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Erstes Kapitel

Zwei junge Männer schritten am zweiten Pfingstfeiertag noch vor Sonnenaufgang zwischen fruchtbaren Saatfeldern am sanftabfallenden Hang des Kulm zum Steinschrot empor. Der im modischen, schwarzen Leibrock und mit dem grauen Filzhut war der junge Bergheimer Lehrer Fritz Reinhardt, sein Begleiter, dessen ländlich-kurze Jacke seinen schlanken und doch kräftigen Bau vorteilhaft hervorhob, der junge Bauer Karl Florschütz, gewöhnlich nur der Beckenkarl genannt.

Die Saatfelder und Grasraine lagen schwer voll Tau, und als aus der Hecke von Weißdorn, Hagebutten und Hiften ein Steinschmätzer erschreckt aufflog, sprühte von den Ästen, Knospen und jungen Blättern eine Wolke glänzenden Staubregens empor. Hie und da erhob sich eine Lerche schwirrend in die Luft: am Waldrand äste ein Reh, langsam, mit kaum bemerkbarem Flügelschlag zog ein Geier über den Steinschrot dahin.

Da schossen die ersten Strahlenblitze der Sonne durch die Kronen der Tannen auf dem Kulm, und wie durch einen Zauberschlag war auch das Leben der Natur erwacht. Hoch in den Lüften jubilierten die Lerchen, aus den Hecken tönte der sanfte Gesang der Rotkehlchen und Grasmücken, vom Apfelbaum schmetterte kräftiger Finkenschlag, vom Steinschrot tönte der Pfiff einer Amsel, vom Kulm melancholischer Kuckucksruf herab. Dazwischen flatterten und zwitscherten durch die Hecke rastlose Vögelscharen, ein Hase sauste in weiten Sprüngen über Stock und Dorn dem Waldesdunkel zu, Hummeln und Bienen umsummten den blühenden Klee, Maikäfer surrten von einem Blütenbaum zum andern. Kräftige Wohlgerüche durchströmten die Luft; mit dem süßen Duft der Veilchen mischte sich der eigne herbe Geruch der Birken und Tannen.

Der junge Lehrer blieb stehen, breitete die Arme aus und rief: »O, wie schön!«

Plötzlich wendete sein Begleiter das sonnengebräunte Gesicht nach ihm und fragte kurz: »Glaubst du auch, daß die Sonne stillstand zu Gideon?«

Erschreckt fuhr der Lehrer herum. »Wie kommst du darauf? – heute, jetzt?«

»Nichts! – Es fiel mir eben so ein!« entgegnete Karl kurz und wendete sich zum Gehen.

Reinhardt folgte kopfschüttelnd dem Freunde. Zwischen duftenden Hecken von Schlehdorn, der seine starren Glieder ganz und gar verhüllte in zarten weißen Blütenflaum, leitete der schmale Fußpfad mählich empor zum Wald, in dessen Halbdunkel die Wanderer bald eintraten. Gemischte Bestände von Tannen, Fichten, Birken und Buchen umschlossen in reizender Unordnung den Weg. Wo sich Tannen und Fichten fest zusammenschlossen, deckte rosiges Dämmerlicht den Moosboden. Hatte aber eine Birke oder Buche die dichtverschränkten Äste der ernsten Gesellen durchbrochen, dann leuchteten im Sonnenstrahl die Leberblümchen, Himmelsschlüssel, die weich behaarten Glocken der roten Hasenblume und die lustigen Wicken. Aus moosigem Felsen, von breitästigen, jetzt noch zartbelaubten Buchen beschattet, sprang ein frischer Quell. Fritz kniete nieder zwischen die Vergißmeinnichte, Dotterblumen und Efeuranken, die im reichen Kranz den Quellrand säumten, badete Gesicht und Hals in dem klaren Quell und rief: »Vorwärts, Karl! Das erfrischt!«

Karl lehnte an einer Buche und fragte finster: »Glaubst du, daß Moses in der Wüste mit seinem Stab Wasser aus dem Felsen schlug? Ist's möglich, daß sich das fließende Wasser des Jordans gleichermaßen selber abdämmte und stand wie eine Mauer?«

»Karl! Was bringt dich auf solche Gedanken?«

»Was kümmert's dich, wie ich darauf komme? Antworte kurz und klar: glaubst du das?«

