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Sechsunddreißigstes Kapitel

Der Justizrat war über Reinhardts langes Ausbleiben fast ungeduldig geworden; die Berichte, die Reinhardt erstattete, versöhnten ihn jedoch vollständig. – »Viktoria!« rief er und ging, die Hände reibend, auf und ab. »Der Sieg ist unser, und, was nicht gering anzuschlagen, er wird noch heute erfochten. Wir werden erwartet – drum vorwärts! Mut, Reinhardt! Lassen Sie sich nicht verblüffen, Sie selbst sind der beste Anwalt Ihrer Sache, reden Sie frei von der Leber weg. – Vorwärts, der Präsident des Ministeriums, Geheimrat v. P., erwartet uns, wir werden dort auch den Herrn Generalsuperintendent antreffen.«

Unterwegs plauderte der Justizrat: »Sie sehen, Ihre Angelegenheit, die Vorfälle in Bergheim machen Aufsehen! Darf nicht verhehlen, daß man in den höchsten Kreisen Ihnen sehr übelwollte und sehr stark für Ihre Gegner Partei nahm. Doch konnte man sich der Logik der Tatsachen nicht verschließen und mußte zugestehen, daß Ihnen schweres Unrecht geschehen, daß man Ihnen Satisfaktion schuldig. – Nur verbesserte dies die Stimmung nicht gegen Sie, da man vor den Verlegenheiten erschrak, die durch Sie – so behauptete man mit rührender Konsequenz – der Regierung bereitet würden. Nun begann aber auch der Landrat gegen Superintendent K. und Pfarrer Walter zu stürmen, und der Landrat, ein Mann, dessen Energie und rücksichtslose Derbheit selbst von seinen Vorgesetzten gefürchtet wird, versteht das Stürmen. Nun begann auch in den Augen der Herren Ministerialräte die Angelegenheit entschieden andere Farbe zu gewinnen, und eine klägliche Eingabe des Superintendent K. vollendete den Umschwung der Anschauungen. Als nun noch die Bergheimer Ereignisse dazu kamen, erreichte der Unwille gegen Pfarrer Walter seinen Höhepunkt, meine Vermittlungsvorschläge wurden mit Begierde aufgenommen. Im Prinzip ist der vorgeschlagene Vergleich längst angenommen, nur möchte man noch ein wenig mit Ihnen feilschen. Man wird Sie gelinde in die Presse nehmen, um – wenn auch nur dem Scheine nach – einen Ausgleich zwischen Ihnen und Walter herzustellen, der – wer kann es wissen – sich vielleicht im Laufe der Zeit als eine Unterwerfung – hm, hm – was weiß ich? – herausstellen könnte! Nur das eine merken Sie sich, Sie Stein des Anstoßes! – man möchte Sie mit dem Pfarrer versöhnen – versöhnen – verstanden!«

»Sehr wohl!« entgegnete Reinhardt und hob den Kopf. »Ist gut, daß in meiner Brieftasche die Antwort bereitliegt.«

»Und die wäre?«

»Nicht einen Augenblick länger ertrage ich Walters Inspektion. Er oder ich – einer muß weichen, und zwar sogleich!«

»So?« knurrte Stein, während er ihm heftig die Hand drückte. »Und wissen Sie, Sie Querkopf und Störenfried, wem all das Unheil, das Sie anrichten, in die Schuhe geschoben werden wird? – Sie müssen doch zuletzt die Zeche bezahlen, Sie ganz allein! Und wie lautet jetzt Ihre Antwort?«

»Ich habe nur eine!«

»Nun so rennen Sie hin in Ihr Unglück! Und denken Sie nicht, bei dem Justizrat Stein Hilfe zu finden, kommen Ihnen die Hunde endlich doch über das Fell!«

Damit fand das Gespräch ein Ende – die Herren betraten die Wohnung des Ministerialpräsidenten. Reinhardts Herz klopfte heftig. Das war jedoch nicht bloß Scheu vor dem hohen Herrn, es war auch Sorge, ob er im entscheidenden Moment auch das rechte Wort, den rechten Entschluß finden werde.

Auch hier mußte man ihn bereits erwartet haben, denn nach kurzer Vorstellung, und nachdem man um den runden Tisch Platz genommen, begann der Geheimrat sogleich von den Geschäften zu sprechen. Der Justizrat bat, ehe man in die Verhandlung eintrete, doch erst den Bericht Reinhardts über die gestrigen und heutigen weiteren Ereignisse in Bergheim vernehmen zu wollen, die, nach seiner Ansicht, die Sachlage wesentlich änderten.

