Oscar A. H. Schmitz
Brevier für Weltleute
Oscar A. H. Schmitz

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Die Verstandesmenschen und die Kunst

Es ist merkwürdig, was für eine Vorliebe gerade Dummköpfe oft für die »Verstandeskunst« haben, während der wirklich Denkende sich mit besonderer Vorliebe bei den ursprünglichen Reizen der aus Empfindung und Trieb wirkenden wahrhaften Kunst erfrischt. Unter diesem eigentlich unsinnigen Ausdruck »Verstandeskunst« ist ein der Kunst von weitem ähnliches Gebaren zu verstehen, das sich an den Verstand, nicht an die intuitiven Instinkte wendet. Man hat die Tatsache noch zu wenig beachtet, daß Verstandesmenschen einen sehr schlechten Verstand haben können. Man denkt, wenn es sich um Gefühlsfragen dreht: das versteht Herr X. nicht, denn er ist ein Verstandesmensch. Dafür, meint man, wird er aber besonders richtig urteilen, wenn es sich um Fragen des Verstandes handelt. Das ist leider ein Trugschluß. Unter Verstandesmenschen versteht man solche, die nie ihren Wahrnehmungen und Instinkten trauen, sondern überall Erwägungen und Abstraktionen zwischen sich und die Welt stellen, d. h. stets den Verstand walten lassen. Aber sind diejenigen Menschen Künstler, die den ganzen Tag Klavier spielen? Man findet sogar bei den talentlosesten Menschen, daß sie mit einem Fleiß, der dem Genie leider bisweilen abgeht, stundenlang ein Instrument bearbeiten, ohne zu ahnen, daß fast jeder Ton ein Fehler ist. Sowenig man sie darum Künstler nennt, weil sie sich unaufhörlich eines Klaviers bedienen, so wenig braucht ein Verstandesmensch ein wirklich kluger Mensch zu sein. Man kann sogar noch weiter gehen und ruhig behaupten: Ein wirklich kluger Mensch ist niemals ein Verstandesmensch, denn das Wesen eines wahrhaft guten Verstandes ist, daß er seine eigenen Grenzen zu sehen vermag und sich selbst beurlaubt, wo es sich um Dinge handelt, die höher oder tiefer sind als alle Vernunft. Ein Mensch, der sich sein Leben dadurch zerstört, daß er alles, was ihn angeht, unter verstandesmäßige Kategorien zu zwingen sucht, dürfte kaum ein kluger Mensch sein. (Dadurch ist nichts für den absoluten Wert seines Verstandes bewiesen, sondern nur, daß seine Instinkte und Sinne noch schwächer sind.) Gerade dies aber tut der Verstandesmensch, und darum ist er meistens ein Dummkopf. Sehr oft ist von zwei ungleich begabten Menschen der mit dem kleineren Verstand der ausgesprochene Verstandesmensch, während der andere instinktiv den Verstand zuzeiten auszuschalten vermag.

Solche »Intellektuelle« züchtet unsere Bildungswut, welche die Hirne der Jugend, der Frauen, des Volks mit Wissen füllt, für das die Verdauungswerkzeuge fehlen. Anmaßung, Blaustrümpfigkeit, Unzufriedenheit, Untauglichkeit für die Forderungen des Tags sind die Folgen.

Das Dümmste, was je über die Kunst gesagt worden ist, haben die Verstandesmenschen gesagt, denn die Kunst ist das ihnen ganz und gar Unwägbare. Die Kunst drückt Werte, ja, wenn man will, Wahrheiten und Erkenntnisse aus, die sich dem logischen Ausdruck entziehen. Wir können logisch sagen: X. sagt Y., daß seine Frau Z. ihm untreu ist. Es ist zwar nicht wahr, aber die Eifersucht des Y. wird so entfacht, daß er die Z. tötet. Dies ist bekanntlich der logische Inhalt des »Othello«. Trotzdem ist damit bedeutend weniger von dem Stück gesagt, als wenn wir zusammenhanglos einige Verse daraus anführen, wie diese:

Doch da, wo ich mein Herz als Schatz vergrub.
Wo Leben ist oder kein Schein des Lebens,
Quell, der allein mein Leben strömen macht
Oder versiegt – von dort vertrieben sein!
Oder ihn sehn als Höhle ekler Kröten
Und ihrer Brut – da wechsle deine Farbe,
Geduld, du rosenlippiger Cherub,
Schau grimmig wie die Hölle!

Was Liebe, was Eifersucht ist, hat noch kein Logiker, aber mancher Künstler gesagt, dadurch, daß er die außerlogischen Kunstmittel des Bildes und des Rhythmus benutzte, indem er nicht von außen an die Erscheinung heranging, sondern sich intuitiv hineinversetzte und aus der Erregung heraus Formen schuf.

