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Zwanzigstes Kapitel

»Nun Gott sei Dank, daß Sie endlich kommen!« rief am Abend desselben Tages der Schulbauer Reinhardt entgegen und zog ihn rasch in die Stube. »O Reinhardt! was sind das wieder für Geschichten! Kommen Sie in die Stube, meine Lisbeth ist krank geworden vor Schrecken, darum konnte ich heute nicht aus dem Haus; sie wird es Ihnen danken, erfährt sie endlich etwas Gewisses.«

Die bleiche Frau lehnte matt im Kanapee; beide Hände streckte sie dem Lehrer entgegen, und die hellen Tränen rollten über ihre Wangen. Seine Erzählung war traurig genug! Der Bauer vermied ein eingehendes Gespräch, und Fritz verstand bald, daß der Hausherr die leidende Frau schonen wollte; er schilderte mit Wärme den Notstand beim Lichtennikele, erwähnte sein Versprechen und bat um Beistand für die Armen. Jetzt hob der Bauer das Gesicht; ein eigentümlicher Glanz lag auf den ernsten, gefurchten Zügen des Mannes, als er einen langen Blick des Einverständnisses mit seiner Lisbeth tauschte. Aufstehend gab er dem Lehrer die Hand und sagte: »Daß Sie in meinem Namen dem Lichtennikele Hilfe versprochen haben, ist der schönste Beweis Ihrer Freundschaft, den Sie mir geben konnten. Natürlich wird den Leuten geholfen! – Ach, Reinhardt, das Elend, das ja vorauszusehen ist, hat mich den langen Tag schon umhergetrieben. Lebten wir in gewöhnlichen Zeiten, dann wäre kein Zweifel, was ich tun müßte. Allein alle Verhältnisse sind auf den Kopf gestellt. Ich stehe völlig ratlos. Anstatt durch das gemeinsame Unglück sich die Herzen erweichen zu lassen, erhitzen sie ihr Blut nur mehr, über ihrem Haß vergessen sie das Unglück auf den Feldern! So weit hat schon das Verderben um sich gegriffen, daß sogar zwischen mir und meinem Schwager, dem Herrnbauer, offener Hader ausgebrochen ist. Fast dreißig Jahre leben wir nun in Eintracht nebeneinander, keiner nahm Anstoß am Glauben des andern. Und jetzt, da unsre Haare sich bleichen, macht mir mein Schwager meinen Unglauben zum Vorwurf, nennt mich einen Verderber seiner Anna, verlangt, daß ich mich und das Mädchen bekehren soll! – Ach, Reinhardt, um mich handelt es sich nicht, aber meine arme Schwester, vor allem das Mädle, meine Anna, die machen mir Sorge. – Sehen Sie, nach dem Tod unsrer Kinder nahmen wir die Anna zu uns, und wir dürfen wohl sagen, wir haben das Mädchen mit Sorgfalt aufgezogen. Ungern ließ ich es später von mir: allein ich hatte ja kein Recht, den Eltern ihr Kind zu entziehen, obgleich ich wohl wußte, daß der Herrnbauer meine Erziehung nicht billigte und nun womöglich über den Haufen werfen möchte. Darüber konnte ich zwar ruhig sein, ich kannte ja meine Anna, und mein Glaube hat mich auch nicht betrogen. Aber was soll nun werden, wenn mit Gewalt auf das Mädchen eingestürmt wird, wenn am Ende gar der Pfarrer Walter mit Bekehrungsversuchen an sie käme?«

Reinhardt war aufgesprungen. Heimlich zitternd stieß er die Worte hervor: »Nie und nimmer darf das geschehen! Retten Sie das Kind, bewahren Sie ihm den Frieden der Seele.«

»Aber was soll ich tun?«

»Freilich, der Herrenbauer wird Ihnen das Mädchen nimmer gutwillig überlassen, aber hier gilt kein Säumen! Sie sind kinderlos, nennen Anna stets Ihre Tochter – warum bringen Sie das nicht äußerlich zur Geltung? Adoptieren Sie das Mädchen! Wie ich den Herrnbauer kenne, wird er, wenn Sie ernsthaft auftreten und eine Drohung durchblicken lassen, sich nicht lange widersetzen. Im Grund ist ihm Ihr Vermögen doch noch wichtiger als Ihr Unglaube!«

