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Dreiunddreißigstes Kapitel

Der Abend dunkelte bereits, und noch immer saß die Familie beisammen. Reinhardt stand am Fenster und lauschte dem wieder einmal stärker anschwellenden Brausen aus dem Dorf. Die Knechte hatten berichtet, daß schon den ganzen Nachmittag eine hocherregte Menschenmenge vor dem Wirtshaus auf und ab flutete, die Weiber in wildester Aufregung die ohnedies von Bier und Branntwein glühenden Männer noch mehr aufstachelnd. Welche Gedanken die Menge bewegten, ging nur allzu deutlich aus den wilden, lästerlichen Drohungen gegen den Jockenhannes und den Pfarrer hervor. Die Anwesenheit der Gerichtspersonen hielt die Menge noch im Zaum. Was aber sollte werden, wenn jene das Dorf verließen? Wenn das nächtliche Dunkel die Leidenschaften noch mehr anstachelte?

Während Reinhardt noch dem Getümmel droben lauschte, ging die Tür auf, der abgesetzte Schultheiß wankte herein, umfaßte seine Knie und jammerte: »Herr Lehrer! – schützen, retten Sie mich!«

»Sind Sie von Sinnen?« rief Reinhardt erschreckt und riß sich gewaltsam los. »Stehen Sie auf – stehen Sie auf und reden Sie vernünftig!«

»Nein, nein, ich stehe nicht auf, bis Sie mich erhören!« heulte der fassungslose Alte und rutschte dem Lehrer mit gerungenen Händen nach. »Sie müssen mir helfen, Herr Lehrer, ich stehe nicht auf! Herr Lehrer, ich weiß, wie Sie mit dem Justizrat stehen, und der Justizrat kann alles! Und wenn Sie Ihrem Schwiegervater durchhelfen, müssen Sie mir auch beistehen. Der Herrnbauer ist um nichts besser als ich, und er hat dasselbe verbrochen wie ich! – Herr Lehrer, Herr Lehrer, sagen Sie, daß Sie mich nicht verlassen wollen!«

»Herr meines Lebens! so muß ich mir kommen lassen!« ächzte der Herrnbauer.

Reinhardt rief: »Halt, Schultheiß! lassen Sie den Herrnbauer aus dem Spiel, Sie haben kein Recht, sich mit ihm zu vergleichen. Er mag gefehlt haben, so schwer er will, immer bleibt er der Betrogene, Sie aber sind ein Betrüger!«

»Ach, Herr! was sagen Sie? Bedenken Sie, was das Wort bedeutet, was das aus mir machen kann?«

»Nichts, das Sie nicht schon sind! Lassen Sie mich, ich weiß, in welchem Verhältnis Sie zum Jockenhannes in dieser Sache standen!«

»Barmherzigkeit – Barmherzigkeit!« heulte der Alte. »Ruinieren Sie mich nicht! – Denken Sie an meine Kinder, an meine armen Kinder! Wollen Sie meine Kinder unglücklich machen? in Schimpf und Schande stürzen?«

»An Ihre Kinder soll ich denken? Ha, und haben Sie Barmherzigkeit geübt, als Ihre Marie, das brave, gute Mädchen, vor Ihnen kniete und weinend flehte, sie nicht an den alten Fuchsmüller zu zwingen? Haben Sie nicht Ihre Tochter mit dem Fuße von sich gestoßen, in ihre Haare gegriffen? Und Sie wagen jetzt um Barmherzigkeit zu flehen? – Gehen Sie! Für Sie kann ich nichts tun! Stehen Sie auf – ich höre Schritte – gehen Sie! Was in meinen Kräften steht, werde ich aufbieten, eine friedliche Lösung herbeizuführen – kommt Sie auch Ihnen zugut', soll mir's lieb sein. Und jetzt gehen Sie, ich habe nichts mehr mit Ihnen zu schaffen!«

Ein dumpfes Gebrüll scholl, plötzlich anschwellend, vom Dorfe herab; der Lärm kam näher. Einzelne unerwartet in den Hof stürzende und ebenso schnell wieder verschwindende, wutheulende Frauenzimmer waren die Vorboten der sich heranwälzenden tobenden Menge. Anna und Margaret stürzten schreckensbleich in das Zimmer; Anna umklammerte Reinhardt, Margaret umschlang den Hals des zitternden Vaters. Der Schulbauer drängte die jammernden Frauen in die Kammer, in der Türe sammelten sich die Knechte und blickten verstört auf den bleichen Schulbauer. »Was ist zu tun?« fragten sie leise.