Die beiden Ministerialräte tauschten einen Blick, dann begann der Geheimrat langsam, indem er ein offnes Schreiben erhob und es so hielt, daß Reinhardt Walters Schriftzüge erkennen konnte: »Sie sind uns nicht mehr ganz fremd, diese bedauerlichen Vorgänge; wir sind sehr gespannt auf Ihren Bericht, Herr Lehrer, und ich bitte, mit möglichster Genauigkeit den Stand der Dinge darzulegen.«

Wie wohl tat Reinhardt diese ruhige Höflichkeit, deren gehaltene Ruhe keineswegs Kälte oder Gleichgültigkeit atmete. Mit dankbarem Aufblick begann Reinhardt ruhig, klar und besonnen seine Erzählung; er hielt sich streng an die Wahrheit, nur hie und da erlaubte er sich abzuschwächen, zu mildern. – Der Geheimrat spielte mit Walters Bericht, Reinhardt entging jedoch nicht, daß er da und dort ein Wort unterstrich, ein Zeichen an den Rand machte. Fast mit jedem Worte wuchs die Aufmerksamkeit der Ministerialräte, sie tauschten häufig Blicke, begleitet von kaum merklichem Kopfschütteln.

»Pfarrer Walter berichtet, Sie seien in dem Tumult vor seinem Haus verwundet worden – warum übergehen Sie das?«

»Ich glaubte, da dieser unbedeutende Zwischenfall mich allein betrifft, ihn verschweigen zu dürfen!«

Der Geheimrat nickte dem Justizrat leise zu: »Fahren Sie fort!«

Es erfolgte lange keine Unterbrechung, erst als er Walters Brief von diesem Morgen erwähnte, zog der Generalsuperintendent seine Stirn in Falten, der Geheimrat machte einen großen Strich in den Bericht und fragte: »Haben Sie diesen Brief hier?«

Reinhardt überreichte ihn; heftig den Kopf schüttelnd, gab ihn der Geheimrat dem Generalsuperintendenten, dieser dem Justizrat. Reinhardt setzte seine Erzählung fort, als er sein summarisches Verfahren gegen Walter wahrheitsgetreu darlegte, sprang der Geheimrat auf und rief: »Herr! – das taten Sie? Wissen Sie, welches Vergehens Sie sich schuldig machten?«

Reinhardt entgegnete: »Ich war mir vollkommen klar bewußt, daß ich eine strafwürdige Handlung beging, als ich Pfarrer Walter gleich einem Gefangenen Wächter setzte; dennoch tat ich es, und ich würde auch jetzt noch im gleichen Falle das nämliche tun!«

Der Geheimrat ging heftig auf und ab, der Generalsuperintendent betrachtete eifrig seine Nägel, der Justizrat lächelte leise und sagte: »Ich denke nicht daran, die eigenmächtige Handlung des Herrn Lehrer nur im geringsten zu entschuldigen; – nur ist mir aufgefallen, daß Herr Pfarrer Walter in seinem Bericht gerade diesen höchst gravierenden Tatbestand gänzlich unerwähnt gelassen zu haben scheint. – Das möchte wohl zu bedenken sein!«

Der Geheimrat nickte, ohne seinen Gang zu unterbrechen: der Geistliche sagte leise: »Vollenden Sie, Herr Lehrer!«

Er hatte wenig hinzuzusetzen, allein was er noch beifügte, erregte die Aufmerksamkeit der Ministerialräte im höchsten Grade. Als er aufatmend schloß, fragten beide: »Und nun?«

Reinhardt stand auf.

»Sie kennen den Willen der Gemeinde in betreff des Herrn Pfarrers, den Ihnen dies Schreiben noch spezieller darlegen wird, und leider kann ich nicht anders, ich muß bitten: wenn die hohe Staatsregierung diese Petition verwerfen sollte, möge sie zeitig Maßregeln treffen, die neue Störungen der öffentlichen Ruhe und Sicherheit unmöglich machen. Bei einem zweiten Aufruhr würden die wohldenkenden Männer nicht imstande sein, Ausschreitungen zu verhüten.«

»Sie sind Partei – nicht?« sagte der Geheimrat finster. »Das entschuldigt, wenn Sie schwarz sehen!«

»Ja, ich bin Partei!« sagte Reinhardt freimütig. »Aber wenn ich zu schwarz sehe, was noch abzuwarten ist, so kommt das vielleicht daher, daß ich den Tollköpfen Auge in Auge gegenüberstand!«

»Ich vermisse in dieser Petition Ihren Namen, Herr Lehrer?« fragte der Geheimrat nach einer Pause, in der er die Unterschriften geprüft. »Wie kommt das?«

»Dieses wird die Lücke ergänzen!« lächelte Reinhardt und überreichte ein zweites Schreiben.