Wieder tauschte der Schulbauer einen Blick mit seiner Lisbeth, dann sagte er: »Ich danke Ihnen, daß Sie unsern eignen Gedanken Worte gegeben. Morgen gleich soll die Anna zu uns: die Krankheit ihrer Base gibt erwünschten Vorwand. – Sturm wird's setzen; meine arme Schwester! Und doch ist das immer erst eins, wenn auch die Hauptsache. Mein Schwager, Reinhardt, macht mir ernstlich Sorge! Glauben Sie, daß er mir deutlich genug zu verstehen gegeben, es sei ihm am liebsten, wenn er mir möglichst wenig begegne? – Und so bin ich neben ausgeschoben; in allem, was Bergheim betrifft, bin ich völlig lahmgelegt. So auch jetzt bei dem Hagelschlag! Wie arbeitet's in meinem Hirn, mir ist, als müsse ich hinüber und die Leute mit Gewalt zur Ordnung bringen. Aber ich darf nicht; steh' ich in Gefahr, vom eignen Schwager kränkend abgewiesen zu werden – was habe ich erst von den andern zu erwarten? Und weiter! Gewiß, Gaben werden nicht ausbleiben; aber was hilft das, wenn die Wohltätigkeit nicht geregelt wird? Da müßten Listen aufgestellt werden, was am dringendsten mangelt. Mit Geld allein ist den Folgen des Unglücks nicht abzuhelfen. Naturalgaben müßten beikommen. Dann aber, wenn sie kommen, was ist das wieder für eine Arbeit, sie gerecht zu verteilen! Geben Sie acht, Bergheim wird sich durch den schändlichen Bettel blamieren; einzelne werden die Gaben an sich reißen, aus dem Hagelschlag Kapital schlagen, während die Mehrheit daran zugrunde geht. Gern gäbe ich ja die reichliche Ernte, um den Armen drüben über diesen Schlag wegzuhelfen: aber wie soll ich's einrichten, daß ich mit meinen Gaben nicht Feindschaft errege? Da rechnet zuerst mein Schwager, trotz alles Zorns, mit Sicherheit auf mich; natürlich werde ich ihm auch unter die Arme greifen, allein so, wie er's erwartet, kann ich nicht. Er ist reich; aber die kleinen Leute, die können zugrunde gehen, die haben darum ein näher' Recht auf meinen Beistand. Wäre mein Schwager noch der alte, würden wir uns einigen – so ist nicht daran zu denken!«

»Ich bin jung und unerfahren, besonders in diesen Sachen!« sagte der Lehrer, der dem Bauer warm die Hand gedrückt hatte. »Aber weil Sie mir so ganz und gar aus dem Herzen geredet haben, möchte ich wenigstens meine Ansicht äußern. Ich meine, Sie sollten sich durch die Gefahr kränkender Abfertigung nicht schrecken lassen, das zu tun, wozu Sie Gefühl und Pflicht treibt. Gehen Sie nach Bergheim, trösten, raten, ordnen, prüfen Sie, wo es am meisten fehlt, dann erlassen Sie einen Aufruf, erklären sich zur Entgegennahme von Gaben bereit, Ihr Name schon bürgt den Gebern für gerechte Verteilung.«

»Herr Lehrer, Sie haben das Rechte getroffen!« sagte die Bäuerin. »Das ist's, was du tun mußt, Jörg! Und nun säume nicht, gehe hinüber, jetzt gleich. Mir ist besser, um mich darfst du ohne Sorge sein! Gehe, Jörg! rede zuerst mit meinem Bruder; laß dich nicht erbittern, aber sei nur auch standhaft.«

Sie duldete keinen Aufschub, und bald waren die Freunde auf dem Wege nach Bergheim. »Sie haben noch was Besonderes auf dem Herzen, hab's Ihnen lange angemerkt – reden Sie jetzt!«

