Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Das Schamgefühl

Das echte Schamgefühl bezieht sich nicht auf die Nacktheit, sondern auf die Begierden. Der Nacktheit schämt man sich nur mittelbar, indem sie Begierden zu entfachen vermag oder zeigt. Darum besitzen wirklich unschuldige Kinder, d. h. solche, die noch nichts von Begierden wissen, von Natur kein Schamgefühl, und Adam und Eva schämen sich erst in dem Augenblick, da sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. Etwas ganz anderes ist das konventionelle, auf Moral beruhende Schamgefühl. Es findet sich naturgemäß in dem moralistischeren Norden mehr als in dem harmloseren Süden. Dieses konventionelle Schamgefühl kann gleichzeitig mit vollkommener natürlicher Schamlosigkeit vorkommen. Man hat oft das Betragen gewisser Brautpaare und Hochzeitsreisenden der anständigen Haltung der Kurtisanen französischen Stils entgegengehalten. Diese erlauben öffentlich keinerlei Freiheiten, während jene Brautpaare in dem Irrtum befangen sind, ihre öffentlichen Liebkosungen seien darum nicht schamlos, weil sie gesetzlich sind, d. h. der bestehenden Moral nicht widersprechen. Hier ist die Moral vollkommen an Stelle des Schamgefühls getreten, und nirgends wird der Unterschied der beiden Begriffe klarer. Man hat manche etwas verwahrloste Karnevalsbälle dadurch entschuldigen wollen, daß die Öffentlichkeit dieser Verwahrlosung sie eigentlich ungefährlich mache. Das Schamgefühl hat aber mit Gefährlichkeit gar nichts zu tun. Eine Frau kann nach dem siebenten Geliebten noch Schamgefühl besitzen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß eine Jungfrau ein schamloses Geschöpf ist. Ja, gerade eine allzu bewußte Keuschheit kann einen Mangel an Scham verraten. Wahre Unschuld und körperliche Keuschheit können bei manchen Temperamenten nicht lange nebeneinander bestehen, denn eines Tages wird sich die Keuschheit zu sehr ihrer selbst bewußt. Dann wäre es manchmal unschuldiger, nicht mehr keusch zu sein. Wer in einer der großen Tanzhallen der Halbwelt seine Hände nicht hinreichend beherrschte, würde wahrscheinlich von der belästigten Schönen etwas Gründliches zu hören, wenn nicht zu fühlen bekommen. Wer dasselbe auf einem unserer »harmlosen« Künstlerfeste tut, wo man viele ihrer Keuschheit sehr bewußte Mädchen trifft, dem wird seine Freiheit oft genug durch ein beglücktes Lächeln gedankt. Man beachte den Unterschied zwischen der Pariser und der Münchener Unmoral: Jeder hat von dem Bal des quat'z' arts der Künstler und Modelle in Paris gehört. Eine Inschrift über der Garderobe erläßt folgende Bitte an die Weiblichkeit: Les dames sont instamment priées de laisser leurs chemises au vestiaire. Dieser Aufforderung wird von vielen mit Freuden gefolgt. Trotzdem Jugend, Tanz und Alkohol dort zu allen möglichen Bejahungen des Lebens verführen, würde doch niemand wagen, eine der Damen, die so vertrauensvoll ihre Schönheit dem Schutze des Publikums empfehlen, irgendwie zu belästigen. Dagegen betrachte man die Szenen auf gewissen von jungen Damen besuchten Karnevalsfesten in München. Ein Knäuel von unbeherrschten Menschen mit unbefriedigten Sinnen. Eine Provinzfrau ruft neckisch: »Ein Küßchen in Ehren kann niemand verwehren« und versinkt mit irgendeinem Epheben in einer halbdunklen Nische. Was würden die Freundinnen in Braunschweig oder Koburg sagen, wenn sie solchen »heidnischen Lebenskult« sähen und das kleine Gänschen mitten darin! Einer ist sogar so dionysisch, das Licht auszudrehen. Was ist denn dabei? Das ist doch so harmlos. Was Ernstes kann ja gar nicht geschehen, dazu sind viel zu viele Menschen da. In einer Ecke brüllt eine etwas derber veranlagte Schar von Kunstakademikern das schöne Lied:

Menschen, Menschen san's ma alle,
Föhla hat a jedes gnua.

Brüderchen und Schwesterchen liegen umher, zu lieblichen Klumpen geballt, und finden das alles so poetisch. Sie wissen ja kaum, wie ihnen geschieht, und nach Wochen noch findet man: Wie man sich doch in Süddeutschland menschlich so viel näher kommt als in dem kalten Norden.