»Sie sind sehr kühn – außerordentlich kühn!« rief der Geheimrat, während sich seine Stirn in Falten legte. »Sie, der Sie als Bittender zu uns kommen, eine große Gnade von der Regierung zu erlangen wünschen, Sie beginnen in solchem Tone zu reden?«

»Mit dem Schicksal meines unglücklichen Schwiegervaters hatte dieses Gesuch nichts gemein. Exzellenz, nach der ausführlich berichteten Unterredung mit Herrn Pfarrer Walter in vergangener Nacht können wir beide nicht einen Augenblick länger im dienstlichen Verhältnis stehen. Schon seit einem Jahr hat mir Walter versichert, er werde nicht ruhen, bis er mich zum mindesten aus dem Schulamt gedrängt. Ich nahm dies schweigend hin. Nun er aber in vergangener Nacht klar und deutlich ausgesprochen, daß er meine Rechtfertigung vor dem Gericht nicht anerkennt, nachdem er mir versichert, daß er sein früheres Urteil über mich nicht im geringsten modifiziere, seine Anklagen sämtlich aufrechterhalte – nun ist ein längeres Zusammensein unmöglich. Entweder er geht oder ich!«

»Sie fordern sogar sofortige Entscheidung, das ist wenigstens – stark!«

Reinhardt zuckte die Achseln. »Nicht eine Stunde kehre ich in die alten Verhältnisse zurück. Wenn ich dies Zimmer verlasse, ist entweder Walter seiner Lokalschulinspektion enthoben und seine Versetzung von Bergheim gewiß, oder ich bin aus dem Staatsdienst ausgeschieden!«

Der Geheimrat stand am Fenster und spielte mit der Vorhangschnur. Plötzlich wendete er sich in das Zimmer zurück und sagte rauh: »Und wie, mein Herr, verhält sich Ihre heutige Forderung zu den Vorschlägen, die uns Herr Justizrat Stein überbrachte?«

»Ich erlaube mir an meine Erklärung zu erinnern, daß meine heutige Forderung mit jenen Vorschlägen in keiner Verbindung steht!«

»Ah – meinen Sie wirklich?« rief der Geheimrat, während ein böses Lächeln um seine Mundwinkel zuckte. »Sie werden erlauben, daß ich um nähere Erklärung bitte.«

»Der Herr Staatsminister scheinen allerdings die ganze Sachlage wesentlich anders aufzufassen als ich. Ich beeile mich, meine Anschauungen zu entwickeln. Zunächst ändert meine heutige Forderung die gestrigen Vorschläge allerdings nicht. Wie auch die Entscheidung Ew. Exzellenz ausfallen mag, es steht ganz in meiner Hand, ob ich von dem mir gesetzlich zustehenden Recht der Beschwerde gegen das Kirchen- und Schulamt Gebrauch machen will oder nicht – und darauf, wie sich Ew. Exzellenz gewiß erinnern werden, gründeten sich ganz allein die Vorschläge des Herrn Justizrates! – Sodann aber muß ich noch einer andern Auffassung energisch widersprechen! Ew. Exzellenz sagten vorhin: ich komme als Bittender, ich suche eine große Gnade zu erlangen. Als Bittender stehe ich nun allerdings vor Ihnen, aber keineswegs als einer, der um eine Gnade bettelt!«

Als der Geheimrat blitzschnell nach dem Lehrer herumfuhr und ihn mit großen Augen fixierte, senkte der Justizrat den Kopf, wahrscheinlich ein leises Lächeln zu verbergen. Doch Reinhardt ließ sich nicht beirren, mit Ruhe und Klarheit fuhr er fort: »Allerdings auf den ersten Blick erscheint mein Verlangen sonderbar. Die Gerechtigkeit ist ja ihrem Wesen nach nicht erkauflich. Da nun einmal mein Schwiegervater Strafe verwirkt hat, so kann diese nie, auch nicht durch ein ähnliches Opfer, abgekauft werden; die Strafe kann – vom Rechtsstandpunkt aus – nur in Gnaden erlassen werden. Allein neben dem geschriebenen, harten, mitleidlosen Recht gilt in der Welt noch ein reineres, höheres Recht. Ich weiß keinen Namen für jenes Gesetz, das lieber versöhnt als entzweit, aufbaut statt zu vernichten. Und im Namen dieser höheren Gerechtigkeit, im Namen der Humanität stehe ich hier und bitte um Niederschlagung des Prozesses gegen meinen Schwiegervater und seine beiden Unglücksgenossen. Ich erbitte das nicht als eine Gnade, sondern Kraft jener höchsten Gerechtigkeit, als eine Erfüllung des Rechtes.