»Reinhardt,« sagte der Bauer und wischte sich den Schweiß von der Stirn, »mich plagen schwere Gedanken; lange schon hätte ich mir gern das Herz erleichtert, immer kam ich nicht dazu. – Hören Sie, mit dem Hannes ist es nicht richtig; er spielt allzu hohes Spiel. So treibt es nur ein Verzweifelter! Sie wissen, welcher Verdacht auf ihn fiel, nach dem Mord des Einzelberger Schäfers. Mit Hilfe des Uhrmacherle bewies er sein Alibi – ist's Ihnen nun noch nicht aufgefallen, daß der Hannes nie selber den Uhrmacherle abtrumpft, wie arg er ihn auch in seinen Predigten beschimpfen mag?« Als Fritz erschrocken zu ihm aufblickte, nickte er traurig. »Ja, das gab mir schon lange zu denken! Neulich aber, wenige Tage nach dem Skandal im Pfarrhof, hole ich, von Schottendorf heimkehrend, den Uhrmacherle ein. Der Lump war wie gewöhnlich schwer berauscht, und ich achte zuerst nicht auf sein unsinniges Geschwätz. Als er aber nicht aufhört, über sein Gewissen zu lamentieren, das ihn nicht in Ruhe lasse, als er sich sogar jämmerlich anklagte, da schoß es mir wie ein Blitz durch den Kopf: ob das vielleicht mit dem Mord zusammenhänge, ob der Uhrmacherle sich damals mit einem falschen Eid belastet? – Heiliger Gott! wenn der Hannes wirklich der Mörder gewesen wäre? Mir ist's, als müßt' ich den Schuft entlarven. Ich verstehe Ihren erstaunten Blick! Kommen Sie, wir wollen über den Steinschrot nach Bergheim, Sie sollen erfahren, warum ich den Hannes hasse wie die leibhaftige Sünde, warum ich nicht rasten darf, bis ich ihn endlich entlarvt habe. – Muß weit ausholen, es geht nicht anders.«

»Der alte Herrnbauer war gestorben. Am Tag nach seinem Begräbnis kommt der Hannes ins Herrnhaus und sagt: ›Ich komm' ungern zu euch, aber ein jeder muß eben auf seinen Vorteil sehen. Männiglich ist bekannt, wie kurz ihr euren Alten gehalten habt; oft klagte er mir die Ohren voll und bat um meinen Beistand. Zuletzt konnt' ich's nimmer erhören und tat ihm den Willen. Die walzenden, zugekauften Grundstücke hat sich der Alte vorbehalten, als er den Hof dem Valtin übergab, und kurz und gut: ich kaufte ihm den großen Krautacker um fünfhundert Gulden bar ab unter der Bedingung, daß der Kauf erst nach seinem Tod in Kraft trete. Hier ist die Quittung, vom Alten selber ausgestellt, und da der Kaufvertrag. Wollt ihr nun den Kauf anerkennen und mir den Acker zuschreiben lassen?‹

Können sich unsern Schrecken denken; der schändlichste Betrug lag ja klar auf der Hand. Denn nicht nur war der große Krautacker unter Brüdern seine fünfzehnhundert Gulden wert und erst vor kurzem um neunhundert Gulden angekauft worden; der alte Herrnbauer hätte ja nie Geld gebraucht, selbst wenn ihn sein Valtin kurz hielt, da er die Zinsen von beträchtlichen Kapitalien einzunehmen hatte. Ein Betrug lag auf der Hand, aber mit der Quittung sowohl als mit der Unterschrift des Kaufvertrages hatte es seine Richtigkeit; zum Überfluß standen auch noch die Namen des Wagnerspaule und Simesschuster als Zeugen auf dem Papier, und Hannes erklärte uns so recht mit Hohn, sie wären jeden Augenblick bereit, vor Gericht zu beschwören, daß der Vertrag in ihrer Gegenwart in aller Form Rechtens sei ausgestellt worden.

Die Weiber weinten und wir Männer wußten uns nicht zu fassen. Endlich schlägt mein Schwager auf den Tisch und schreit, das sei ein infamer Betrug, und er solle sich aus dem Haus packen, oder er Hetze den Hund auf ihn. Die Papiere seien gefälschte Wische, des Vaters Bücher würden's klar ausweisen. – ›Des Alten Bücher?‹ lachte Hannes in der Tür. ›Ha, ha, hätt' dich doch ein bißle gescheiter taxiert! Der Alte wird sich freilich gehütet haben, die fünfhundert Gulden und den Kauf in seine Bücher einzutragen! – Also ihr wollt nicht? Mir recht, im Amt reden wir weiter!‹ damit ging er.