Niemals wird sich eine bessere Halbweltlerin öffentlich in Lagen begeben, wie sie im Fasching viele Frauen aufsuchen, die in dem grotesken Irrtum befangen sind, sie seien Damen und stünden sittlich höher als die Halbwelt, weil sie billiger und weniger gründlich sind. Nur die wirklich gute und die wirklich schlechte Gesellschaft (monde und demi-monde) wissen, was sich ziemt; was dazwischen liegt, ist meistens unsicher, das Kleinbürgertum sowie die heute vorwiegend aus ihm stammende Bohême. Das Kleinbürgertum kennt nur die Bindung der landläufigen Moral, die dem Brautpaar gegenüber im Hinblick auf die künftige Gesetzlichkeit seiner Beziehungen etwas gelockert wird. Die Bohême zieht dagegen unerschöpfliche Freuden aus der Beleidigung dieser von ihr abgeworfenen Moral. In beiden Schichten findet das echte Schamgefühl nur vereinzelt seinen Boden. Beide erklären es, wo es sich in seiner Zurückhaltung zeigt, oft für Heuchelei. Sie verachten den Menschen als Heuchler, der nach außen stets seine Haltung bewahrt, obwohl ihm die Lästerchronik allerlei geheime Geschichten nachsagt, anstatt ihm dafür dankbar zu sein, daß er die Welt mit dem Anblick seiner Privatangelegenheiten verschont. Dagegen ist man nachsichtig gegen das formlose Wesen, das sich rückhaltlos in allerlei halbe Beziehungen eingelassen hat, dem Gerede durch jeden Schritt Nahrung gibt, von alledem gar nichts hat und schließlich in der Meinung, etwas erlebt zu haben, sich bloß »unmöglich« macht und wie ein Fetzen herumgeschmissen wird. Gewiß, es mag ganz harmlose Gemüter geben, die in solchen zweideutigen, unklaren Beziehungen ein paar Wochen lang ahnungslos bleiben. Sehr bald aber müssen sie fühlen, was für Begierden hier im Spiele zu sein pflegen, und wer unter ihnen natürliches Schamgefühl besitzt, zieht sich bald angeekelt von solchem Brüderchen-und-Schwesterchen-Spielen zurück, dessen betonte Harmlosigkeit viel eher den Vorwurf der Heuchelei verdient. Der Mangel an Schamgefühl hält sich oft selbst für gerade offene Ehrlichkeit. Es gibt aber eine ganze Menge von Dingen, die man allerdings heimlich, aber nicht offen tun darf.

Vor einigen Jahren ging die Erzählung durch die Blätter, irgendwo im Orient sei eine Reisegesellschaft in die Hände von Räubern gefallen, Herren und Damen seien entkleidet und in eine Höhle eingesperrt worden, bis das erwartete Lösegeld eingetroffen war. Die Herrschaften sollen sich sehr bald an ihre Nacktheit gewöhnt und sie nicht mehr anstößig empfunden haben, während in dem Augenblick, als ihnen die Kleider zurückgegeben wurden, die Damen entschieden eine Wand verlangten, da sie sich nicht vor den Herren anziehen wollten. Das ist keinesfalls lächerlich oder frauenzimmerhaft, sondern es zeigt ein feines Schamgefühl dafür, daß Halbangezogensein ein zweideutiger Zustand ist, während die Nacktheit, von den Umständen bedingt, natürlich sein kann, aber freilich nur dann.