Wollten Ew. Exzellenz mir noch einige Worte gestatten? – Es hat den Anschein, als entspringe mein Gesuch aus rein persönlichen Motiven. Ohne solche Motive gänzlich in Abrede zu stellen, darf ich behaupten, daß ich mich mit dem gleichen Eifer für die Gesetzesübertreter verwenden würde, auch wenn ich keinem verwandtschaftlich nahestände. Ich halte sie nicht für so schuldig, als es der Wortlaut des Gesetzes ergibt. Ihre Tat ist nur ein Ausfluß der furchtbaren Verwirrung, die alle Verhältnisse in Bergheim auf den Kopf gestellt hat. In Bergheim sind alle moralischen und gesellschaftlichen Ordnungen schwer erschüttert – ein Zeugnis dafür diese beispiellose sittliche Verirrung sonst durchaus braver und unbescholtener Männer. Sie sind die unglücklichsten Opfer dieser heillosen Verwirrung, aber nicht die einzigen. Wenn Hohe Staatsregierung auf gründliche Untersuchung besteht, beschwört sie Geister, die sie nicht leicht wieder los wird. Das halbe Dorf muß mindestens auf die Anklagebank wandern, Zorn, Haß und Rachsucht schwillt zu einem endlosen Strom an – das Ende ist klar: völliger Ruin der Gemeinde. – Glauben Sie nicht, daß nur meine Schwarzseherei solches Ende kommen meint – hier, diese zweite Petition der Bergheimer Gemeinde, die noch gestern so lärmend auf strenge Bestrafung aller Schuldigen drang, mag beweisen, mit welchen Sorgen man der Entwicklung dieses Prozesses entgegensieht!«

»Ah, Sie sind ja außerordentlich reichlich mit dergleichen Dingen versehen!« rief der Geheimrat unmutig, griff aber dennoch hastig nach dem Papier, dessen Inhalt er genau prüfte. »Ah – das klingt allerdings anders! Nach den Berichten des Staatsanwalts über die Stimmung in Bergheim hätte ich dies nun und nimmer erwartet. – Ah – so! – Hm! Nun, entweder sind die Zustände draußen in der Tat schlimmer, als wir bisher annahmen, oder – Sie haben Ihren Einfluß sehr geschickt zu verwerten gewußt!«

Reinhardt schoß das Blut in das Gesicht. »Einfluß? Ich? Ah, Ew. Exzellenz, spricht der Schlag, den ich vor dem Pfarrhaus empfing, und der nur zu aufrichtig gemeint war, auch für meinen Einfluß auf die Massen? – Möglich allerdings, daß ohne meine Dazwischenkunft die Bergheimer heute noch forttobten, wie sie gestern begonnen; wenn es aber meinen Gründen gelang, ihnen in der größten Erregung so bald die Augen zu öffnen, spricht dies gegen mich?«

Der Geheimrat gab die Petition dem Geistlichen und ging mit großen Schritten auf und ab. Der Justizrat blickte ihm stirnrunzelnd nach und sagte mit scharfer Betonung: »Ew. Exzellenz, ich erlaube mir die Bemerkung, daß durch diese Petition, die ich kenne, die ganze Verwicklung in ein neues Stadium getreten ist. Die Entscheidung kann jetzt, nach meinem Dafürhalten, nicht mehr zweifelhaft sein!«

»Erlauben mir Ew. Exzellenz nur noch wenige Worte!« sagte Reinhardt tiefatmend, indem er einen Schritt näher an den Tisch trat, als der Geheimrat noch immer zögernd schwieg. »Ew. Exzellenz, daheim erwartet eine ganze Gemeinde mit Angst und Zagen die Entscheidung, die ich bringen werde. Möglich, daß die Furcht die Oberhand behält und die Nachbarn vor ungesetzlichem Treiben bewahrt, komme ich mit abschlägiger Antwort heim; möglich aber auch, daß die Verzweiflung die Menschen völlig in Bestien verwandelt. Ein Wort von Ihnen kann zum Segen und Fluch werden – o, zögern Sie nicht, Ew. Exzellenz, sprechen Sie es aus, das Wort der Versöhnung, geben Sie uns den Frieden wieder!«