Können sich denken, mit welcher Angst wir meines Schwiegers Bücher und Schriften durchstöberten; natürlich fanden wir nichts. Doch ja, der alte Jock schon hatte fünfhundert Gulden von meinem Schwieger geborgt und sie stehen lassen, erst der Hannes hatte sie abbezahlt. Weiter fanden wir ein Schriftstück, worin Hannes bekennt, der Herrnbauer habe ihm für das rückgezahlte Kapital von fünfhundert Gulden eine zweite Quittung ausgestellt, da die erste verlorengegangen sei; sollte sie sich wiederfinden, so solle sie null und nichtig sein. Mir schoß damals gleich der Gedanke durch den Kopf, ob das vielleicht mit dem Betrug zusammenhänge. Ich jagte noch am selben Tag zum Advokaten, der aber zuckte die Achseln, der Prozeß begann, der Hannes und seine Eideshelfer beschworen die Richtigkeit ihrer Angaben; damit waren wir geschlagen, unsre Schande besiegelt. Hannes aber triumphierte! Was haben wir durchgemacht, ehe wir unsern Gleichmut wiederfanden. Jahre gingen dahin, mit der Zeit gewöhnten wir uns an das Unabänderliche. Etwas anderes ist an seine Stelle getreten: es ist etwas in mir, das mich immer wieder auf die Spur des Mannes hetzt, als müsse ich, grade ich, das Geheimnis seines Lebens enthüllen! Und nie war diese Empfindung stärker als jetzt, eine Ahnung liegt mir im Gemüt, die Entscheidung ist nahe. Es wird noch viel Jammer und Leid geben; aber wenn wir klug und besonnen auf unseren Posten stehen, dann muß es gelingen.«

Reinhardt drückte ihm die Hand. »Aber die Verhältnisse haben sich so zugespitzt,« rief er, »daß ein ruhiges Abwarten kaum mehr möglich ist. Wir müssen endlich aus der Reserve heraus, müssen zeigen, was wir eigentlich wollen!«

»Wohl denn!« sagte der Bauer nach einigem Sinnen. »Ich halte Sie nicht ab. Das Reden ist Ihre Sache; sprechen Sie nur aus, was uns das Herz erfüllt. Aber nicht heute und nicht morgen, nicht, solange der Schrecken die Gemüter bedrückt; nicht wahr, Sie werfen keinen neuen Zankapfel unter die Nachbarn? – Halten Sie aus! Ich muß eilen, will ich den Herrnbauer noch daheim antreffen.«

Sinnend blickte Fritz dem Bauer nach, eine neue schwere Last von Sorgen und Verpflichtungen hatte er auf seine Seele gelegt; tiefernst schritt er durch die verwüsteten Felder dem Dorfe zu.

So wäre er fast achtlos an der Linde im Herrnbauersgarten vorübergegangen, als er leise seinen Namen rufen hörte. Halb verborgen hinter den Büschen stand Anna, reichte ihm über die Hecke weg die Hand und sagte weinend: »Nur auf einen Augenblick, Herr Lehrer! Verzeiht die Störung, aber ich kann nicht anders, ich muß mit Euch reden – und – und nun ja doch, Ihr sollt mir einen Gefallen tun! – Wollt Ihr?«

Fritz entging die fieberhafte Aufregung des Mädchens nicht, die groß sein mußte, da sie ihn sogar mit »Ihr« anredete. Als er hastig nickte, fuhr sie fort: »So erwartet mich, ich habe einen Gang zu tun, Ihr sollt mich begleiten!«

Schon war das Mädchen verschwunden, und Fritz merkte am Schlagen seines Herzens, wie nun die Erregung über ihn kam. Was bedeutete das, daß gerade ihn das Mädchen zur Begleitung aufforderte, da sie ihn sonst so schroff von sich fern gehalten? Er hatte nicht Zeit zu weiterem Denken, denn eben trat Anna aus dem Heckengang.

