Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Kunst

Theaterblut

»Und ich behaupte sogar, daß, je mehr das Theater gereinigt wird, es zwar verständigen und geschmackvollen Menschen angenehmer werden muß, allein von seiner ursprünglichen Wirkung und Bestimmung immer mehr verliert. Es scheint mir, wenn ich ein Gleichnis brauchen darf, wie ein Teich zu sein, der nicht allein klares Wasser, sondern auch eine gewisse Portion Schlamm, Seegras und Insekten enthalten muß, wenn Fische und Wasservögel sich darin wohl befinden sollen.«
Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung.

In unserer Zeit herrscht der Intellekt, der Mensch glaubt alles mit ihm erfassen und nach seinen Werturteilen verändern zu können. Wo er immer auf etwas stößt, das ihm nicht paßt, meint er, es sei nur eine Frage der Zeit, es in seinem Sinne zu »reformieren«. Es gibt kaum ein Gebiet, an dem der Intellekt nicht seine Reformen versucht hätte. Wir hören nicht nur von religiösen und sozialen Reformen, die Medizin, die Küche, die Kleidung, das Theater, das Brettel werden reformiert. Sogar von einer »Reformschmiere« habe ich im Scherz reden hören. Zweifellos ist solcher Optimismus eine starke Lebensmacht: die Wirkung lange gebundener, plötzlich gelöster Kräfte. Gleichzeitig aber sehen wir eine Gegenbewegung, die zu der weiseren Erkenntnis gekommen ist, daß zwar der Intellekt viele Mißstände beseitigen, vielen Schutt hinwegräumen, nicht aber die Grundformen des Daseins zu ändern vermag. Jugend und Alter, Mann und Weib, Herr und Knecht, Armut und Reichtum, der Kaufmann und der Gelehrte, der Bauer und der Soldat, die Heilige und die Dirne, der Tempel und die weltliche Schaubühne, alles dies sind ewig menschliche Gegensätze, und so wundervoll es ist, sich an der Buntheit des Daseins zu erfreuen, das berauschendste Wunder bleibt doch unter dieser Buntheit die ewige Gleichheit und Einheit alles Menschlichen. Daran will der reformlustige Intellekt nicht glauben, und darum erwecken seine Vertreter den Verdacht, daß sie die wesentlichsten Lebenswerte überhaupt nicht kennen. Wir alle wissen, was Goethe von der grauen Theorie und dem Kerl, der spekuliert, gesagt hat.

Zu diesen ewig unveränderlichen Menschlichkeiten, die der Reformer mißversteht, gehört auch das, was man »Theaterblut« nennt, unfreundliche Leute sprechen von Komödiantentum. Wie man es auch nennen mag, ob man mehr an seine gute oder mehr an seine schlechte Seite denkt, der Schauspieler ist eine ganz bestimmte Sorte des homo sapiens, die zwar im Leben viel zu lernen vermag, nach außen bald ein großer Herr, bald eine brave Mittelmäßigkeit, bald ein armer Lump sein kann, deren Wesen aber keinerlei Reformen zugänglich ist. Trotzdem hat man auch ihn nicht in Ruhe gelassen. Leute, die nicht einen Tropfen jenes fröhlich-frechen Theaterbluts besitzen, die allenfalls Kunstprofessoren hatten werden können, schreiben über Theater oder betreten gar selbst die Bühne und haben uns den neuen Typus des »denkenden Schauspielers« beschert. Gleichzeitig betrachteten Gouvernanten mit »individuellen« Füßen griechische Vasen und Renaissance-Grotesken mit dem Erfolg, daß sie, ohne das kleinste Teufelchen im Leibe, den Barfußtanz erfanden. Der symbolistische Maler, der etwas in seine Bilder »hineinlegt«, ist eine Parallele auf anderem Gebiet. Aber so wie die Deutschen in der Poesie den lehrhaften Dichter längst überwunden und auf die Kanzel zurückgeschickt haben, so wird auch der denkende Schauspieler wieder in den Hörsaal, die Barfußtänzerin in die Kleinkinderbewahranstalt zurückwandern müssen.