»Abwarten!« flüsterte der Schulbauer durch die geschlossenen Zähne. »Wehren bis aufs Blut, kommt es zum äußersten! Schließt Türen und Fenster, bewehrt euch, so gut ihr könnt, und wartet ab!«

Die Knechte verschwanden, an ihrer Stelle drängten sich dunkle Gestalten in die Stube. »Reinhardt, Schulbauer – was ist das? Wie sollen wir das verstehen?« schrie der Beckenjörg. »Sitzt da, legt die Hände in den Schoß, während im Dorf der Teufel los ist, alles drunter und drüber geht und die Tollköpfe nicht mehr zu halten sind? Da – nun habt ihr die Wilden im Hof! Sie, Reinhardt, sollen der Anführer der Wilden werden, sollen helfen das Teufelsnest, wie sie das Jockenhaus nennen, ausbrennen, die Teufelsbrut – seine Kinder – zertreten. Hören Sie? da sind sie schon, und haben sie erst Feuer und Blut gesehen, dann geht's gegen den Schulzen, Ungerskasper und Herrnbauer! hören Sie das Gebrüll? – Großer Gott, was soll werden!«

Das Weinen der Frauen übertönte auf Augenblicke den Lärm draußen. Reinhardt drängte Anna sanft von sich. »Licht, Mädchen! Laßt das Weinen, zum Jammer ist später Zeit. Licht!«

»Und das ist die Hälfte des Elends!« rief der Bergbauer. »Seit die Gerichtsherren das Dorf verlassen haben und entgegen unseren Vorstellungen alle Gendarmen mitnahmen, ist auch bei den Frommen die Teufelei zum Ausbruch gekommen. Keine Stunde mehr wollen sie den Pfarrer im Dorfe leiden. Kommen sie dazu, sein Haus zu stürmen, erreicht der Mann nicht lebendig die Flurgrenze.«

Der Herrnbauer lag längst mit dem Gesicht auf den Armen und stöhnte; als die Lichter erschienen, beleuchteten sie erdfahle, sorgenvolle Gesichter.

»Hört, sie rufen nach mir!« sagte Reinhardt lebhaft, indem eine leichte Röte seine Wangen färbte. »Vorläufig hat dieses Haus noch nichts zu fürchten. Aber dem Kirchbauernhaus droht Gefahr, gelingt es nicht, die Wütenden zu besänftigen! Schulbauer, – wie, wenn du dich der Unglückseligen im Kirchbauernhaus erbarmtest? Willst du?«

Der Schulbauer, in dem plötzlich ein neues Leben erwacht schien, hing hastig Pulverhorn und Schrotbeutel um, nahm das Doppelgewehr von den Stangen über dem Ofen, prüfte das Schloß und versah es mit Zündkapseln. »Ja, dort ist mein Platz! Weil ich lebe, wird ihnen kein Haar gekrümmt.«

»Ich gehe mit Euch!« rief nun auch der Beckenjörg. »Wollen sehen, ob die schreienden Lumpen da draußen sich an zwei Männer und zwei Doppelflinten wagen; aber vorwärts, wir müssen uns im Haus verrammeln, ehe sie an uns kommen! Halten Sie wenigstens die Tollköpfe auf, solange Sie können, Herr Lehrer.«

»Wir bleiben hier, Nikel«, wendete sich der Bergbauer an den Lichtennikele, während der Schulbauer und Beckenjörg davonstürmten. »Wer kann wissen, ob nicht auch hier Hilfe not tut?«

Unterdessen wurde der Lärm im Hofe immer größer. »Reinhardt! 'raus! – Der Schulmeister 'raus! – Was versteckt er sich? – Er soll 'raus, zu uns! – Wir sind seine Freunde, wir gehören zu ihm und er zu uns! – Was hat der Schulmeister bei dem Grenzverrücker zu tun? – Wir sind seine Freunde, wir ganz allein, denn uns hat der Hannes betrogen wie ihn. – Zu uns soll er, zu uns muß er!« so brüllte und heulte die Menge durcheinander.