»Es ist nicht immer gut, gleich mit der Antwort bei der Hand zu sein. Erst sage mir: was treibt dich zu solchen Fragen?«

»Ausflüchte!« lachte Karl zornig. »Ich dachte mir ja, so wird's kommen!«

Reinhardt schüttelte abermals den Kopf. »Was ist das doch?« fragte er nachdenklich. »Schon seit einiger Zeit fiel mir auf, daß du nicht mehr der alte bist; es gärt und arbeitet in dir. – Aufrichtig, Karl, hängt das mit deinen Fragen zusammen?«

»Wozu all die Präambeln? Meine Fragen, dächt' ich, wären einfach und klar – warum sagst du nicht ja oder nein?«

Fritz sah mit traurigem Lächeln dem Freunde ins Gesicht und sagte: »Ja, ja – immer gleich ja oder nein, Leben oder Tod! – Was soll ich antworten, solange ich nicht weiß, was dich zu solchen Fragen treibt?«

»Du hast recht!« begann Karl nach einer Pause und gab Fritz die Hand. »Leg' mir die Unart nicht zu sehr zur Last, ich bin oft bös' auf die ganze Welt und auf mich am meisten. Dazu hab' ich gestern Verdruß gehabt mit der Margaret, das macht mir vollends den Kopf toll!«

»Und hängt der Verdruß auch mit diesen Fragen zusammen?«

Karl antwortete nicht, langsam stieg er auf schmalem Pfad an den jäh aufstrebenden Felsen hinan. Birken-, Hasel- und Lindenbüsche wucherten üppig aus dem Geröll und den Felsspalten empor, eine feuchte Frische erquickte die Wanderer in den Dickichten, bis wohin die Sonne noch nicht zu dringen vermochte. Ein wundervoller Duft wehte den Jünglingen entgegen – überall winkte und nickte unter den Büschen das holde Maiglöckchen. Heute jedoch achtete Fritz nicht auf seine Lieblinge, die Fragen des Freundes hatten ernste Gedanken in ihm angeregt und ihn in die Zeit zurückgeführt, da die ersten religiösen Zweifel den Frieden seines Herzens störten.

Trotz seiner Unruhe und Sorgen brach er doch in ein Ach! der Überraschung und Freude aus, als er, um eine scharfe Felsenecke biegend, das Ziel des Morgenspaziergangs, die Kanzel, betrat. Wie ein Altan sprang eine Felsplatte hinein zwischen die tiefer stehenden Büsche und Bäume, deren Wipfel den Felsen wie ein Geländer umgaben, ohne die Aussicht zu hemmen.

Tief atmend blickte Fritz lange hinaus in die maigrüne Welt. Als er sich dem Freunde zuwendete, fand er ihn auf moosigem Felsen sitzen, das Gesicht in den Händen verborgen. Fritz setzte sich neben Karl und sagte: »Erzähle, gründlich, wahrhaftig, was dich drückt, dann wollen wir darüber reden. Vor allem, was hattest du mit der Herrnbauersmargaret?«

»Das wirst du bald merken!« entgegnete Karl und hob das Gesicht. »Ja, ich will aufrichtig gegen dich sein. Du mußt mir dagegen auch versprechen, daß du mir die volle Wahrheit sagst!«

»Habe ich dich jemals hintergangen?«

»So meine ich nicht! Ich hätte dir schon lang' gern meine Not geklagt, aber – ja, sieh, du mußt mir das nicht übelnehmen: Du bist nun Schulmeister, mußt das in der Schule lehren – wenn du auch wirklich anderer Meinung wärst, darfst du's ja nicht einmal sagen.«

Reinhardts Stirn legte sich in Falten. »Und was bewegt dich, mir nun doch dein Vertrauen zu schenken?«

»Ja – was soll ich sagen? Ich meinte so: – wir sind doch Freunde und können uns vertrauen, bei mir brauchst du dich nicht zu genieren, da könntest du wohl mit deiner wahren Meinung herausgehen!«

Fritz ging mit großen Schritten auf und ab. Plötzlich fragte er barsch: »Also traust du mir zu, ich könne lügen? – lügen vor meinen Kindern?«

»Fritz!« fiel ihm Karl in die Rede. »Gewiß und wahrhaftig, mit keinem Odem dachte ich daran, dich zu kränken!«

