Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Nacktheit und Kleidung

Nacktheit, lehrt eine neue Ästhetik oder Ethik, sei das Natürliche. Sie findet sich jedoch vollständig in kaum einer primitiven Gemeinschaft, ihre Schönheit und Hygiene werden erst auf intellektuell-ästhetischer Kulturstufe – wie in der Renaissance – entdeckt. Wenn die Natur wollte, daß wir Kleider trügen, so wird erörtert, dann hätte sie uns, wie den Tieren, ein Fell gegeben. Darauf kann man erwidern: Wenn die Natur wollte, daß wir uns mit Nahrungsmitteln füllen, dann würden in unserem Bauche junge Hasen mit Kohlköpfen spielen. Andere sagen, die Nacktheit sei das klassische! Manche Leute stellen sich vor, die Athener wären zur Zeit des Perikles nackt auf den Straßen herumgelaufen, und dies aus dem Grunde, weil sie Hellenen waren. Der antike Mensch war nicht verletzt, wenn jemand bei Nacktheit fordernden Gelegenheiten sich entkleidete. Das ist der ganze Unterschied. Die Nacktheit als das an sich Menschenwürdige, Freie hinzustellen, ist niemand eingefallen. In Sparta zum Beispiel entkleidete man sich bei den körperlichen Übungen aus der vernünftigen Erkenntnis, daß man dann besser üben kann, weder weil es natürlich, noch weil es ästhetisch ist. Die Barbaren haben sich über diese Kühnheit nicht genug erstaunen können. Ziemlich spät entdeckte der Künstler die Schönheit einzelner nackter Körper, nicht etwa der Nacktheit an sich, aber man wagte nicht, diese Nacktheit ohne einen Grund darzustellen, das schien zunächst unnatürlich. Die Nacktheit mußte stets irgendwie durch einen Vorgang begründet sein. Erst Praxiteles wagte die Aphrodite (von Knidos) nur um der Schönheit willen nackt zu meißeln. Bewußte Nacktheit ist nicht nur das Gegenteil aller Ursprünglichkeit, sondern eine ästhetische Entdeckung der Kultur. Auf einer bestimmten Kulturhöhe mag es daher hie und da natürlich sein, wenn sich eine schöne Frau einmal einem Künstler gegenüber für sein Werk entblößt, aber nicht, weil »doch gar nichts dabei ist«, sondern weil es schön ist und diesen beiden Menschen die Schönheit allerdings natürlich geworden ist. Vollkommen unnatürlich, unanständig und rein intellektuell ist es, aus solchen Einzelfällen eine Nacktkultur abzuleiten, nach der sich mit linkischer Schamlosigkeit alle entblößen dürfen, weil sich einmal eine Göttin nackt gezeigt hat. In unserer Zeit ist Nacktheit unnatürlich und darum anstößig. Abgesehen davon ist sie meistens häßlich. Aus diesem Grunde werden gerade stark ästhetisch veranlagte Menschen für ihre Verhüllung eintreten müssen. Die Apostel der »Nacktkultur« lassen nur ihre unnatürliche, häßliche Sinnlichkeit toben und vergessen, daß natürliche Menschen nicht phanerogam sind. Für uns ist die Kryptogamie das Natürliche und Echte, und darum Anständige. Nacktheit ist ein künstlicher Zustand, erst eine hohe Kultur entdeckt ihre gelegentliche Schönheit, und die gibt sich nicht auf der Gasse preis.

Die Nacktheit ist also weder natürlich, noch an sich klassisch. Sie ist aber auch nicht ohne weiteres schön. Jene neue Ästhetik dagegen lehrt: Das schönste ist der nackte Körper. Ihm sei die Kleidung möglichst angepaßt. Was klingt einleuchtender? Nur ein Dummkopf, sollte man denken, kann dieser Logik widersprechen. Und doch liegt der Trugschluß auf der Hand. Der nackte Körper ist nämlich nicht das Schönste, sondern er kann das Schönste sein und damit zugleich das Häßlichste. Unser Dasein schwingt sozusagen in Pendelbewegung. Weil wir der höchsten Vernunft fähig sind, können wir zugleich unvernünftiger sein als ein Tier, das nichts frißt, was ihm schädlich ist. So kann kein Frosch, keine Kröte so häßlich sein wie ein verkrüppelter, vertierter Mensch, kein Raubtier ist so grausam wie ein fanatischer oder krankhafter Zweifüßler. Aber sie können auch nicht so herrlich sein wie Lionardo da Vinci oder Shakespeare. So kann man mit genau demselben Recht sagen: »Der nackte Körper ist das Häßlichste, was es gibt. Also muß er möglichst verhüllt werden.«