»Auch ich«, warf der Justizrat ein, »schließe mich der Bitte meines Freundes an. Zögern Sie nicht, dieser heillosen Angelegenheit ein Ende zu machen. Bedenken Ew. Exzellenz, dieser Augenblick kommt nicht wieder; sind erst die Verhältnisse in Fluß geraten, vermag keine Macht der Welt sie aufzuhalten. Geben Sie dem Dorf den Frieden, nach dem man sich sehnt; Sie können dies unbedenklich tun: die Hauptverbrecher gehen ja ihrer Strafe entgegen – lassen Sie es damit genug sein!«

Des Geheimrats Stirn entwölkte sich; mit gnädiger Handbewegung lud er die Herren ein, ihre Sitze wieder einzunehmen. Er selbst zog den Generalsuperintendent in eine Fensternische, wo er lange und eifrig mit ihm verhandelte. Endlich kehrten beide zurück, und der Geheimrat sagte zu Reinhardt: »Die Staatsregierung erkennt mit aufrichtigem Danke Ihre Bemühungen um Aufrechterhaltung der Ordnung an. Ihre und Ihrer Gemeinde Wünsche sollen gründlich in Erwägung gezogen und wenn irgend möglich erfüllt werden.«

»Nein, nein!« rief Reinhardt aufspringend. »Damit lasse ich mich nicht abweisen! Gott weiß es, die fürchterliche Ungewißheit daheim ist nicht mehr zu ertragen. – Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende! – halten Ew. Exzellenz mir meine Aufregung zugute. Mir ist zu übel mitgespielt worden, als daß ich mich noch einmal auf die Zukunft vertrösten lassen könnte. Entweder ja oder nein! Ich kann nicht eine Minute länger unter Pfarrer Walter stehen; ein Aufschub der Entscheidung muß mir als nein gelten und den Kampf herbeiführen, den ich so gern vermeiden möchte. Ew. Exzellenz – noch einmal – geben Sie mir, geben Sie dem unglücklichen Dorf den Frieden!«

Alle waren aufgesprungen, der Justizrat – er war bleich geworden – legte, als wolle er ihn schützen, seine Hand auf des Freundes Schulter; der Geistliche suchte den zornglühenden Minister zurückzuhalten. In diesem peinlichen Augenblick trat ein Diener ein, der dem Geheimrat ein großes Schreiben präsentierte. Mechanisch öffnete er es und überflog den Inhalt – während des Lesens verfärbte er sich, murmelte: »Ah – das ist ja sichtbar Gottes Finger!« Darauf winkte er dem Generalsuperintendent und verschwand abermals mit ihm in der Fensternische.

Als er zurückkehrte, begann er sichtbar bewegt: »Meine Herren! Gott selber hat entschieden! Wissen Sie, der Wagner Paul Scheler machte in dieser Nacht einen Fluchtversuch, stürzte von bedeutender Höhe und blieb auf der Stelle tot; der Uhrmacher Jakob Brückner mußte noch in der Nacht ins Irrenhaus gebracht werden, dort tobt er im schrecklichsten Delirium tremens wahrscheinlich bald in den Tod – und soeben wird mir die Nachricht, daß auch der Bauer Johannes Metzner nach schrecklichem Leiden seinen Wunden erlegen ist.« Als ihn Reinhardt und der Justizrat erschüttert anblickten, gab er Reinhardt die Hand und fuhr fort: »Die Hand des Höchsten hat meine letzten Bedenken gehoben. Die Hauptverbrecher sind der menschlichen Gerechtigkeit entrückt, damit sind die Haupthindernisse einer friedlichen Lösung beseitigt. Gehen Sie, Herr Lehrer, bringen Sie den Ihren, Ihrer Gemeinde den Frieden. Pfarrer Walter ist von heute zum Pfarrer in Reichenbach ernannt. Auch darauf werden wir Bedacht nehmen, einen Mann milden und versöhnlichen Sinnes an Walters Stelle zu setzen. – Alles Vergangene sei vergeben und vergessen! Gehen Sie, bringen Sie Ihrer Gemeinde die Friedensbotschaft! Halt – auch der Antrag des Bauern Jörg Vorndran von Sülzdorf ist angenommen; er wird demnächst als Vormund der Metznerschen Kinder verpflichtet werden.«