Die Dichter betreten gewöhnlich mit einer gewissen Ängstlichkeit das Reich des Schauspielers. Sie wissen daß seine Art und Kunst der ihrigen ganz unverwandt ist, aber sie brauchen diese Kunst, um ihr Werk in Erscheinung treten zu lassen. Eine Verständigung ist schwer, denn der Schauspieler besitzt einen ganz anderen Wortschatz, als der Dichter. Jede »literarische« Ausdrucksweise ist ihm zuwider, und er hat zweifellos recht, wenn er seine allabendliche Bühnenerfahrung dem Manne gegenüber ausspielt, der vom Schreibtisch kommt. Hier tritt häufig der denkende Schauspieler helfend ein. Er rühmt sich, den Dichter zu verstehen (hat er doch selbst meist einige Dramen geschrieben) und geht auf dessen Absichten ein. Der Dichter verträgt sich vielleicht auf den Proben vortrefflich mit ihm, aber was ist der Erfolg? Eine dünne, blutlose Leistung. Der wahre Theatermensch dagegen läßt sich nur ungern hineinreden, und man sollte es darum auch nur dann, und mit großer Vorsicht tun, wenn eine wirklich grundfalsche Auffassung vorliegt. Auf alle Fälle soll man den Schauspieler zunächst einmal gewähren lassen. Häufig geschieht es dann, daß er eine lebendige, wenn auch den Absichten des Dichters nicht ganz entsprechende Leistung bietet. Sie ist jedenfalls dem vorzuziehen, was herauskommt, wenn er wider Willen etwas tun muß. Dann bringt er notgedrungen eine groteske Bastardleistung hervor. Das Wesen guter Schauspielkunst bleibt eine gewisse naive Unbefangenheit. Die darf nicht gestört, sondern kann nur mit großem Takt unmerklich gelenkt und beeinflußt werden. Es ist anzunehmen, daß ein alter gewandter Schauspieler, dem es nicht einfällt, das Stück zu lesen, sondern nur seine Rolle, und der sich überhaupt nichts sagen läßt, der Aufführung mehr nützt, wenn man ihn sanft anpackt, als das auf die Bühne verirrte Fräulein aus gebildeter Familie, das sich sämtliche Werke des Dichters bestellt hat, um seinem Geiste gerecht zu werden.

Es dürfte ein unkünstlerischer Irrtum sein, daß man hinter dem Kunstwerk den Menschen sucht. Naturgemäß ist keine Kunst dieser Versuchung mehr ausgesetzt als die des Schauspielers, der in eigener Person vor sein Publikum tritt. Während man aber früher jenen Irrtum für eine Schwäche, besonders des weiblichen Geschlechts gehalten hat, das nur zu gern beim Anblick des Priesters Gott vergißt, hat jetzt eine falsche Ästhetik ernsthaft den Kultus des Menschen im Kunstwerk verkündet. Die Duse zum Beispiel, heißt es, sei darum eine so bedeutende Schauspielerin, weil sie ein so großer, vornehmer Mensch sei. Nichts ist unkünstlerischer, ja plebejischer, als sich angesichts der Hedda Gabler oder der Locandiera um die Privatperson, Frau Eleonora Duse aus Venedig, zu kümmern. Ja, ich schrecke vor der Ketzerei nicht zurück, daß der Kultus ihres »Menschentums« die große Kunst dieser Schauspielerin bereits in hohem Maße beeinträchtigt und zur Maske erstarren läßt. Mich geht das Privatleben der Frau Duse ebensowenig an, wie das einer Kommerzienrätin oder einer Privatdozentin, die zufällig in demselben Haus wohnt, wie ich. Aber eines weiß ich genau, die Art nervöser, überzüchteter »Vornehmheit«, welche angeblich hinter dem Spiel der Duse steht, spielt nicht Komödie. Wenn sie es tut, hebt sie sich selbst auf. Nicht als könnte ein Schauspieler kein durchaus vornehmer Mensch sein, er kann es so gut, wie jeder andere, aber er macht gerade aus seiner Vornehmheit kein Spiel. Auch von Frau Duse muß man, ehe das Gegenteil bewiesen wird, glauben, daß sie ein vornehmer Mensch ist, aber dieses, wie man sagt, »verinnerlichte« Menschentum, das sie hinter jede ihrer Rollen stellt, ist eine auf die Nerven gehende Pose, die ihr das unkünstlerische Publikum der europäischen Theater aufgezwungen hat. Man sollte die Sarah Bernhard schon darum bei weitem vorziehen, weil sie uns mit ihrem Menschentum in Ruhe läßt. Ihr Spiel ist reiner, ihr Menschentum bleibt draußen, ist Privatsache, sie ist ganz Kunst.

