Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Deutsche auf Reisen

Ein deutscher Verein hat sich zur Aufgabe gemacht, das Ansehen der Deutschen im Auslande zu heben. Es scheint also die Überzeugung zu bestehen, daß der Deutsche draußen nicht seinem Wert entsprechend geachtet wird. Damit stimmen häufig wiederkehrende Bemerkungen in ausländischen Blättern überein, welche die deutschen Reisenden tadeln oder verhöhnen. Viele mögen sich, ihres eigenen Wertes bewußt, an solche Urteile nicht kehren. Immerhin lohnt es die Mühe, einmal den Ursachen der immer wiederkehrenden Erscheinung nachzuspüren.

Deutschlands Kultur im Mittelalter und der Frührenaissance erreichte oder übertraf, mit Ausnahme Italiens, die aller europäischen Völker. Die Religionszwiste des 16. Jahrhunderts zerstörten unser geistiges Leben, der Dreißigjährige Krieg vernichtet allen Wohlstand und den größten Teil der Bevölkerung. Während unsere Nachbarvölker organisch an ihre Überlieferung anknüpfen, sie weiter entwickeln und ein modernes gesellschaftliches Leben ausbilden konnten, mußten wir, nachdem wir uns ein wenig erholt hatten, ganz von neuem beginnen. Das Ergebnis war zunächst unsere ganz aufs Geistige gerichtete klassische Kultur des 18. Jahrhunderts, neben der die größte äußere Armut möglich war. Erst nach dem Krieg von 1870 hat sich eine breitere Klasse Wohlhabender gebildet, die mit ähnlichen Schichten des Auslandes in der Höhe der Lebensführung wetteifern können. Wenn wir alles dies erwägen, brauchen wir uns nicht zu schämen, ja, sind wir zu der aufrichtigen Anerkenntnis gezwungen, daß wir an gesellschaftlicher Kultur den übrigen west-, ja sogar südeuropäischen Völkern unterlegen sind, soweit wir sie in anderer Beziehung auch überflügelt haben mögen. Man mag dies für unwichtig halten, will man aber erfahren, woran die Unbeliebtheit der Deutschen im Ausland liegt, so ist dies der einzige Grund. Diejenigen Deutschen, die von Haus aus oder durch spätere Erfahrungen jene Welterziehung besitzen, haben sich niemals über Mangel an Freundlichkeit oder Achtung auf Reisen zu beklagen.

Indem ich einige Beispiele gebe, verkenne ich nicht, daß manche deutsche Fehler die Begleiterscheinungen großer Vorzüge sind. So treibt zum Beispiel ein aufrichtiges Bildungsbedürfnis bei uns viele gering Bemittelte hinaus, die in anderen Ländern zu Hause bleiben. Gerade ihnen fehlt natürlich besonders häufig jene gesellschaftliche Erziehung. Sie sind es, die mit Vorliebe in Vereinen reisen. Niemand wird ihnen ihre Freude mißgönnen, aber wenn man z. B. in Konstantinopel oder in Madrid in jedem Kaffeehaus, auf jedem öffentlichen Platz zwei oder drei dieser meist etwas unbeholfenen Gestalten mit demselben grünen Hut, demselben Vereinsabzeichen, die Frauen mit denselben hinaufgeknöpften Lodenröcken das Vaterland vertreten sieht, so kann man sich schwer des Lächelns enthalten, zumal wenn sie abends wieder an langen Tischen beim Bier zusammensitzen, in meist harmloser Rücksichtslosigkeit gegen die Umgebung lärmend ihre Eindrücke tauschen, in lautes Entzücken über Gasthöfe ausbrechen, wo das Essen besonders reichlich war, ja bisweilen sogar Chorgesänge anstimmen. – Eine andere Gruppe deutscher Reisenden sind Studenten mit Umgangsformen, die aus dem vormärzlichen Kleindeutschland stammen. Zum Erstaunen aller Ausländer sind sie fähig, zu jeder Stunde des Tages und in jedem Klima Bier zu trinken und diese Tätigkeit mit Zeremonien zu begleiten, die für den Uneingeweihten sinnlos, wenn nicht abstoßend sind. Eine der vornehmsten deutschen Studentenverbindungen hatte einmal die »Bieridee«, am nächsten Sonntag den Frühschoppen in Rom abzuhalten. Die jungen Leute nahmen in vollem Wichs den Nord-Süd-Expreß, kamen rechtzeitig um 11 Uhr in Rom im »Gambrinus« an, vollführten ein ungeheures Geschrei, rieben Salamander, tranken »Bierjungen«, ließen die »Füchse« in die »Kanne steigen«, machten dann eine »Renommierfahrt« durch die ewige Stadt und fuhren mit dem Abendzug nach Hause zurück. Es kamen keinerlei Ausschreitungen vor, kein allzu sichtlicher Einzelrausch, vom studentischen Standpunkt aus war alles korrekt, dafür bürgte Ruf und Name der Korporation, aber dennoch sprachen noch jahrelang die Römer von diesem Einfall teutonischer Barbaren.