»Gott erbarme sich des Dorfes!« flüsterte der Lichtennikele und blickte scheu nach dem ächzenden Herrnbauer. »Wenn nicht ein Wunder geschieht, ist alles verloren.«

»Sie kommen!« rief ein Knecht durch die Türe. »Was sollen wir tun?«

»Ich komme gleich, haltet die Haustüre frei!« rief Reinhardt. »Fort, Anna, hier hilft kein Weinen! Bringt den Bauer und die Weiber in die Oberstube, ihr Männer, und sorgt, daß sie uns nicht in die Quere kommen. Vorwärts!«

Ein neuer Sturm draußen beflügelte den Eifer der Männer; fast gewaltsam führten sie die Frauen und den Bauer nach oben. Nur Anna riß sich los. »Ich lasse mich nicht einsperren!« rief sie, »mein Platz ist hier; was Fritz geschieht, soll auch mich treffen!«

Im Freien war es noch heller als in der Stube; das Abendrot stand golden am westlichen Himmel; eben als Reinhardt die Freitreppe betrat, begannen die leichten Wolken über dem Dorf zu glühen; grellrote Schlaglichter beleuchteten scharf das Herrenhaus und den Lehrer. Unwillkürlich verstummte die Menge und wich zurück, dann erhob sich ein Murmeln, das alsbald zu gewaltigem Brausen anschwoll: »Seht – seht doch! Ein Wunder – ein Zeichen vom Himmel! – Der Herrgott selber zeigt uns den Mann, den er auserwählt! – Seht nur, seht! wie sein Gesicht leuchtet! wie sich der Himmel über ihm auftut! Gott selber redet zu uns und zeigt uns sein Wohlgefallen an unserem Tun!« Schon knieten die Weiber an der Treppe nieder, langsam drängten die Männer nach, der Veitenbauer, vom Holsteiner und anderen geleitet, trat vor, nahm seine Mütze ab und rief: »Herr Lehrer, in Gottes Namen kommen Sie herab und nehmen Sie sich unser an. Lange haben wir Sie verkannt und verachtet – jetzt aber ist uns klar, daß Sie uns vom Herrgott selber gesendet sind, uns zu unserm Recht zu verhelfen und uns zum rechten wahren Glauben zurückzuführen. Wir haben schwer gefehlt, aber daran ist bloß der üble Teufel, der Erzhalunke, schuld, den heute sein Schicksal erreicht hat; der hat uns verführt, am wahren Glauben irre gemacht, uns zu lästerlichem Treiben verleitet, obendrein uns noch betrogen um Hab und Gut, und hätte nicht der Herrgott ein Einsehen gehabt, hätt' er uns noch die Haut über die Ohren gezogen. Fluch und Verdammnis über den Hund!«

»Fluch und Verdammnis über den Hund!« heulte es im grausen Echo nach. »Der Erde gleich muß sein Haus gemacht werden, zum ewigen Gedächtnis für alle Gottesleugner! – Fort, fort – ans Werk! Hat uns Gott nicht selber gezeigt, was wir zu tun haben? Sagen nicht die brennenden Wolken, daß der Herrgott Feuer und Blut von uns verlangt? – Auf an die Arbeit! Voran, Schulmeister! Ihr sollt uns führen! vorwärts – der Herrgott will's! – In Gottes Namen: nieder mit dem Kirchbauernhaus, zum Teufel mit der Jockenart! – Dann aber in die Kirche – in die Kirche! Der Schulmeister muß für uns beten, uns mit dem Herrgott versöhnen! – Vorwärts! – Im Namen Gottes, Schulmeister, voran! –«

»Ja, macht voran, was steht Ihr und guckt uns an?« brüllte der wankende Holsteiner. »Nur keine Präambeln, Schulmeister, Ihr seid unser Mann; Euch brauchen wir, daß es doch auch ein Ansehen hat! Kommt 'runter, oder wir holen Euch!«

»Haltet – haltet ein!« rief Reinhardt, den es schauderte. »Seid ihr rasend? wollt ihr euch und das Dorf verderben?«

»Hoho! als wenn noch was zu verderben wäre!« schrie eine wilde Stimme aus dem Haufen, »'runter, Schulmeister, oder wir holen Euch!«

»Besinnt euch, kommt zu euch selber! Wollt ihr zu Mördern und Brandstiftern werden?« entgegnete Reinhardt.

»Holla – was soll das heißen?« brauste es in der Tiefe auf. »Will der Schulmeister Männle machen? sich auf die Hinterfüße stellen? – Hoho – Schulmeister, nehmt Euch in acht! wir verstehen keinen Spaß und leiden's nicht, daß Ihr zu dem Spitzbuben, dem Herrnbauer, haltet. Der muß dran so gut wie die andern – Ihr aber gehört zu uns, verstanden?«

Reinhardt preßte schaudernd seine Hand auf das wild schlagende Herz. Drunten tobte die fanatische Menge; immer stürmischer wurde das Verlangen, daß er der Führer werde bei ihrem ruchlosen Treiben. Was sollte er tun? gehen oder bleiben? Entsetzliche Wahl! Hing nicht das Wohl oder Wehe des Dorfes von seinem Entschlusse ab? – Zum Glück rissen ihn die Wilden gewaltsam aus seinem Denken und führten die Entscheidung herbei.