Altmodische Leute sind oft von der »Schamlosigkeit« der modernen Kunst entsetzt, die jüngere Generation verhöhnt diesen Standpunkt. Beide haben recht und unrecht. Zur Erklärung dieses Widerspruchs ist eine kleine Abschweifung auf das Gebiet der Ästhetik nötig. In der Kunst steigert sich das feine Schamgefühl, das alle körperliche Notdurft zu verhüllen trachtet, zum Ästhetischen. Ein Irrtum unserer Zeit ist, die Nacktheit sei an sich schön. Sie kann geradesogut häßlich sein. Nun ist zweifellos auch die Häßlichkeit ein berechtigter Gegenstand künstlerischer Darstellung. Kein künstlerisches Auge wird sich vor der prächtigen Derbheit z. B. Jordaensscher Leiber entsetzen. Der Grund ist der, daß hier die Nacktheit gar nicht schön sein soll, daß sie ohne jedes Pathos auftritt. Ebenso hat eine Dirnenszene von Goya das Vorrecht der Häßlichkeit im künstlerischen Sinne, denn hier soll ja gar nicht das Verführerische einer Aspasia, sondern gerade das an Tragik grenzende Groteske des Dirnendaseins dargestellt werden, und die Frage ist nur, ob dies wirklich herauskommt. Hier von Schamlosigkeit sprechen, ist ein psychologischer Irrtum. Ganz anders ist es, wenn jemand eine Idealgestalt auf ein Einhorn setzt und durch einen fabelhaften Wald reiten läßt, oder wenn einer eine nackte Frau auf eine Wiese stellt. In beiden Fällen benutzt er schöne Gestalten als Stoff, im einen Fall mit symbolischem, im anderen mit rein ästhetischem Anspruch. Der Künstler will in diesen Fällen Schönheit darstellen, und das muß ebenso herauskommen wie bei jenen anderen die Darstellung des Grotesk-Häßlichen. Wirken solche Gestalten dann kümmerlich oder aufgeschwemmt oder gemein sinnlich, dann fragt man mit Recht: Warum werden uns solche Häßlichkeiten enthüllt? Das künstlerische Schamgefühl ist verletzt. Das ist etwas ganz anderes als die sattsam abgedroschene Phrase, das Leben sei an sich häßlich genug, der Künstler solle daher nur das Schöne bilden. Alles vielmehr darf der Künstler bilden, das Häßliche, das Bizarre, das Lächerliche, nur soll man ihm auch deshalb das objektiv Schöne nicht verbieten. Wenn uns ein Frühlingsreigen nackter Mädchen dargestellt wird, so ist die Darstellung objektiver, schon im Stoff liegender Schönheit bezweckt, und wir können verlangen, daß uns nicht Aktstudien ausgemergelter Betschwestern oder aufgedunsene Köchinnen zugemutet werden. Solche Nacktheit wirkte in solchem Falle schamlos. Warum soll aber der Künstler, fragt man vielleicht, wenn er alles bilden darf, nicht auch ausgemergelte Betschwestern oder aufgedunsene Köchinnen darstellen? Gewiß darf er auch das, aber nicht unter dem Vorwand eines Frühlingsreigens, sondern in der Absicht, das Kümmerliche oder das Derbe, vielleicht als Zerrbild, auszudrücken. In diesem Falle hebt die künstlerische Form den Stoff auf eine Stufe, die jenseits der individuellen Scham steht. Die Alten haben die Darstellung der Nacktheit immer dadurch der Sphäre der Begierden entrückt, daß sie sie irgendwie begründeten, meistens durch Attribute, die auf das Bad oder auf das Gymnasium hinwiesen. Erst in sehr bewußten Kulturen wagt man die Nacktheit um ihrer Schönheit willen darzustellen. Dies ist in allen Zeiten, auch in Athen, ein ungeheurer Durchbruch der Sitte gewesen. Nur die Schönheit der nackten Form konnte eine solche Tat rechtfertigen. Ein häßlicher weiblicher Akt sann im Hinblick auf ein Schicksal – z. B. eine Hagar in der Wüste – durch diese Beziehung zu einem starken Mittel künstlerischen Ausdrucks werden. Wo es aber einfach heißt: nackte Frau, badendes Mädchen oder dergleichen (übrigens nicht nur heißt, sondern auch nichts anderes dargestellt ist), wirkt die beziehungslose Ausbreitung der Häßlichkeit schamlos. Daß die Schönheit eine große Reihe von Verstößen gegen die Sitte loszukaufen vermag, ist ganz zweifellos. Daß unzeitgemäße oder dem Ort widersprechende Freiheiten des Verhaltens oder Entblößungen bei häßlichen Menschen doppelt schamlos wirken, ist so klar, daß man fast versucht sein könnte, das ganze Problem leichthin zu lösen, indem man sagt: Alles ist erlaubt, wenn es sich nur durch seine Schönheit rechtfertigt. Nun, das verallgemeinert zu sehr, zumal die Meinungen darüber sehr verschieden sein können, bis zu welcher Grenze das Verhalten eines Liebespaares noch schön ist. Eine wie große Rolle aber das Ästhetische hier spielt, geht besonders hervor aus der ganz verschiedenen Scham südländischer und nordländischer Mütter. Nordische Frauen entsetzen sich oft darüber, daß die Frauen des Südens ihre Kinder vor den Blicken aller säugen. Den Südländerinnen dagegen fällt wiederum auf, mit welcher Unbefangenheit viele Frauen des Nordens bis in die letzten Tage vor ihrer Niederkunft in der Öffentlichkeit erscheinen. Die südliche Schamhaftigkeit ist bei weitem feiner, weil von dem Schönheitsgefühl eingegeben, denn während der Anblick schwangerer Frauen zweifellos leicht an Tiere in ähnlichem Zustand erinnert, gemahnt die nährende Mutter unfehlbar an die Madonna.


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