Fritz gab Karl die Hand und sagte mit tiefem Seufzer: »Das weiß ich. – Aber ich habe jetzt ernstliche Bedenken, ob wir das begonnene Gespräch auch wirklich fortsetzen sollen. Wird dein Verdacht nicht immer wieder gegen mich erwachen, besonders wenn meine Worte nicht deinen Erwartungen entsprechen sollten?«

»Sei still, ich seh' meine Dummheit ein!« rief Karl. »Nun, erst mußt du mich anhören, ich weiß, von dir erfahre ich Wahrheit! Du fragst, wann und wie ich auf solche Zweifel gekommen sei? – Das kann ich nicht sagen, nur das weiß ich, von heut und gestern sind sie nicht. Schon als Schuljunge war ich ein Grübler. Schon damals kamen mir mancherlei Geschichten der Bibel wunderlich vor, doch hab' ich meine Bedenken immer wieder bald vergessen. – Ja, und dann, es mag ein paar Jahre nach meiner Konfirmation gewesen sein, säe ich auf der Rotleite Weizen und sag' dabei den Säespruch laut her, wie mich's die Mutter gelehrt hat. Kommt der Jockenvetter vorbei, hört meinen Spruch, ruft mich zu sich und sagt: ›Bist du auch noch solch ein Brummochs und glaubst an die Fixfaxerei? Dummer Zipfel! Der Herrgott wär' zu bejammern, wenn er sich um jede Kleinigkeit kümmern sollt'. Wie wollt' er fertig werden? Sei nicht dumm, die Natur sorgt für sich selber, das andere ist Schnickschnack für alte Weiber und Brummochsen!‹ – Da stand ich, das Heulen war mir näher als das Lachen. Mich ärgerten des Vetters Worte, aber ich konnte sie nicht vergessen, und als hätte er in einen Schwarm Hornissen gestört, so summten mir die alten, lange vergessenen Gedanken durch den Kopf. Während ich nun Schritt vor Schritt über den Acker wandelte und die Saat ausstreute, mußte ich daran denken, wie in der Natur alles seinen geregelten Gang geht und eines aufs andere folgt: der Tag auf die Nacht, der Sommer auf den Winter, nach Regen Sonnenschein. Und die Saat, die ich ausstreue, die keimt, geht auf, wächst und trägt Frucht. So ist's jahraus, jahrein; kein Mensch kann sich erinnern, daß 's jemals anders gewesen wäre. Freilich verfault auch oft die Saat, oder sie wintert aus, es gibt Mißjahre und Unfruchtbarkeit – aber das hat seinen natürlichen Grund, wir Menschen ändern es mit allem Bitten und Beten nicht! – Das stimmte doch alles zu dem Jockenhannes seiner Red', und – ja, ja – von damals ging meine Not an!

Ich weiß noch, wie ich mich schon in der Schule darüber ärgern konnte, daß der Juden wegen, die doch um kein Haar besser waren als andere Völker, die Sonne stillstand zu Gideon. So grübelte ich auch über die andern Wunder, und je länger ich grübelte, desto weniger wußte ich mit ihnen anzufangen. Einmal hat meine Mutter eine Predigt vorgelesen über die Geschichte vom Jonas im Walfischbauch. Das wollte mir nun durchaus nicht in den Kopf, und da ich mich nicht mit der Farbe 'rauszugehen getraute, frag' ich: ›Mutter, warum geschehen heutzutage keine solchen Wunder mehr?‹ – Ist die alte Frau erschrocken! Ihre Hand hat gezittert, als sie die Brille auf die Stirn schob, eine ganze Weile wußte sie nichts zu sagen. ›Dummer Bub!‹ fuhr sie mich endlich an. ›Was sind das für Fragen? – Warum? weiß ich's? bin ich der Herrgott? – Vielleicht geschieht's, weil die Menschheit so verdorben ist und keinen Glauben mehr hat!‹ – – Ich fragte nicht weiter, obgleich ich übler daran war als vorher. Also Glaube gehört dazu, wenn Wunder geschehen sollen? Aber der Glaube ist doch was in dem Menschen und die Wunder tut Gott – wie das zusammenhängen sollte, konnte ich nicht finden und verfiel zuletzt darauf: wer weiß denn, ob überhaupt jemals Wunder geschehen sind? – Als ich erst einmal nimmer an die Wunder glauben konnt', war die Frage nicht mehr weit: was ist überhaupt noch zu glauben in der Bibel?«

