Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Das Trinkgeld

Nichts bezeichnet die Natur des Trinkgeldes besser als die Bezeichnung »Douçeur«, es ist eine Besänftigung der sozialen Gegensätze, eine Milderung der unausbleiblichen Härten, die jede Einrichtung, jedes System, auch das beste, mit sich bringt. Das Trinkgeld erweicht den jeweiligen Vertreter der ihrer Art nach schematischen starren Einrichtungen, indem es an seine nicht gerade erhabene, doch harmlose Menschlichkeit rührt. Damit ist übrigens weniger die Begehrlichkeit als die Eitelkeit gemeint, der mehr, als der Geber vermutet, durch ein Trinkgeld geschmeichelt wird. Es unterscheidet sich nämlich vom Almosen dadurch, daß man es nicht ganz gleichgültigen Personen gibt, sondern jenen kleinen Machthabern, von deren Geneigtheit es abhängt, ob sie uns ärgern oder verhätscheln wollen. Darum hat eine erstaunlich geringe Summe oft einen großen Erfolg. Im Spanischen nennt man das, jemand seine »consideracion« zeigen. Man beachte die fast gönnerhafte Gebärde, mit der der wahrhaft erhabene Kellner großer Häuser das Trinkgeld einzustecken versteht, wie einen Tribut, den durchreisende Fremde an einen Herrscher zu entrichten haben. Dafür weiß er aber auch ganz genau, welche gastlichen Pflichten ihm einem »Gentleman« gegenüber obliegen.

Es gibt eine Strömung in unserer Zeit, die, von einem demokratischen Grundsatz allgemeiner Menschenwürde ausgehend, das Trinkgeld verwirft. Wer etwas Bestimmtes leiste, habe ein Recht auf bestimmte Bezahlung, wer eine bestimmte Leistung empfange, solle ihren festen Preis entrichten, nicht mehr und nicht weniger. Nur dies entspreche dem Adel freier Menschen. Dies klingt durchaus einleuchtend, ist aber doktrinär und unwahr wie viele ähnliche »vernünftige« Sätze, die sich bei der Berührung der Wirklichkeit als unvernünftig erweisen. Die Leistungen, die wir bezahlen, lassen sich, sobald wir über die Lieferung bestimmter Gegenstände hinausgehen, nicht mehr nach einem festen Satz begrenzen. Man legt uns mit Recht Speisekarten mit festen Preisen vor, es läßt sich auch erwägen, ob man nicht lieber für Bedienung in Gasthäusern 10 v.H. auf die Rechnung setzen will, um den Kellner nicht lediglich auf das Trinkgeld anzuweisen. Die Qualität seiner Bedienung hingegen, seine empfehlenden Vorschläge, seine Bereitwilligkeit, einen von uns bevorzugten Platz festzuhalten, einem nach uns fragenden Bekannten unsere Anwesenheit je nachdem zu verschweigen oder anzuzeigen, dies sind Dinge, die nicht in Prozenten bewertet werden und zwischen Menschen, deren Bildungsabstand andere Gegendienste ausschließt, nur durch Trinkgelder gelohnt werden können.

Es gibt in Deutschland und England Einrichtungen, wo der Dienerschaft das Annehmen von Trinkgeldern bei Strafe der Entlassung verboten ist. Ich habe gefunden, daß das den Verkehr mit den Leuten schwieriger macht. An Stelle einer freundlichen, menschlichen Beziehung tritt verdrossene Pflichterfüllung und hoffnungslose Entsagung, weil jede Mehrleistung doch ungewürdigt bliebe. Ein allzu genaues Pflichtgefühl kann unmenschliche Starrheit sein. Eine gewisse harmlose Überredbarkeit, nennen wir es meinetwegen Bestechlichkeit, ist natürlicher, freundlicher, sympathischer. Wem ist überhaupt mit dieser stolzen Menschenwürde gedient? Die Leistung wird liebloser und dadurch schlechter; der, welcher sie tut, wird mißgelaunt und anmaßend und steht an Menschenwert keineswegs höher, als der, welcher für individuelle Leistungen individuelle Bezahlungen erwarten darf. Freilich wäre er dann weniger ausgesprochen der Angestellte in seiner abstrakten Freiheit und Gleichheit, sondern mehr der Diener. Aber läßt sich eine an sich untergeordnete Leistung dadurch veredeln, daß man in dem Diener eine innere Stimmung züchtet, die ihm die Freude an seiner Arbeit verekelt und ihn selbst weniger brauchbar macht? Sie wird vielmehr gerade dadurch vermenschlicht, daß eine freundliche Beziehung zwischen Diener und Herr erhalten wird, die sich auf der einen Seite durch gutwillige Bemühung, auf der andern durch anerkennende dem Einzelfall jeweils angemessene Bezahlung ausdrückt.

Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß es keine absoluten moralischen Maßstabe gibt. Man verlangt z. B. von einem Künstler geringere Zuverlässigkeit in wirtschaftlichen Dingen als von einem Kaufmann, dagegen werden an dessen Mut, für eine Überzeugung einzutreten, kleinere Anforderungen gestellt als an einen Politiker. Diese Relativität der Moral geht noch weiter. Für einen Offizier z. B. ist die Milde, welche etwa einem Geistlichen ansteht, nicht nur nicht erforderlich, sondern sogar schädlich. Und so gibt es auch einen gewissen Stolz, welcher ohne die Ergänzung einer entsprechenden Bildung und gesellschaftlichen Unabhängigkeit einen Menschen unglücklich und untauglich machen kann. Deshalb soll man nicht den Leuten einreden, Trinkgelder seien etwas Unwürdiges. Es ist ganz und gar doktrinär und lebensfremd, von einem Eisenbahnschaffner denselben Grad der Unbestechlichkeit zu verlangen wie von einem Finanzminister. Wenn der gute Mann gegen eine »Douçeur« die Reisenden zu ihrem und seinem Nutzen »vernünftig« im Zug zu ordnen weiß, so soll man ihn lächelnd gewähren lassen. Ihm dies als Recht zu verbriefen (durch eine »Vorschrift«) bekäme ihm natürlich moralisch nicht gut, er verfiele in unerträglichen Beamtendünkel. Drückt man aber ein Auge zu, so bewahrt man die freundliche Bescheidenheit des Mannes und schafft zugleich einen Ausgleich für die grundsätzlich nun einmal nicht vermeidbare Unsinnigkeit, daß in der II. Klasse die Reisenden fast ersticken, während drei oder vier leere Abteile I. Klasse im Zuge sind.