Reinhardt faßte die Hand des Geheimrats und flüsterte: »Dank – heißen Dank! Edler Mann, in vielen Herzen haben Sie sich ein Denkmal errichtet – –«

»Lassen Sie das!« rief der Geheimrat und entzog ihm seine Hand. »Nicht mir gebührt Dank, ich erfüllte nur meine Pflicht. Sie – Sie haben sich Verdienste erworben, und – fast beschämt stehe ich vor Ihnen, daß ich mich soeben zur Heftigkeit hinreißen ließ! Auch hier vollkommne Indemnität nach allen Richtungen – wie? Sie haben nicht nur meine Teilnahme erweckt, sondern auch meine vollkommene Hochachtung erworben. – Gehen Sie, mein lieber Herr Reinhardt, wir werden uns wieder treffen!«

»Ja, gehen Sie!« sagte der Geistliche bewegt. »Bald komme ich nach Bergheim, Sie in Ihre vollen Ehren einzusetzen!«

Wie er auf die Straße kam, wußte Reinhardt nicht. Die so unerwartet gekommene günstige Entscheidung, nachdem alles verloren schien, verwirrte ihn vollständig: das unfaßbare Glück, das so gewaltsam auf ihn hereinströmte, machte ihn schwindeln und glühen.

Wie im Traum hörte er den Justizrat sprechen, und eine unklare Erinnerung blieb ihm, als habe der ernste, strenge Mann mit tiefer Bewegung seinen Mut, seine Festigkeit anerkannt. Er konnte nichts tun, als ihm dankbar die Hand drücken, zum Sprechen war ihm das Herz allzu voll.

Karl wartete schon; auf ein Wort des Justizrats warf er laut jubelnd seine Mütze in die Luft, dann lief er nach den Pferden.

Joseph zog seinen Herrn zur Seite und flüsterte ihm eine Meldung ins Ohr: als er dann rasch die Türe des Vorzimmers öffnete, erhob sich ein junger Mann, starrte verwirrt auf Reinhardt und warf sich stürmisch an seine Brust. »Robert!« rief Fritz erstaunt. »Robert, ist's möglich? Wo kommst du her?« Wenige Worte genügten zur Aufklärung dieses unerwarteten Zusammentreffens. Stein hatte noch am selben Morgen, da ihn Reinhardt aus dem Schlafe störte, an Robert geschrieben und ihm den Stand der Dinge mitgeteilt. Gestern hatte dieser, den Angst und Sorge fast aufgerieben, den Brief erhalten und sich entschlossen, sogleich den Rechtsanwalt selbst aufzusuchen. Der Justizrat hatte sich entfernt, kehrte mit einigen Papieren zurück und sagte sehr ernst: »Hier, Herr Robert Schulz, übergebe ich Ihnen Ihre Ehre und gerettete Zukunft. Vergessen Sie nie, was Sie dem Lehrer Reinhardt schulden, ihm allein danken Sie Ihre Rettung. Vergessen Sie nicht, Herr, wenn auch Ihre Schuld vor den Augen der Welt getilgt ist, vor Gott und Ihrem Gewissen besteht sie fort. Ich hoffe, daß Sie das Kind, das Ihren Namen tragen sollte, nicht vergessen werden; um dieses Kindes willen hoffe ich, daß wir später recht oft in geschäftliche Verbindung treten werden – verstanden? Und nun den Kopf in die Höhe; mit Mut, Vertrauen und Freudigkeit beginnen Sie ein neues Leben!«

Eben als Karl vorfuhr, ließ der Justizrat einen Champagnerkork knallen und füllte die Gläser. »Ohne Rede!« rief er, als die Glaser klangen. »Auf das Wohl Reinhardts, des wackeren, braven Mannes! Auf sein Wohl, eine glückliche, gesegnete Zukunft und auf dauernde Freundschaft!«

Karl klatschte ungeduldig mit der Peitsche. »Fort, fort!« sagte Stein und umarmte Reinhardt. »Fort jetzt, Bergheim wartet! – Bald sehen wir uns wieder, denn lange wird die Hochzeit nun nicht mehr verschoben werden, und, Reinhardt, auf Ihre Hochzeit lade ich mich zu Gast mit Frau und Kind – verstanden?«

Schon saßen Reinhardt und Robert auf dem Wagen, als atemlos ein Ministerialbote herankeuchte und im Auftrag des Geheimrats Reinhardt ersuchte, ein Ministerialdekret, das er überreichte, noch heute an Pfarrer Walter gelangen lassen zu wollen. Reinhardt war wenig erfreut über diesen Auftrag, doch ahnte er, daß der Geheimrat ihn dadurch völlig beruhigen wollte, und so steckte er das Schreiben in die Tasche. Noch ein Händedruck, noch ein Gruß – die Pferde zogen an, und fort ging es.