Fritz zerschnitt einen Lindenzweig, Karl hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und blickte zu Boden. Eine Amsel pfiff dicht neben ihnen, Finken und Meisen lärmten in den Büschen, und die Maiglöckchen dufteten, aber keiner der Freunde achtete darauf. Leise erzählte Karl weiter: »Mein Elend damals ist nicht auszusagen; ich fürchtete mich der Sünde und schämte mich vor mir und den Menschen – aber die Gedanken wurde ich nicht los. Obgleich noch gar jung, mied ich Gesellschaft, ganze Sonntage lang rannte ich allein im Wald umher. Meine Mutter war in schweren Sorgen, sie meinte, es sei nicht richtig mit mir im Kopf – helfen konnte sie mir nicht, denn nicht um alles in der Welt hätt' ich ihr meine Gedanken gestanden. Zuletzt, wie ich's gar nicht mehr ertragen konnte, suchte ich den Johannes auf!«

»Immer und immer der Jockenhannes!« rief Fritz. »Nun, der Jockenhannes stand damals in großem Ansehen, war der Spezial vom Pfarrer und mit viel vornehmen Herren, Amtleuten und Förstern gut' Freund. Seine Frömmigkeit wollte freilich niemand loben, grade deswegen aber machte ich mich an ihn. Kam freilich vom Regen in die Traufe! Gerechter Gott, was mußte ich hören! Das dauerte gar nicht lang', so war mir's so dumm und wüst im Kopf, als sei mir das Hirn 'rausgenommen, und das greuliche Lachen des Hannes jagte mir eine Gäns'haut nach der andern über den Buckel. – Wie im Traum ging ich von ihm, aber daheim bei der Mutter konnt' ich es nicht aushalten, mir war, als müßten die Wände über mich fallen. Es war ein wilder Abend, der Wind pfiff und heulte, der Regen goß in Strömen – ich mußte doch hinaus und rannte die halbe Nacht in der Irre herum. Wie ich heimkam, weiß ich nicht – am Morgen war ich schwer krank. Die Krankheit half mir von den Gedanken. Wie ich meine Mutter so inbrünstig an meinem Bette beten hörte, da ist mir's warm im Herzen geworden, zum erstenmal seit langem konnte ich selber beten, und nun hatte ich Ruhe – ach, wär's dabei geblieben! Ich war glücklich und zufrieden, bis – bis der neue Pfarrer kam! Es lautet wunderlich, aber's ist doch so, unser frommer, strenger, eifriger Herr Pfarrer, der hat mich aufs neue zum Zweifel gebracht. Du wirst vielleicht gehört haben, was es für einen Rumor im Dorf gab, als es hieß, wir bekommen den Pfarrer Walter. Besonders der Jockenhannes hat Himmel und Erde rebellisch gemacht, um das zu hintertreiben. An den Sturm im Dorf hab' ich mich nichts gekehrt, so recht mit Freuden hab' ich meine Gäule zum Pfarreinzug aufs beste 'rausgeputzt, es war mir 'ne Ehr', daß ich die Pfarrkutsche führen durfte; ich meinte ja, der fromme Herr würde mich für immer vor solchen schlimmen Gedanken bewahren. Aber es kam eben wieder anders, als ich gedacht. Wie der neue Pfarrer gleich nach seinem Einzug, da er die wenigsten von uns dem Gesicht und Namen nach kannte, gleich so arg über unsere Verdorbenheit und Sündhaftigkeit schimpft, wie das alle Sonntage fortgeht und immer ärger wird, da bin ich verdrießlich 'worden. So hat mich's auch geärgert, daß Gott nur die ganz zerschmissenen Herzen annähme; daß nur die Menschen auf Gnade und Erbarmen rechnen dürften, die sich selber für ganz schlecht ansähen und sich auf der Welt nichts zutrauten. Das stieg mir zu Kopf. Das ist doch nicht anders, als verlangte Gott, daß jeder erst ein rechter Lump werden soll, ehe er ihn zu Gnaden annehme. Einzubilden braucht sich niemand was auf seine Rechtschaffenheit; wer sich aber selber gar nichts achtet und nichts Zutraut, der wird auch nichts, das ist meine Meinung! Habe ich nicht recht?« Fritz nickte nachdenklich, und Karl fuhr fort: »Ja, die Hauptsache ist noch zurück. Wie ein Schlag auf den Kopf hat mich's 'troffen, wie der Pfarrer predigt: in der Bibel sei jeder Buchstabe Gottes Wort und zu glauben. Wer nur an einem Buchstaben zweifle, der sei verdammt auf ewig.«

Fritz war aufgestanden und ging heftig auf und ab.