Das Gesicht verhüllte gänzlich ein dunkles Tuch; obgleich ihm aber die Züge verborgen blieben und kaum ein Leuchten der Augen zu erkennen war, schoß doch ein Feuerstrom nach seinem Herzen, als ihm Anna nochmals die Hand reichte und er einen leisen Druck fühlte. »Kommen Sie, Herr Lehrer!« sagte sie heftig. »Es ist unartig, daß ich Sie so plage, allein ich habe auf der weiten Gotteswelt keinen Menschen, dem ich vertrauen könnte, und den Gang, den ich vorhabe, vermag ich nicht allein zu tun; ich soll dem Beckenkarl seine Geschenke an Margaret zurückstellen. Margaret liegt daheim und weint sich fast die Augen aus. Und doch – was soll sie anders tun? Seit Karl bei der Gotteslästerung vorgestern nacht an Wildheit es allen zuvortat, da ist's aus. Margaret will ihn nimmer sehen! – Doch da sind wir vor dem Beckenhausgarten, und nun kommt meine Bitte: möchten Sie wohl fragen, ob der Karl daheim ist oder nicht? Sie sind ja sein Freund oder waren es wenigstens; nicht um die Welt möchte ich mit dem Burschen zusammentreffen! – Wollen Sie?«

»Es ist ein sonderbares Verlangen, Anna!« sagte Fritz zögernd. »Hätte das nicht eine Magd oder ein Kind besser besorgen können als ich?«

»Sie haben recht, Herr Lehrer! O – verzeihen Sie meine Torheit! Gewiß, daran dachte ich vorhin nicht! Mir war so angst, nimmer hätte ich den Weg allein gewagt; wie ich dann aber Sie daherkommen sah, war mir, als müsse ich bei Ihnen geborgen sein. Ach, Herr Lehrer, verzeihen Sie mir!«

Reinhardt lauschte und hätte immer lauschen mögen. Bei jedem Wort war ihm, als werde ein finstrer Schleier von seinem Himmel hinweggezogen, als leuchte ihm immer heller die goldne Gottessonne tief hinab ins Herz. Fest drückte er die Hand auf die Brust, als wolle er dem stürmischen Schlag seines Herzens Einhalt tun, mit leiser Stimme sagte er: »Ich bin sogleich zurück!«

Wie im Traum schritt er durch den dunkeln Hof, und erst die weinende Mutter Karls rief ihm seinen Auftrag ins Gedächtnis zurück. Er vermochte die jammernde Mutter nicht zu trösten und entfernte sich rasch. »Er ist nicht daheim, Anna!« berichtete er der Harrenden. »Ich werde hier auf dich warten!«

Ein langer fragender Blick streifte ihn – sollte er sie an sich ziehen? – Nein, nicht jetzt! Gewaltsam bezwang er sich – das Mädchen ging.

Heftig weinend kehrte sie zurück. »Kommen Sie!« rief sie ihm flüchtig zu und eilte wie ein gescheuchtes Reh davon. Erst auf dem Bänkchen unter der fast kahlen Linde im stillen Baumgarten wurde sie ruhiger. Tief aufatmend begann sie leise: »Ach, ist das ein Jammer und eine Not, überall, wohin man blickt. Die alte Beckenbäuerin ist ganz zerbrochen, nicht mehr zu erkennen ist die Frau, so hat sie das Leid mit ihren beiden Buben angegriffen. Und erst meine arme Margaret!«

»Es ist gewiß sehr traurig!« sagte Reinhardt nachdenklich. »Es gibt ja keinen herberen Schmerz, als dabeistehn und zusehen müssen, wie auch die besten Menschen, die von der Natur selbst füreinander geschaffen scheinen, in Verwirrung geraten, sich fremd werden, Leid auf Leid bereiten, bis endlich eine bittre Trennung den Schluß bildet.«