Zweifellos wurzelt jede Kunst in dem Menschentum des Künstlers, aber man darf diesen Rohstoff nicht zu sehen bekommen. Eine besondere innere Zerrissenheit und Disharmonie erweckt eine besondere Sehnsucht nach harmonischen künstlerischen Formen. Der von Haus aus einfachere, kampflosere, vielleicht mittelmäßige und darum harmonischere Mensch kennt eine solche Sehnsucht nicht, im künstlerischen Formen eine ihm im Leben versagte Harmonie zu schaffen. Unsere Zeit begnügt sich nur zu leicht mit diesem Antrieb zum Schaffen, der aus der problematisch zerrissenen Natur kommt, und fragt viel zu wenig danach, ob denn die erstrebte Harmonie der Form auch wirklich erreicht ist. Das Zerrissene ist ihr an sich reizvoll und das bleibt ethisch wie ästhetisch gleich schlecht. Ohne das aus der Disharmonie eines Menschen entstehende Werk ist die Zerrissenheit keine Überlegenheit, sondern eine Unterlegenheit gegenüber dem ausgeglichenen Durchschnittsmenschen. Deshalb bringt so selten ein moderner Künstler Harmonie in das Leben, sondern er erhöht sogar die allgemeine Verwirrung, wenn er seine gräßlichen Seelenwunden zur Schau stellt. Dies ist der Gegensatz zur Klassik, die das Harmonische aus dem Chaos gebiert. Auch sie zeigt wilde Schmerzen, schwärende Wunden, aber niemals um ihrer selbst willen. Darum verschone uns auch der Schauspieler mit seinem Menschentum, wie wir es von jedem anderen erzogenen Menschen verlangen müssen. Daß er es haben muß, um eine Leistung zu schaffen, bedarf überhaupt keiner Versicherung. Aber Kunst ist was ganz anderes, als hintreten und sagen: Seht, was bin ich für ein Mensch, was für ein Held oder was für ein Dulder! Kunst ist vielmehr eine Welt für sich, sie wurzelt zwar im Erdreich der Wirklichkeit, aber ihre Krone hat nichts mehr mit Erde zu tun, sie besteht aus Blättern, Blüten und Früchten, d. h. aus neuen Formen in einer ätherischen Welt. Die Wurzeln, so nötig sie sind, bleiben unsichtbar.