»Das ist mir wie ein Messer ins Herz gefahren – aus war's mit meiner Ruh'! Aus der Angst wurde bald ein rechter Trotz gegen den Herrgott. Was konnt' ich dazu, daß es eine Zeit gab, wo ich nicht alles glauben konnte? verdiente ich deswegen ewige Verdammnis? – –

Seit jener Predigt sind die alten Gedanken wieder in mir lebendig geworden, und diesmal blieben sie Herr! – Seitdem es hieß, du mußt glauben, was in der Bibel steht – seitdem war es vorbei mit meinem Glauben!

In meiner Not ging ich zum Jockenhannes. – ›Was tausend?‹ – lachte er – ›du Heiliger kommst zu mir? Was würde dein Herrgottle, der Pfarrer, sagen, wenn er das erführ'?‹ Wie er aber meinen Ernst sah, ward er auch bedächtig und redete vernünftig. Was und wie, kannst du dir denken. Und meiner Not konnt' er auch kein End' machen. Ach, Fritz, ist das ein Zustand! Ich kann nicht alles glauben, was in der Bibel steht. Auf der andern Seite kann ich dem Hannes auch nicht beistimmen. Was soll denn aus der Welt und den Menschen werden, wenn die ganze Bibel nichts gelten soll? O, Gott im Himmel! wo ist das Rechte! – Wenn ich eins nicht mehr glauben kann, wird nicht doch das Ganze hinfällig? – Fritz, rate, hilf! – So kann es nicht länger bleiben; die Gedanken lassen mir Tag und Nacht nicht Ruhe, ich tauge zu keiner Arbeit; was ich anfasse, mache ich verkehrt. Und nun hat – der Himmel mag wissen, wie sie's 'rausgekriegt – meine Mutter gemerkt, wie es um mich steht. Die alte Frau ist ganz außer sich, vermeint mich für ewig der Hölle verfallen, Tag und Nacht liegt sie mir an mit Heulen, ich soll die frevlen Gedanken lassen. Ach, und von der Herrnbauersmargaret will ich schon gar nichts sagen. Noch weiß sie nichts, nur mein Umgang mit dem Hannes macht sie stutzig. Ach, Fritz, und jetzt schon, da sie nur fürchtet, ich könne in des Hannes Fußtapfen treten, weiß sie sich vor Jammer nicht zu lassen – das herzhafte, frische Mädle ist nicht wieder zu erkennen! Was wird's, wenn sie endlich hinter die Wahrheit kommt? Sie ist resolut! So groß ihre Liebe ist, sie wird mich verlassen, wenn ich nicht im Glauben stehe, der ihr das Höchste und Größte ist! – Mein ganzes Lebensglück steht auf dem Spiel, und das bloß wegen der dummen, verrückten Gedanken!«

Fritz ging heftig auf und ab. »Habe Geduld! Du wirst wieder ruhiger werden und Frieden finden.«

»Auch den Glauben?«

»Vielleicht auch den. Sicher wenigstens Ruhe im Gemüt!«

»Vielleicht!« schrie Karl bitter und sprang auf. »Ist das dein Trost? Und wenn nicht, was nachher?«

»Dann mußt du eben ohne ihn auskommen!«

Karl sah Fritz bleich, verstört ins Auge; mit zitternder Hand hielt er ihn am Rock fest und fragte tonlos: »Ist das dein Ernst? Ist's denn möglich, daß man bestehen kann ohne Glauben?«

»Der Glaube ist verschieden!«

»Nichts, nichts! Ich lasse dich nicht entschlüpfen. Du weißt wohl, was ich meine – jetzt klar und deutlich: ja oder nein?«