Anna hatte den Kopf erhoben, fast atemlos lauschte sie seinen Worten. Redete Fritz nur im allgemeinen oder ahnte er, was in ihrem Herzen vorging? Galten ihr im besonderen diese Worte? – Anna wagte den Gedanken nicht auszudenken; die Entgegnung erstarb ihr auf den Lippen, trotz des dunkelnden Abends verhüllte sie sich dichter in ihr Tuch, mit gesenktem Kopf lauschte sie, als der Lehrer nach kurzer Pause fortfuhr: »Es ist traurig, besonders, wenn solche Verwirrung allgemein wird. Dann ist ja Klage und Schmerz natürlich. Und doch ist es gerade in solchen Zeiten Pflicht, darauf zu achten, daß der Schmerz nicht selbst wieder zur Gefahr wird. Mit Jammern und Klagen ist nichts geholfen. Es gilt den Kopf hoch, den Willen frei zu halten. Was die Zukunft für Karl und Margaret in ihrem Schoße birgt, weiß ich nicht. Wie aber auch die Entscheidung fallen mag, eines glaube ich zu wissen: beiden wird dieses Leid zum Segen ausschlagen. Ob sie je wieder so glücklich werden, wie vordem, ist sehr fraglich – stärker, klarer werden sie gewiß! Auch hier – –«

»Ich danke Ihnen, Herr Lehrer!« fiel ihm Anna ins Wort. »Sie haben mir eine Last vom Herzen genommen, die mich zu ersticken drohte. Ich verstehe Sie! Sie wollten mir sagen, daß auch die Verwirrung im Dorf ihr Gutes habe und die Menschen besser machen könne. Herr Lehrer, Ihre Worte taten mir gut, sie sollen mich noch oft trösten, wenn das Herz verzagt werden will; ach, ich werde Hilfe brauchen, denn schwere Zeiten werden kommen. Was soll ich's Ihnen leugnen? Der Pfarrer hat dem Vater die Hölle heiß gemacht wegen meines Unglaubens, wie er's nennt, und nun soll ich mich bekehren! Heute war er länger als eine Stunde über mir – Gott im Himmel, ich weiß nicht, was er von mir will, ich versteh' ihn nicht! Aber das weiß ich: treibt er's noch oft so, komme ich entweder von Gedanken oder es passiert sonst ein Unglück!«

Fritz war aufgesprungen und rannte mit geballten Fäusten auf und ab. Leise weinend sagte nach einer Pause das Mädchen: »Ja, ich bedarf des Beistandes, und Sie sind außer der Mutter und den Patenleuten der einzige Mensch, dem ich mich ohne Rückhalt anvertrauen darf. Lassen Sie mich ausreden, Herr Lehrer! – Gar schwer lag es mir auf der Seele, daß ich Sie neulich so bitter gekränkt; Gott weiß es, ich meinte es nicht so böse, als es herauskam; mein Jammer war eben zu groß, da ich auch am Schulbauer und an Ihnen irre wurde! Können Sie mir verzeihen?«

Fritz rannte noch immer auf und ab, alles in ihm war im wildesten Aufruhr; während er Verwünschungen gegen den Pfarrer ausstieß, liefen ihm die Tränen über die Wangen.

Eben erschien in der hinteren Haustür die Mutter und rief nach ihr, Anna stand zitternd auf. »Herr Lehrer,« sagte sie leise, »können Sie mir diesen Trost nicht geben?«

Die Mutter rief dringender – Fritz konnte nicht reden, er haschte nach der Hand des Mädchens, ein heißer Tropfen fiel darauf – Anna riß sich los und verschwand im Haus.

Lange stand Fritz unter der Linde und blickte hinein in den Abend, dann stürmte er ziellos durch die Flur. In seinem Herzen sang und klang es: nun muß sich alles, alles wenden!

Spät in der Nacht traf er plötzlich den Schulbauer, der sich auf dem Heimweg befand. Der ernste Mann schüttelte den Kopf über seine verworrenen Reden und sah ihm bedenklich nach, als er ohne Gruß davonstürmte, da er ihm mitteilte, daß Anna morgen schon, und zwar für immer, nach Sülzdorf ziehe. »Was ficht den Reinhardt an, daß er nachts einsam durch die Felder rennt? Potztausend! das fehlte nur, daß der Reinhardt auch noch toll würde!«


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