Es ist also ein auf der Hand liegender Irrtum, daß die Kleidung der organische Ausdruck natürlicher Linien sein soll. Geschmackvolle Leute sind immer entgegengesetzter Ansicht gewesen, sie haben die Göttin der Mode gepriesen, die es erlaubt, nicht besonders wohlgelungene aber natürliche Linien zu verhüllen, d. h. am organischen Ausdruck zu hindern. Wer solche »Unaufrichtigkeiten« verabscheut, mag ein trefflicher Moralist sein, er soll nur nicht in Fragen der Schönheit hineinsprechen. Falsche Zähne sind zweifellos schöner als zahnlose Kiefer, zwischen denen vielleicht noch hie und da wie ein bemoostes Felseneiland eine grünliche Spitze emporragt. Die Verteidiger der Schönheit verlangen ja nicht, daß gesunde Zähne oder gesundes Haar ausgerissen werden sollen, um sie durch künstliches zu ersetzen. Eine Frau von untadeligen Körperlinien kann wohl gar nichts Besseres tun, als ihrer Schneiderin auf die Finger klopfen, wenn sie, auf das Modejournal schwörend, ihr etwas zurechtwursteln will, was diese Linien stört. Für solche Frauen gibt es kaum etwas Schöneres als Kleider, die sich ihren Formen anpassen, ohne freilich zu sehr über Einzelheiten aufzuklären. Noch nie hat eine unabhängige Frau, deren Körper es nicht verlangt, ein Korsett getragen. Gerade in Paris, der Hochburg des Korsetthandels, war die Korsettlosigkeit stets verbreitet, lange, ehe man sie in Deutschland hygienisch und ethisch begründete, doch wohlgemerkt, nur unter den Frauen, die kein Korsett brauchen. Aber wieviele Brüste, Beine, Hüften vertragen diese stolze Offenheit? Die meisten Frauen – und darunter solche, die als Gesamterscheinung berauschend reizvoll sind – bedürfen für einzelne kleine und große Unvollkommenheiten oder für zu ausgesprochene Einzelheiten der wohltuenden Milderung durch Toilettenkünste. Eine Frau muß wissen – und die klugen wissen es stets – was sie zeigen darf. Das ist die Grundlage der weiblichen Schamhaftigkeit.

Die geringste gesellschaftliche Erziehung verlangt von jedem, daß von seinem Körper nichts fremden Sinnen Peinliches bemerkbar werde. Warum dürfen denn gerade die Augen so sehr durch »organischen Formenausdruck« beleidigt werden, und dies vorzüglich von Fräuleins, deren drittes Wort »Ästhetik« lautet, und die nicht einmal wissen, welche Farben zu ihrem Haar und ihrer Hautfarbe passen?

Die Schönheit soll heute wie das Kapital sozialisiert werden. Privatanmut soll nichts mehr gelten. Schönheit – so wird befohlen – ist organischer Ausdruck der wahren Körperformen. Alles andere zählt nicht mehr – Laune, Flitter, Prickelndes, kurz alles, was aus dem »ancien regime« stammt, wird »geschmacklos«, der modernen Frau für unwürdig erklärt. Eine wahre Körperform aber haben sie alle (Gott sei's geklagt!). Die Anmutlosen jauchzen, weil sie nun heraushaben, was Anmut ist. Die Schönheit wird aufgeteilt. Die Schönheit für alle, ohn Ansehen der Person! Diese jauchzende Ehrlichkeit des wahren Formenausdrucks, die vor allem das Korsett abgeworfen hat, hat nun eine Häßlichkeit ans Licht gebracht, deren Umfang bisher nur Ärzten und Masseusen bekannt war. Nun dürfen wir sie alle bestaunen. Ihr Rahmen ist das sogenannte Reformkleid.

Aber selbst, wenn die meisten Frauen untadelige Körperformen besäßen, wäre es falsch, diese allein zur Grundlage der Kleidung zu machen. Schöne Nacktheit und schöne Kleidung sind so verschiedenen Gesetzen unterworfen wie die Motive des Lebens und die des Dramas oder wie innerhalb der Künste Plastik und Malerei. Die Modeentwicklung aller Zeiten zeigt, daß die Schönheit der Kleidung bald im Verhüllen, bald im Entblößen, bald im Betonen, bald im Verschweigen bestand.