Weil dieser wesentliche Vorgang des künstlerischen Schaffens logisch nur umschrieben (wie wir es hier versuchen), niemals erfaßt werden kann, bestehen über das Wesen der Kunst so viele Irrtümer. Allgemein weiß man wohl, daß es sich bei ihrem Hervorbringen und Genießen um Erregungszustände handelt, aber darum war man stets bereit, jede Art der Erregung mit ihr zu verwechseln. So hat sich abwechselnd der Enthusiast, der Schwärmer, der von Weltschmerz verzehrte Melancholiker, der Patriot, der Revolutionär, der Empfindsame mit dem Künstler verwechselt. Erst in letzter Zeit hat sich zu diesen Scheinkünstlern auch der lehrhafte Verstandesmensch gesellt, und er ist der Schlimmste, weil er nicht einmal von irgendeiner, wenn auch außerkünstlerischen Erregung glüht. Die Erregung, so wenig sie selbst zur Kunst geneigt ist, die immer nur Schaffen von neuen Formen ist, macht wenigstens vielleicht zum Kunstgenuß in gewissen Grenzen empfänglich. Die an die Kunst geratenden Verstandesmenschen (meist nennen sie sich Ästhetiker) zertreten dagegen alle Keime und Blüten durch das Vivisektionsverfahren ihres wissenschaftlichen Verfahrens. Sie sind es, die häufig auf Grund eines unklaren Gefühls (Verstandesmenschen haben immer flaue Gefühle) eine Lehre oder ein Zweckprogramm aufstellen, von dem aus sie der Kunst ihre Forderungen entgegenhalten. Wir wollen hier ganz von jener Tendenzkunst absehen, die sich mit irgendwelchen aufrührerischen oder sozialen Theorien verbündet und »in künstlerischer Form« den Umsturz alter Götzen besorgen möchte. Dieser Irrtum ist so grob, daß er heute in den weitesten Kreisen der Bildung erkannt worden ist. Auch die platte Vulgärkunst des großstädtischen Alltags ist grundsätzlich nicht so gefährlich, weil sie kaum für etwas Besseres gelten will, als was sie ist. (Diese gemeine platte Kunst schildert nicht Gemeines und Plattes [das könnte künstlerisch sein], sondern sie schildert große Kämpfe und Gefühle auf gemeine und platte Weise. Sie hat nichts zu tun mit jener anderen, dekadent genannten, Kunst des Tages, die aufgelöst, interessant, frivol und geistreich sein mag, sondern es ist die Beleuchtung der geistigen Werte mit der trüben Laterne der Trivialität: die Spießbürgerlichkeit als Tendenz. Dies alles hat es vor dem 19. Jahrhundert überhaupt nicht gegeben, eine Vulgärkunst schlechter Theaterstücke, Romane, Bilder und Lieder. Alles dies hat mit der Entwicklung des Geistigen gar nichts zu tun. Diese Kunst gehört eigentlich nicht dazu und ist trotz ihrer ungeheuren Verbreitung verhältnismäßig harmlos, weil sie ohne jede propagandistische Absicht der weitverbreiteten Nachfrage nach Schlechtem ein schlechtes Angebot gegenüberstellt. Ja, ihre Urheber halten sich selten für wirkliche Künstler, sondern geben aus einem Gemisch von kümmerlicher Daseinsnot und persönlicher Würdelosigkeit zu, daß sie für die Menge arbeiten.)

Viel bedenklicher dagegen ist der verstandesmäßige Irrtum, aus einem Gemenge von hygienischen und »naturgemäßen« Forderungen eine »künstlerische« Kleidung zu ersinnen, oder jene Lehre, die den Einzelnen gewissermaßen als Funktion seines Heimatbodens betrachtet und daraus die Forderung der Heimatkunst ableitet. Alle diese Bestrebungen suchen den Sinn des Künstlerischen in einer Programmatik, die höchstens vermag, Irrtümer der Vergangenheit zu beweisen und zu umgehen. Dies ist aber selbst noch nichts Schöpferisches. Ein Teil des modernen Kunstgewerbes ist nichts anderes, als die Auslassung derjenigen Ornamente und Formen, an denen sich das Epigonentum unserer Großeltern entzückt hat. Aber dadurch, daß man den Stil Ludwigs XV. verabscheut und alles vermeidet, was an ihn erinnern könnte, hat man noch nichts Neues geschaffen, sondern höchstens ein paar kahle Möbel gezimmert, bei deren Anblick einen friert, und deren Unerprobtheit für den Gebrauch einem die Knochen verrenkt. Das wird um nichts besser, wenn man nachträglich einige willkürliche Erhöhungen oder Vertiefungen anbringt, z. B. die Seitenlehnen eines Sessels bis über Schulterhöhe ragen läßt, so daß man die Arme nicht darauflegen kann. Eine andere Richtung verschmäht das Rokoko als unecht oder »verlogen«, ahmt aber mit einem Aufwand von großen Theorien den Biedermeierstil nach. Wozu alle diese Prinzipienreiterei bei einem bloßen Modewechsel?