»Ich bin kein Jockenhannes, der auf jede Frage eine bestimmte Antwort im Vorrat hat. Aber gesetzt auch, ich wollte und könnte so kurz und rund antworten, was ist dir damit geholfen? Karl, lerne begreifen, daß dir keines Menschen Meinung zurechthelfen kann; und wenn du die gesamte Menschheit aufrufst – du bist um keinen Schritt gefördert. Nicht von außen suche Hilfe, du kannst sie nur in dir selbst finden!«

Karl verbarg das Gesicht in beiden Händen. »Ich kann dir nicht widersprechen, ich versteh' dich freilich nur halb, allein es liegt was in deinen Worten, das mir einleuchtet – und doch, was soll aus mir werden, wenn du recht hättest? Hilf mir, du kannst, wenn du nur willst. Gib das Versteckenspielen auf – red' klar – ach, Fritz, laß mich nicht vergebens bitten.«

»Ich kann dir nicht helfen, ich nicht und kein anderer Mensch. Diese Arznei ist wohl bitter, aber heilsam, ich weiß das aus Erfahrung. Ich war auch einst in deiner Lage; ich konnte nicht mehr glauben und wollte doch meinen Glauben nicht fahren lassen. Ich stellte mich nicht minder ungebärdig als du, alle Bekannte und Freunde plagte und quälte ich, sie sollten mir helfen, und doch traute ich keinem, glaubte keinem. Zuletzt wichen mir alle scheu aus, sie mochten mich für verrückt halten und überließen mich meinem Schicksal. Ich wollte oft verzweifeln, dann wurde ich müde und traurig; danach ergab ich mich geduldig in das Unvermeidliche – und siehe, als ich mich aufgab, da war mir geholfen!«

»Wie denn?« rief Karl. »Wie stand es danach um deinen Glauben?«

»Immer ja oder nein!« sagte Fritz mit wehmütigem Lächeln. »Was kann dir an dem Wie liegen? Genug, mir war geholfen! – Höre mich ruhig an, Karl: für deine Krankheit gibt es kein Radikalheilmittel: aber sie ist nicht so gefährlich, als du meinst, nur etwas langwierig; die Heilung sicher, wenn du sie nicht selbst unmöglich machst. Vertraue mir, Karl, und befolge meinen Rat: ertrage die Zweifel wie eine Krankheit, die man austoben lassen muß. Frage nicht da und dort an in Glaubenssachen! Sei geduldig! Worauf dich jetzt kein Suchen bringt, das findest du später von selbst! Und warum willst du, bevor es zur Entscheidung kommt, deine Angehörigen, deinen Schatz ängsten? Verbirg ihnen deinen Gemütszustand, solange du mit dir selber im unklaren bist. Hast du feste Stellung genommen, dann ist es Zeit, mit der Erklärung hervorzutreten.« –

»Du verlangst viel!« sagte Karl und gab Fritz die Hand. »Das klingt wohl anders als die Reden des Jockenhannes, und damit werde ich auch nicht so bald fertig. Ist mir ein Trost, daß du die Gedanken in mir Krankheit, nicht Sünde heißt; und weil du es gar so zuversichtlich aussprichst, will ich auch hoffen, daß es wieder besser werden wird, wenn ich gleich nicht einsehe, wie das möglich sein soll. Einleuchtend ist mir, daß ich nicht aller Welt auf die Nase binden soll, was in mir vorgeht. Dafür dank' ich dir, das ist ein Freundesrat. Ich will mir Mühe geben, deinen Worten nachzukommen! Da drinnen«, dabei faßte er mit beiden Händen seinen Kopf, »ist's freilich, als hätte ein Wirbelwind alles durcheinander geworfen. Ich merke, es ist anders in der Welt, als ich bis heut gedacht; es ist da nicht alles so fest gefügt, wie ich mir vorstellte. O Herrgott, am Ende besteht alles nur in unsrer Meinung? – Laß mich nur, ich komm' nicht mehr mit Fragen. Ich will den Verlauf meiner Krankheit in Geduld abwarten.«

»Tu das!« sagte Fritz und horchte auf ein helles Lachen, das rasch näher kam. »Du wirst gleich Gelegenheit haben, deinen Ernst zu zeigen – wenn ich nicht irre, sind die Herrnbauernmädchen bald hier!«


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