Das Fluidum dieser harmlosen Bestechlichkeit schafft einen nicht zu unterschätzenden Ausgleich zwischen den Klassen. Freundlich geht der bestochene Eisenbahnschaffner, der sich sonst ein wenig wie der Vorgesetzte der Reisenden vorkommt, auf dem Bahnsteig spazieren und freut sich seiner Macht, durch leises Walten die Härten der Weltordnung mildern zu können. Die mißgelaunte Logenschließerin, die stets »bessere Tage« gesehen hat, bekommt wieder etwas Glauben an die Bedeutung ihrer Leistung, wenn sie einem »Kavalier«, der einen schlechten Hinterplatz bekommen hat, gegen eine Douçeur lächelnd eine leere Loge aufschließen darf. Der Hausmeister, der zufällig einen Einblick in beklagenswerte Familienverhältnisse bekommen hat, vergißt hämischen Klassenhaß und gewinnt plötzlich ein wahrhaft menschliches Verständnis für unsere Schwächen, wenn man seine Verschwiegenheit zu würdigen weiß. Solche Gewohnheiten wären moralisch äußerst bedenklich, wenn sie gesetzliche Gültigkeit haben sollten; ihre moralische Fähigkeit, Härten und Widersprüche des Daseins auszugleichen, behalten sie nur, solange sie willkürlich und halb unerlaubt sind.

Auch auf den, der das Trinkgeld gibt, hat es eine erzieherische Wirkung. Es zwingt ihn, die Blicke von dem abzulenken, was nach der Meinung lehrhafter Ideologen sein sollte, und auf das zu richten, was wirklich ist. Es lehrt den Herrn die Macht des Dienenden, d. h. dessen Menschliches, so wenig es sein mag, zu berücksichtigen. Es erlaubt ihm seine durch irgendein nervöses Wort erschütterte Stellung als »Herr« neu zu befestigen, denn ein »Herr« darf nie zerfahren und nervös sein, sondern muß immer sicher und zielbewußt erscheinen. Da man nun einmal unmerklich die Rolle zu spielen beginnt, die einem die Umgebung auferlegt, fühlt man einen deutlichen Zwang, immer beherrscht zu sein. Spürt man einmal eine üble Laune, so erinnern ringsum freundliche Gesichter an die Pflicht des gütigen Herrn, so wie einen eine elegante Gesellschaft ganz von selbst daran hindert, sich so bequem auf den Möbeln auszustrecken, wie man es in seinen eigenen Zimmern tun mag.

Das Trinkgeld ist ein Talisman, um den sich Ströme von Wohlwollen schlingen. Es ist die einfachste Versöhnung der Klassengegensätze auf Grund allgemeiner Menschlichkeit. Es ist ein Akt der Nächstenliebe und zugleich eine Behauptung der Eigenliebe. Durch die Gabe wird dem Bedürftigen genützt, gleichzeitig freilich der Abstand betont. Aber dieser Abstand bezieht sich nur auf den durch keine gesellschaftliche Entwicklung verrückbaren, weil psychologisch mitbedingten Standesunterschied, nicht auf die Person, deren Menschliches ja gerade durch die »consideracion« anerkannt wird. Gleichzeitig durchbricht das Trinkgeld allen Gleichheits-Doktrinarismus. Im Gegensatz zur allgemeinen Annahme blüht es in den politisch »freiesten« Ländern, Frankreich, England und Amerika ebensosehr wie in Österreich und Rußland, wenn auch in anderen Formen. Folgende Tatsache ist bezeichnend: In einer amerikanischen Stadt haben die Kellner einen Klub, genau wie Gentlemen. Dort sitzen sie in Ledersesseln, rauchen, spielen, wetten, lesen Zeitungen und sind vollkommen einwandfrei gekleidet. Die Ballotage soll ziemlich streng sein, um die zweifelhaften Vertreter des Berufs fernzuhalten. Zu der Trinkgelderfrage nimmt der Klub absichtlich keine Stellung. Die allgemeine Meinung aber steht der Abschaffungsbewegung ablehnend gegenüber.

Die Vernunft des Dienenden wird niemals einen Unterschied zwischen ihm und dem Herrn anerkennen wollen, seitdem die Täuschung herrscht, alle Menschen seien gleich. Dieser verhängnisvolle Irrtum ist nur durch Wirkung auf die Einbildungskraft zu zerstören, durch eine Gebärde, die den Herrn von dem Diener unterscheidet. Gegen diese ist nicht aufzukommen, und wären beide gemeinsam an dieselbe Galeere gefesselt. Vor der Gebärde des Herrn beugt sich jede zum Dienen berufene Natur. Fragen wir daher nicht im einzelnen Fall, ob ein Trinkgeld berechtigt oder vernünftig ist, sondern geben wir es, weil es zur Gebärde des Herrn gehört, ohne welche die Pflicht des Dienens nicht verlangt werden kann und stets schlecht erfüllt wird.


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