Ich erwähnte schon die breite Schicht der wenig bemittelten deutschen Reisenden, die im Ausland besonders ins Auge fallen. Wenn Ausländer in engen Verhältnissen reisen, so haben sie meist ein sehr bescheidenes Auftreten. Nicht aus Demut, sondern vielleicht gerade aus Stolz und mit gutem Geschmack bleiben sie Orten fern, wo sie ihrer Erscheinung wegen fürchten müssen, an die Wand gedrückt zu werden. Viele Deutsche denken nicht darüber nach, drängen sich vielmehr in ihrer »praktischen« Reisetracht in die Eleganz der Promenade des Anglais in Nizza oder in ein Londoner Westendspeisehaus, wo sie vielleicht für einen Schilling ein Getränk nehmen, um den »Rummel« einmal gesehen zu haben. Dieser Standpunkt ist durchaus falsch. Jeder Mensch hat das Recht, den »Rummel« zu verachten, dann soll er ihm fernbleiben. Wer sich aber einmal hineinmischt, muß das Stilgefühl haben, die vorgeschriebene Maske zu tragen. Diese Art von Reisenden ist es, die fortgesetzt wegen der Rechnungen, der ihnen zugewiesenen Zimmer usw. mit den Kellnern in Zank gerät. Es ist zugegeben, daß das Gasthofwesen schreiende Mißstände enthält, schreiender als jene Gelegenheitsreisenden selbst vermuten. Es würde sich lohnen, einmal klarzulegen, nach was für pfiffigen Systemen eine Minderzahl von Geschäftsmenschen jeden einzelnen, der sich ein wenig in der Welt bewegen will, besteuert, ja ganze Gegenden und Länder wie mit einer hohen Zollmauer umschließt. Wie sehr man diese Mißstände verurteilen mag, es gehört zur Welterziehung, daß man sie kennt, sich im einzelnen Fall nicht darüber aufregt und jedenfalls nicht mit dem zufälligen Vertreter dieses falschen Systems einen Streit anfängt, in dem man, so sehr man materiell im Recht sein mag, formal immer unterliegt. Ich empfehle zwar durchaus, bei der Ankunft im Hotel nach dem Zimmerpreis zu fragen, »Irrtümer« in den Rechnungen zu verbessern, aber nur, wenn man imstande ist, dies mit vollkommenster Ruhe, ohne jede Entrüstung zu tun. Die Erfahrung schmiedet mancherlei Waffen. Viele Deutsche sind beim Trinkgeldergeben von auffallender Unsicherheit und bringen sich dadurch um das, wofür man Trinkgelder gibt: um zufriedene Gesichter. Die zaghaft gereichte Gabe befriedigt nicht. Ist man einmal wirklich im Zweifel, ob man genug gegeben hat, so frage man ruhig: »Sind Sie nicht zufrieden?« Vielleicht hört man nun einen berechtigten Anspruch vertreten oder aber faule Ausflüchte. In beiden Fällen weiß man, was man zu tun hat. Im allgemeinen spare man am wenigsten mit Trinkgeldern, kein Geld ist besser angelegt. Nichts muß eine Reise mehr verbittern, als das beständige Gefühl, überall wie der Gottseibeiuns mit Gestank von hinnen gefahren zu sein.

Die alleinreisenden Damen nehmen heute so sehr an Zahl zu, daß auch über sie ein Wort zu sagen lohnt. Die Frage, an welche Orte Damen allein gehen »können«, läßt sich auf zweierlei Art beantworten. Rein physisch gesprochen, »können« sie heute überall hingehen, außer vielleicht in ein Herrenschwimmbad. Eine andere Frage ist, durch welche Schritte sie aufhören, für Damen zu gelten. Außer dem Speisesaal des Gasthofs, wo sie wohnen, sowie den Konditoreien und Speisehäusern auf Ausflugsorten sollten sie ohne Herrenbegleitung öffentlichen Lokalen fernbleiben. Kaffee- und Speisehäuser (wenigstens am Abend) werden im Ausland niemals und glücklicherweise in Deutschland auch nur selten ohne Herrenbegleitung von Frauen besucht, die den Anspruch machen, Damen zu sein. Für ihr Bedürfnis sind jetzt überall Teestuben errichtet. Sind sie erfahren und taktvoll genug, so steht ja nichts im Weg, gelegentlich die Begleitung eines Reisebekannten anzunehmen. Damen allein im Kaffeehaus der Großstadt, diesem von Männern für Männer bestimmten Versammlungsort, wirken meist zweideutig; Reizlosigkeit und Dürftigkeit kann eine Frau verhindern, dies zu bemerken. Es sei hier absichtlich nicht darauf eingegangen, daß es stets einzelne weibliche Persönlichkeiten gegeben hat, besonders ehe man an Frauenemanzipation dachte, denen eine das Geniale streifende innere und äußere Sicherheit zu allen Zeiten das Recht verleiht, in ihrem Auftreten ausschließlich der Stimme ihres Taktgefühls zu folgen; bei weitem die meisten, die sich heute zur Zeit der Frauenbewegung zu dieser verschwindend kleinen Auslese rechnen, gehören jedoch ganz und gar nicht dazu. Außerdem kann eine Auslese niemals ausschlaggebend sein für die Gesetze der Allgemeinheit.

