicht, mir die Adresse des Mannes zu geben, der die kleine Nelly malen soll.


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