Die gefährlichste, weil theoretisch einleuchtendste Forderung der modernen Kunstvernunft (Ästhetik) ist die, daß die Form der sichtbare Ausdruck organischer Kräfte oder mechanischer Funktionen sein muß, d. h. das trübste Banausentum mit dem Ästhetischen verwechseln. Es ist durch die Tat bewiesen worden, daß, zumal in der Nutzkunst, auch die Anpassung der Form an den Zweck schöne Linien hervorbringen kann. Warum aber in einseitigem, schulmeisterlichem Puritanismus die ganze Kunst darauf festlegen? Diese Kunstvernünftler berufen sich auf den griechischen (dorischen) und den frühgotischen Stil, deren Formen nichts anderes als Funktionen, d. h. tatsächliche Kräfte ausdrücken. Wenn dies wahr ist, so ist es ganz gewiß nicht aus schulmeisterlicher Absicht, sondern aus künstlerischer Intuition, nicht als Programm, sondern als notwendige Erfüllung geschehen. Nun gibt es aber außerdem noch den bezaubernden, obgleich unkonstruktiven Irrsinn indischer Tempel oder die verwegene Pracht barocker Palast- und Parkarchitektur. Glaubt man wirklich, daß so ein modernes Ideologengehirn mit der sauberen »Aufrichtigkeit« seiner Sanatorien- und Bethäuserbaukunst gegen solche Kunstblüte aufkommen kann, bloß weil seine Entwürfe gesetzmäßig und, wie es glaubt, ästhetisch »richtig« sind? Wenn wir vielleicht nachträglich auch einen logischen Sinn in die gegeneinander abgemessenen Kräfte einer gotischen Kirche oder eines dorischen Tempels legen können, so sind es doch nicht jene Maße, welche die Erhabenheit solcher Bauwerke ausmachen, vielmehr ist Erhabenheit auch ohne jene Maße mit anderen Mitteln zu erreichen.

Was ist der Zweck all dieser verstandesmäßigen Ästhetik? Der Kommunismus. Die Schönheit für alle, auch für die Unbegabten, Unempfindlichen. Der Verstand teilt sie auf, er gibt Rezepte, wie man mit Umgehung des Talents konstruktive Gebilde herstellen kann, die in den Augen der andern Unbegabten von wirklichen Kunstwerken nicht zu unterscheiden sind. Das kann jeder lernen, die Industrie vermag derartige Gebilde leicht zu vervielfältigen, und man glaubt von einer Renaissance des guten Geschmackes sprechen zu können, weil eine Tischklingel heute nicht mehr notwendigerweise wie ein Fahrrad aussieht oder eine Rumflasche wie ein Ritterfräulein. Statt dessen zieht man vor, Stühle aus Formen zusammenzusetzen, die wie fossile Knochen aussehen, und an den Wänden geschwür- und grindartige Ornamente anzubringen. Dagegen sind die Neger in den Hotelvorhallen und die Pilze, auf denen man in Bürgergärten sitzt, anspruchslose, wenn auch nicht gerade feine Späße gewesen. Dieses moderne Kunstgewerbe – gegen dessen schöne Einzelleistungen sich diese Zeilen nicht richten, solange sie kein Programm sein sollen – setzt zu sehr Menschen voraus, die alles neu haben möchten, Emporkömmlinge, die durch nichts an Eltern, Groß- und Ureltern erinnert sein wollen.

Wie bequem ist aber diese moderne verstandesmäßige Ästhetik gar für den Touristen! Man verwirft den »Schwulst« des Barocks, die »spielerische« Frivolität des Rokoko. Dreiviertel aller Kunstwerke werden ohne weiteres exkommuniziert, weil sie nicht aus organischer Notwendigkeit, sondern aus ornamentalem Spieltrieb hervorgegangen seien. Man ist von der unbequemen Zumutung befreit, die eigene Schönheit jedes Dinges selbst zu finden. Die Heilige-Geist-Kirche in X. hat eine prachtvolle Barockfassade. Barockfassade? Braucht man nicht zu sehen. Das ist gewiß wieder so eine »theatralische Kulisse, die unorganisch auf ein ungegliedertes Bauwerk gepappt ist«. So gibt es heute für alle Künste rein verstandesmäßige Kriterien, die man erlernen kann, ob man nun von Haus aus zum Bäcker oder zum Mathematiker bestimmt ist. Nur dann nicht, wenn man einiges künstlerische Gefühl besitzt. Alles, was diesen Kriterien nicht entspricht, ist »Kitsch« oder »verlogen«. Das Wissen um diese »Kultur«forderungen, nach deren Maßstäben es sich so bequem preisen und verdammen läßt, wird bekanntlich von den Malknaben und Malmädchen aus der Provinz nach höchstens vierzehn Tagen eines Münchener Aufenthaltes erworben und beängstigend schnell als Weltanschauung einverleibt.


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