Die bis jetzt genannten Fehler gehen alle mehr oder weniger auf eine gewisse Gleichgültigkeit gegen äußere Formen zurück. Aber auch durch das Gegenteil, durch übertriebene Steifheit, fehlen manche unserer Landsleute. Die Abneigung vieler Deutschen gegen die Konventionen beruht darauf, daß die deutschen Konventionen den Verkehr oft hemmen, anstatt ihn, wie etwa die romanischen oder englischen tun, zu erleichtern. So ist z. B. die vielverspottete englische Gewohnheit, Gespräche mit einer Bemerkung über das Wetter zu beginnen, eine große Erleichterung der Anknüpfung, die zu nichts verpflichtet. Ist man zu einer Unterhaltung bereit, findet man leicht den Übergang vom Wetter zu dem, was man gerade unternommen hat. Es geht doch nun einmal nicht, daß man ganz unvermittelt zu einem Fremden sagt: »Ich habe eine Korkfabrik«, oder »Raffael wird meiner Meinung nach außerordentlich überschätzt«. Dagegen sind verkehrhemmende Konventionen der Zwang, die Leute, und gar Frauen, mit Titeln anzureden, oder die vollkommen nichtssagende und dabei unschöne Gewohnheit, sich selbst vorzustellen, ehe man noch erprobt hat, ob sich irgendwelche, wenn auch nur oberflächliche Beziehungen bilden werden. Auch das tiefe Abnehmen des Hutes beim Grüßen erweckt im Ausland Befremden und bringt manchem unter Umständen aus dem Munde eines ganz untergeordneten Menschen die gönnerhafte Bemerkung ein: »Bitte, bedecken Sie sich doch!«

Obgleich eine offene Besprechung dieser Mängel nur Gutes bringen kann, ist doch die Art, wie sich gewisse Witzblätter ihrer bemächtigen, aufs äußerste zu mißbilligen, da sie ohne Notwendigkeit für die Wirksamkeit der Satire uns vor dem Ausland lächerlich machen. Auch die Franzosen lachen über ihren Monsieur Prud'homme, den Typus des französischen Spießbürgers, aber sie meinen dann eben den M. Prudhomme, und nicht den Franzosen an sich. Macht sich hingegen der »Simplizissimus« über einen Herrn Meyer auf Reisen lustig, so steht unfehlbar dabei: »Der Deutsche auf Reisen.« – »Herr Meyer auf Reisen« könnte sich jeder gefallen lassen, und der Witz wäre um nichts schlechter. Der »Punch« gibt häufig ausgezeichnete Beispiele wie sich Takt mit einer äußerst witzigen Satire auf nationale Schwächen verbinden läßt.

Ich wiederhole, was ich eingangs angedeutet habe, daß viele ernsthafte und wertvolle Menschen auf dem Standpunkt der Gleichgültigkeit gegen ihre äußere Wirkung stehen. Sie reisen einfach, um etwas zu sehen. Damit die Mittel recht weit reichen, tragen sie alte Kleider auf, gehen in den Städten, selbst abends, im Reiseanzug herum, rechnen die Trinkgelder auf den Pfennig aus und beschränken ihr Gepäck auf ein Köfferchen. Was wäre vom rein individualistischen Standpunkt aus dagegen einzuwenden? Wenn aber in einem vielreisenden Volk, bei dem solche Typen die Mehrheit bilden, die Frage aufgeworfen wird, warum trotz ihrer Menge seine Vertreter im Ausland weniger angesehen und willkommen sind als andere Nationen, so darf der wahre Grund nicht verschwiegen werden. Ernsthafte Selbsterkenntnis setzt nicht herab, sondern begegnet der Übertreibung eines Fehlers durch den Gegner.


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