Es ist richtig, daß manche Luxusfrauen, die auffallen wollen, durch Schnüren und dergl. die Linien ihres Körper in einer Art umgestalten, die den eindeutigen Zweck hat, auf die Sinne zu wirken. Ich weiß nicht, warum man nicht auch diese Sorte am Leben lassen soll, da sie keinerlei programmatische Propaganda macht und nur einen geringen Bruchteil der Frauenwelt umfaßt. Im Gegensatz zum Reformkleid hat die gewiß unbequeme und unpraktische Tracht der Weltdame oft die feinsten Blüten des Stils hervorgebracht, von den Reifröcken bis zu den unter den Knien eng werdenden Kleidern. Ihre Tollheiten halten sich immer im Rahmen der allgemeinen Mode, deren stärkste Akzente sie darstellt. Dadurch wirken sie trotz aller prickelnden Sinnlichkeit nicht so schamlos, wie das lotterige »Eigenkleid«.

Dieselben Frauen übrigens, die für organischen Ausdruck ihrer Natur schwärmen, sündigen, wenn es ihnen gerade paßt, durch Unnatur mehr als die Modedamen. Ich sah auf einem Münchener Fest eine Malerin in einem schlampigen Reformsack herumgehen, vollkommen form- und tonlos, aber auf die Brust hatte sie sich zwei richtige weiße Engel gemalt. Es war ein Greuel; nicht etwa weil die Engel schlecht gemalt waren (das natürlich auch), sie hätten von Rubens oder Raffael sein können, es wäre dasselbe. Sich schön anziehen heißt nämlich nicht, schöne Gegenstände an sich befestigen. So glauben offenbar jene Frauen, die sich nach alten Bildern frisieren, mit buntem Volksschmuck, antikem Gerät und altmodischen Stoffen behängen, was alles zusammen noch keinen Stil gibt. Es sind naive Gemüter, die aus vernünftigen oder vorgefaßt ästhetischen Gesichtspunkten die Mode oder den Lebensstil ändern wollen, ohne zu fühlen, daß alle Reformen den kümmerlichen Lampengeruch der Vernunft verbreiten, Krinoline oder Mieder sind zur Zeit ihrer Herrschaft schön, weil sie mit einer Atmosphäre von Adel, spielerischer Lebenslust, Koketterie, bester Gesellschaft und einem guten Teil Tollheit parfümiert scheinen. Diese Atmosphäre geht freilich verloren, sobald die geschmackvolle Gesellschaft den Dingen ihre Gunst entzieht. Wurden sie aber zur Zeit ihrer Mode gemalt, so bleibt der Reiz. Italienische Renaissanceprinzessinnen wirkten gewiß großartig (wie heute noch ihre Bilder), in ihren anliegenden Haaren mit geflochtenen Schnecken an den Ohren, während heute dieselbe Tracht als unschickliche Vordringlichkeit schlecht beratener Künstlerfrauen erscheint. Die Assoziationen sind eben verschieden: dort selbstsichere Vornehmheit, hier Außenseitertum, das sich durch Gesuchtheit zur Geltung bringen will.

Zum Schluß noch ein Wort über die hygienische Seite der Mode, die eigentlich mit dieser ästhetischen Betrachtung nichts zu tun hat. Es berührt den Wert eines Kunstwerks nicht, wenn die geistige Verausgabung den Künstler ins Tollhaus gebracht hat. Ebenso ist es eine Privatangelegenheit, wie der einzelne seinen Organismus abfindet mit den Anforderungen, die zum Beispiel die Gesellschaft an ihn stellt. Ein Philister, der das Tanzen abschaffen will, weil es Bakterien aufwirbelt! Jeder finde selbst die Wege, wie er seinen Magen durch kargere Tage von den Strapazen einer Gasterei, durch Bewegung in freier Luft seine Lunge vom Aufenthalt im Theater erhole. Ein gut gearbeitetes Korsett tragen, das ohne zu drücken dem Rücken einen Halt gewährt, und sich durch Schnüren die Form einer Sanduhr geben, ist zweierlei. Aber das sind Privatangelegenheiten. Das mache jede Frau so vernünftig wie möglich. Wenn man in Miedern nicht arbeiten kann, dann sollen arbeitende Frauen sich eine praktische Arbeitstracht ersinnen, meinetwegen das Reformkleid. Das geht niemand etwas an. Ein lächerliches Mißverständnis ist nur, den Arbeitskittel als Muster neuartiger Schönheit, als ästhetisches Evangelium zu preisen.

Harmonische Naturen werden stets Mittel und Wege finden, die schönen Dinge des Lebens zu genießen. Sie brauchen deshalb weder »Schnürlebern« zu haben (die man zu den neuentdeckten »Berufskrankheiten« zählen möchte) noch Luxustierchen zu werden.


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