Auch die soziale Stellung des Schauspielers sei kurz berührt. Besonders hier fühlt man etwas von der Reformlust des Zeitalters. Überall wollen sich die Stände, die bisher nicht zu den ersten gehört haben, als Stände heben: der Arbeiter, der Kellner, der Dienstbote, aber auch der Lehrer verlangt höhere gesellschaftliche Wertung. Jeder Künstler sollte derartigen Standeshebungen immer fernbleiben. Welche Berufe suchen als Stand emporzukommen? Die, welche dem einzelnen keine großen Möglichkeiten geben, über das Durchschnittsmaß einer allgemeinen Leistung hinauszugelangen. Der junge Kaufmann, der Aussichten auf künftige Selbständigkeit hat, läßt sich gelegentlich von seinem Chef in ungerechter Weise ausbeuten, ohne deshalb Sozialist zu werden. Er vertraut auf sich selbst und weiß, daß er eines Tages selbst Prinzipal sein wird. Versuche zur Hebung der kaufmännischen Angestellten überläßt er mit einer gewissen Geringschätzung den Ehrgeizlosen, Untüchtigen oder auch Unglücklichen, die nichts von sich selbst, alles von der Gesamtheit des Standes zu erwarten haben. Er weiß, wenn er einst gute Geschäfte macht, wird es ihm auch an gesellschaftlichem Ansehen nicht fehlen. Andererseits ist es nur eine Frage der Zeit, daß die zahllosen bürgerlichen Angestellten in Großbetrieben, die niemals als einzelne weiterkommen können, dem Sozialismus verfallen. Jeder Mensch, der auf Grund eines Talents zur Kunst gegangen ist, wird unbedingt dem nach Selbständigkeit strebenden Kaufmann ähnlicher sein. Was liegt ihm daran, ob der siebente Liebhaber in Wunsen an der Luhe in der gesellschaftlichen Wertung vor oder nach dem Nachtwächter zählt. Er weiß ganz genau: entweder hat er sich mit seinem Talent verrechnet, dann wird er für eine so bittere Enttäuschung darin keine Genugtuung finden, daß der Schauspieler überhaupt heute höher gewertet wird, oder aber er macht seinen Weg, dann liegt kein Grund für ihn vor, warum er nicht als Persönlichkeit den höchsten gesellschaftlichen Ehrgeiz haben soll. Solche Ansichten gelten für grausam, man wird mir vorwerfen, ich dächte nur an die wirklichen Talente, aber man soll in der Kunst nur an die Talente denken und dadurch den Wettbewerb der andern, der eine Ungerechtigkeit gegen das Talent ist, fernhalten. Der Schauspieler hat selbst künstlerisch durch gesellschaftliche Hebung nur zu verlieren. Früher war er »fahrendes Volk«, und auch heute noch ist das Theater eine Welt für sich, mit tausend Unarten und Liebenswürdigkeiten, voll von Glanz und Ränken, Bewunderung und Eifersucht, Naivität und Verlogenheit. Diese Lebensluft darf nicht zerstört werden, denn aus ihr zieht das wirkliche Theaterblut seine Wärme und seinen Rhythmus. Viele Schauspieler mögen aus Instinkt ein kleinbürgerliches Familienleben führen, andere werden den Ton der großen Gesellschaft treffen und in ihr beliebt sein, wieder andere sind echte Bohémiens. Man kann diese Menschen nicht in eine enge bürgerliche Klasse mit engen bürgerlichen Gesetzen und Schablonen zwängen. Der einzelne mag tun und lassen, was er will, er wird sich je nach seiner Art Liebe und Achtung, oder Bewunderung mit Verachtung gepaart, erwerben. Nur wolle man ihn nicht als Klasse heben. Theater ist Schillern und Wechsel, Schauspieler sind fahrendes Volk und mögen es zum Nutzen der Kunst noch lange bleiben. Die intellektualisierten modernen Maler, Dichter, Architekten, Kunstgewerbler, sie alle wirken oft genug wie ästhetische Schwätzer neben dem echten Schauspieler. Im ewigen Ändern der Masken, unter Flitter und Schminke ist er stets sich selber treu und echt, wie alles Glühende. »Keine Kultur«, sagt der Pedant. – Theaterkultur.