Die Abendsonne vergoldete die Landschaft, glühend leuchteten die fernen Schneegipfel des Gebirges herein, und ein kräftiger Wind kühlte die Wangen Reinhardts, als sie ins Freie kamen. Karl knallte wie toll mit der Peitsche und jauchzte oft hell auf, daß die Pferde wiehernd bäumten, wie rasend dahinjagten und die harmlosen Wanderer erschrocken und schreiend aus dem Weg liefen. In träumerisches Sinnen versunken saß Reinhardt, – und dennoch entging eigentlich nichts seiner Aufmerksamkeit. Er beobachtete die Emmerlinge und Meisen, die sich in den Chausseepappeln zankten und hetzten, und freute sich ihrer Munterkeit; er betrachtete teilnehmend die scharenweise aus der Stadt heimkehrenden Landleute und ergötzte sich an ihren zufriedenen Gesichtern und heitern Blicken. Gewiß, sie freuten sich auf ihr Daheim! – Wie durchschauerte es den stillen Fahrgast – er hatte ja jetzt auch eine Heimat! In den Dörfern nickte er freundlich den bedächtig dem Wirtshaus zuwandelnden Männern, den in den Haustüren stehenden Frauen, die, einen Säugling auf dem Arm, vom Abendsonnengold bestrahlt, zufrieden neugierig dem dahinrasenden Gefährt nachblickten, zu, und am liebsten hätte er in das Jubeln und Jauchzen der frohen Kinder einstimmen mögen. Wie erquickte ihn der Sonntagsfriede ringsum – jetzt, da er, Frieden im Herzen, auch seinen Lieben, einem ganzen Dorf den Frieden bringen durfte! –

Wie lange ihm auch die Fahrt währte, er fuhr doch verwundert auf, als ein heller Anruf sein Ohr traf – und er, erwachend, sich in Ditterswind sah. Von quälender Ungeduld getrieben war ihm der Schulbauer mit einer ganzen Schar Nachbarn entgegengefahren. Während die übrigen in lauten Jubel ausbrachen über die von Karl berichtete Freudenbotschaft, sich die Hände schüttelten und immer wieder hell hinausjauchzten, lagen sich Fritz und der Schulbauer lange stumm in den Armen. –

Beim Stammberg ward haltgemacht. Die Männer eilten in den Gemeindewald und kehrten bald mit schlanken Tannenbüschen zurück, durch welche sie die Wagen in grüne Lauben verwandelten. Auch die Rosse, Hüte und Mützen wurden geschmückt, dann ging es weiter in sausender Flucht, nur mit Mühe vermochten die Lenker die scheuenden Pferde im Zügel zu halten.

Schon bogen die Gefährte nach der Grundmühle ab, als plötzlich das Jauchzen und Peitschenknallen verstummte, die Pferde zu langsamem Schritt eingezügelt wurden. Reinhardt blickte erstaunt auf, was das bedeute – da sah er, wie alle Begleiter die Mützen abnahmen, zugleich schlug tiefes Summen und Sausen an sein Ohr, und der Schulbauer flüsterte ihm zu, während ihm das Wasser in die Augen trat: »In Bergheim läuten sie den Frieden ein! – Ehre sei Gott in der Höhe!«

Und so war es! Auch Robert und Reinhardt wurden die Augen feucht, als sie im tiefen Schweigen, nur von den immer machtvoller anschwellenden Glockentönen umbraust, langsam die steile Schleifgasse emporfuhren. Bald wurde es um die Wagen lebendig; als sie endlich in das Dorf selbst einrückten, wogte ihnen ein gewaltiger Menschenstrom entgegen, drängte sich um die Wagen und riß sich um Reinhardts Hand. Und die Glocken klangen fort, und Männer und Weiber, Jünglinge und Jungfrauen, Greise und Kinder jauchzten, schluchzten und lachten: »Friede! – Friede!«

Vor dem Dorfbrückchen gab Reinhardt dem Beckenkarl einen Wink; da gerade eine Lücke sich auftat, hieb dieser auf die Pferde und bog im Galopp in den schmalen Weg nach dem Herrnhof ab. Den Empfang im Herrnhof übergehen wir. Anna ließ seine Hand nicht aus der ihren, und der Herrnbauer sagte: »Du hast Großes an mir und an uns allen getan. Ich kann dir nicht danken, aber beten werde ich für dich alle Tage, und mein Segen wird auf dir ruhen!«

Und die Glocken tönten fort!