Das Wesen dieser Theaterkultur muß besonders berücksichtigt werden, wenn man die Stellung der Frau zum Theater betrachtet. Eine bedeutende Schauspielerin hat kürzlich für die Nöte ihres Standes den einzig wahren Grund angegeben: es gehen zu viele junge Mädchen zur Bühne. Man brauche, so sagte die Künstlerin, nur die Theaterzettel anzusehen, um zu erkennen, daß es viel weniger weibliche als männliche Rollen gibt. Dieses Thema läßt sich erweitern. Unter den weiblichen Rollen ist wieder ein ganz kleiner Bruchteil von solchen, die wirklich Charaktere darstellen, die meisten bleiben im Rahmen mehr oder weniger liebenswürdiger Gattungswesen, zu deren Darstellung kein ausgesprochenes schauspielerisches Talent gehört, sondern nur eine angenehme Person, Unbefangenheit, ein paar rein äußere Eigenschaften wie Stimme und einige erlernbare Fähigkeiten. Da dies alles natürliche weibliche Dinge sind, finden sie sich häufiger als die männliche schauspielerische Begabung, und das bewirkt, daß heute jedes hübsche temperamentvolle Mädchen ohne Versorgung zur Bühne strebt. So löst sich auch die Frage, ob Frauen oder Männer mehr Bühnentalent haben. Bühnentalent hat bis zu einem gewissen Grade fast jede nicht ganz temperament- und reizlose Frau, hinreichend für die Naiv-Sentimentale und die Salondame, ja selbst für eine erträgliche Desdemona oder Julia in der Provinz. Aber die wahrhaft schöpferische schauspielerische Begabung, mit der man eine Lady Macbeth, eine Cameliendame, eine Hedda Gabler oder auch nur die Lustigen Weiber von Windsor spielt, ist ebenso selten wie wirkliche weibliche Charaktere selten sind, sie kommen ja auch aus eben diesem Grunde nur in wenigen Stücken vor. Wenn sich dieses wahrhafte Talent irgendwo findet, in der Hütte ober im Palast, so läuft es meistens davon, hungert sich oft genug durch, bleibt »anständig« oder nicht, je nachdem, und erreicht schließlich den großen Mimenerfolg der Gegenwart, wie er keinem anderen Künstler zuteil wird. Um diese wenigen handelt es sich aber nicht, wenn man die sozialen Leiden der Schauspielerinnen erörtert, sondern um die vielen, denen kein Vorwurf daraus gemacht werden soll, daß es mehr weibliche als künstlerische Triebfedern sind, die sie zur Bühne treiben. Nur dürfen sie eines nicht vergessen: Bühne und Bürgerlichkeit sind Gegenpole. Es ist daher lächerlich, die Moralbegriffe der einen Welt auf die andere anzuwenden und von dem »Schandgewerbe« der Kolleginnen zu sprechen, die glänzendere Kleider tragen, als ihr Gehalt erlaubt. Es sind naturgemäß die reizvollen Frauen, die zur Bühne gehen, sie stehen auf sichtbarem Platz und üben eine ganz besondere Anziehungskraft auf die Männer aus. Die bösen Männer, welche die Frauen für ihre Gunstbeweise bezahlen! Nun, das Bezahlen ist häufig noch die einzige gute Eigenschaft solcher Bösewichte. Wird man es durch Stellung der Kleider oder durch Kleiderzuschuß verhindern können? Die Mädchen werden sich dann Liebhaber nehmen, um nicht die ekelhaften, ungesunden, verschwitzten Kleider ihrer Nebenbuhlerinnen tragen zu müssen. Bei der Comédie française bekommen die Schauspielerinnen, wie ich höre, zweihundert Franken Zuschuß für jeden Kleiderwechsel in einem neuen Stück. Brauchen sie vier Kleider, was oft Stilgründe unvermeidlich machen, so können sie nicht eines von diesen achthundert Franken bezahlen. Wollten sich die notleidenden Schauspielerinnen darauf beschränken, die Erhöhung ihrer Gehälter zu verlangen, so könnte man ihnen nur beistimmen. Es ist auch durchaus nicht unmöglich, daß sie einmal eine Steigerung von fünfundzwanzig oder fünfzig vom Hundert durchsetzen. Nur muß die Moral ganz und gar aus dem Spiel bleiben. Das bestverdienende Theaterunternehmen wird niemals in der Lage sein, auch nur die Hälfte oder ein Viertel der Verbindlichkeiten abzulösen, die heute von der edlen Kunstbegeisterung der Jeunesse dorée so freigebig getragen werden. Den Familientöchtern soll die Freude nicht verkümmert werden, diese Zustände als empörend und entwürdigend zu empfinden. Es wird sie neidloser auf die Damen in der Rampenhelle blicken lassen. Aber sie selbst sollen, wenn nicht eine wahre große Künstlerseele in ihnen schläft, jener Welt fernbleiben. Die Bühne mit ihrer Sichtbarkeit und ihrem Zauber kann nicht die Gewähr für die weibliche Tugend geben, auf der sich das bürgerliche Familienleben aufbaut. Alle die häßliche moralische Entrüstung würde in dem Augenblick aufhören, wo man sich abgewöhnen wollte, alles aus dem kleinen Gesichtswinkel des eigenen Standes zu sehen. Das Leben der Bühne ist nicht verächtlich und gemein, sondern bunt und glühend, aber es ist zuzugeben, daß es mit jener anderen Lebensform, der auf Überlieferung aufgebauten Familie, nichts zu tun hat. Wir wollen ebensowenig Zimperlichkeit am Theater haben, als die lustige Theatermoral im Schoß der Familie. Das Leben ist nicht gut oder schlecht, sondern es ist bunt, es wäre geradeso eintönig, in die Familie die freie Liebe einzuführen, wie das Theater zum Mädchenpensionat zu machen. Das hindert durchaus nicht, daß eine Schauspielerin ihre weibliche Würde wahrt, die ja nichts mit einem bestimmten Moralgesetz zu tun hat. Deshalb, ihr höheren Töchter, strebt nicht nach dem Lorbeer der Bühne, und ihr Schauspielerinnen, geizt nicht nach dem Feigenblatte bürgerlicher Ehrbarkeit. Ihr habt den Glanz und die Lust des Lebens neben seinen Abgründen, sie haben die enge Ordnung und den Frieden.


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