Robert war verschwunden, er wurde nicht vermißt. – Die Nachricht vom Tod des Jockenhannes und Wagnerspaule, vom Geschick des Uhrmacherle rief große Erschütterung hervor, doch der Schulbauer sagte: »Friede mit der Asche der Toten! mögen sie nun ruhen, da sie im Leben nie Ruhe fanden. Eine gnädige Fügung: ihr rasches Ende, für sie, uns und besonders ihre hinterlassenen. Nun erst ist der Friede gesichert, nun erst können wir sagen: es ist alles gut!«

»Ja, es ist alles gut!« flüsterte Anna ihrem Bräutigam zu. »Heute nachmittag kam der Fuchsmüller mit dem Schäfersfrieder ins Schulzenhaus; auch die Schulzenmarie ist Braut!«

Es wurde stille im Zimmer, nur die Glocken tönten fort.

Da wurde es im Hofe lebendig, Kopf an Kopf drängte sich drunten, hundert Augen blickten erwartungsvoll zu den Fenstern empor – aber wie so anders als gestern! Und plötzlich brauste es drunten los: »Unser Herr Lehrer soll leben – dreimal hoch! Und der Herrgott vergelte ihm, was er an uns getan und erhalte ihn uns noch lange Jahre – hoch! hoch! hoch!«

Reinhardt schüttelte den Kopf, drängte Anna von sich, eilte hinaus und winkte Schweigen. Sofort legte sich Totenstille über die Menge, nur das Geläute brachte die Luft in zitternde, brausende Schwingungen. »Nicht doch, Freunde!« rief Reinhardt mit hallender Stimme, »nicht mir gebührt die Ehre, ich tat nichts als meine Schuldigkeit! Einer ist es, der ewige Geist der Wahrheit und Liebe – er allein half uns zum Frieden: ihm allein sei Preis, Ehre und Ruhm! Eine böse Zeit ist überwunden, auf glücklichere, schönere Tage hoffen wir – kommt, laßt uns die Sitte unfrei Vorfahren – denn von heute an gehöre ich ganz und für immer zu euch – laßt uns die ehrwürdige Sitte unsrer Vorfahren nicht vergessen. Kommt, rufet die Musikanten, versammelt euch unter der Dorflinde, daß wir Gott danken für seine Gnade und Barmherzigkeit!«

Während die Menge, von Reinhardt geführt, schweigend nach der Dorflinde zog, umfluteten die Glockenklänge einen Mann, der unter dem Christuskopf kniete und in fassungsloser Erregung die Hände rang. Ein offner Brief lag auf dem Boden: neben ihm kniete seine Frau, drückte seine fieberheiße Stirn an ihre Brust, und ihre Tränen rieselten in sein Haar. »Heinrich, Heinrich!« bat sie weich. »Fasse dich! lasse ab von dieser Verzweiflung, die mich noch töten wird! – Fasse dich! Ist es nicht ein Ruf Gottes, der dich nach Reichenbach führt?« Und als er zusammenzuckte, drückte sie ihn fester an sich. »Heinrich, frevle nicht! Du forderst überall Demut und Ergebung, und den eigenen Willen kannst du nicht beugen? Du selbst haderst mit Gott? Willst dich nicht unterwerfen? – Heinrich, komme zu dir! Höre auf die Stimme Gottes, verstocke dich nicht gegen seine Offenbarungen, die furchtbar gegen dich zeugen. Gib auf diesen eifernden Zorn! Beachte die Lehre, die dir Gott selber gibt! – Heinrich, Heinrich! O gedenke des Heilandswortes: Selig sind die Barmherzigen! selig sind die Sanftmütigen!«

Vom Turme klangen die Glocken, und von der Dorflinde herüber brauste unter Trompeten- und Posaunenhall der uralte Jubelgesang herüber:

Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen, Der große Dinge tut an uns und allen Enden!


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