Des Verhandelns überdrüssig, eilten der betrunkene Holsteiner und noch drei, vier seiner Gesellen die Treppe empor, die Sache auf kürzestem Wege zu erledigen. »Mit muß er«, brüllte der Holsteiner. »Der Schulmeister ist jetzt der erste Mann im Dorf, der muß unserer Sach' ein Ansehen geben und im schlimmsten Fall uns decken. Mit muß er!«

Diese Worte, der ihnen auf dem Fuß folgende gewaltsame Angriff weckten Reinhardts Zorn. Ein kurzer Kampf auf der Treppe; ehe die Knechte zu Hilfe kommen konnten, wälzten sich drei der Angreifer, darunter der Holsteiner, brüllend vor den Füßen ihrer Genossen, die übrigen warteten die gleiche Beförderung nicht ab.

Diese Probe furchtlosen Mannesmutes verfehlte ihre Wirkung nicht, das Brüllen verstummte; fast unwillkürlich erweiterte sich der Kreis um die Treppe. Aber auch Reinhardt brachte diese Tat Befreiung und Klarheit; die Entscheidung war gefallen, darüber war er nicht mehr im Zweifel. Während das Abendrot und die rosig angehauchten Wolken allmählich verblaßten, und die Dämmerung sich über Dorf und Hof legte, begann Reinhardt mit mächtig hallender Stimme den um ihn wogenden Wilden ins Gewissen Zu reden.

Kühn und gewaltig war diese Rede des zürnenden, hochgemuten Mannes! Ohne Scheu nannte er das Treiben der Empörer bei dem rechten Namen, rief ihnen ihre Vergangenheit ins Gedächtnis, geißelte mit schneidenden Worten ihre Charakterlosigkeit, ihre an Wahnwitz grenzende Tollheit, die noch gestern Gott geleugnet und gelästert, heute von demselben Gott Zeichen sehen wollte, die zum Mord und Brand aufforderten, und schloß endlich mit einem düsteren Gemälde der unausbleiblichen Folgen ihres unsinnigen Tuns.

Auch das verbittertste, verhärtetste Gemüt konnte sich dem Eindruck dieser Worte nicht verschließen. Mehr und mehr erweiterte sich der Kreis um die Treppe, das Heulen und Toben verstummte gänzlich, nur dann und wann brauste ein gedämpftes Murmeln auf. Die Frauen waren verschwunden, selbst manche Männer drängten heimlich nach dem Ausgang. Reinhardt entging das nicht, aber die Hoffnung, die Gemüter dauernd beschwichtigt zu haben, zeigte sich eitel. Den Holsteiner wurmte seine Niederlage, zugleich erbitterte es ihn, daß nun doch aus dem schönen, mancherlei geheime Hoffnung weckenden Skandal nichts werden sollte. Als nun aus dem Murmeln allmählich Stimmen auftauchten, die Reinhardt entschieden recht gaben und zur Besonnenheit und Ruhe mahnten, brach der wilde Geselle los: »Was? seid ihr Männer? laßt euch von dem Lumpenschulmeister anhunzen? auf sein Geplärr zieht ihr die Schwänze ein? Ha, Himmelschwerenot! ohne den Vielschwätzer wäre nunmehr die Arbeit lang' getan! Was da! – will uns der Schulmeister nicht beistehen, zehn Pfaffen lecken die Finger danach, unsre Sünden um den Preis der Bergheimer Pfarrei wegzubeten! – Merkt ihr denn nicht, worauf der Fuchs hinaus will? Vom Herrnhof will er uns abhalten, will's nicht zugeben, daß wir dem alten Dachs da drinnen die Höhle räuchern und das Fett ausbraten! – He, holla! schlagt ihn nieder, den Spitzbuben, tut er noch einmal das Maul auf; und nun nimmer gesäumt! Voran, zuerst nieder mit der Jockenart, danach halten wir weitere Abrechnung! He da – dran und drauf!«

Wenn er auch keinen durchschlagenden Erfolg erzielte, einen Teil der Wilden wenigstens brachte der Holsteiner in Bewegung. Aber auch Reinhardts Zorn flammte hell auf. »Gut denn,« rief er. »Geht, versucht euer Heil als Mörder, Mordbrenner und Räuber! Geht, steckt die Höfe eurer Feinde in Brand; was liegt daran, geht das ganze Dorf in Flammen auf? – Ihr habt ja nach solchen Taten nichts mehr zu verlieren, und an freiem Quartier wird es euch nicht fehlen! Geht – versucht es, eure Rachepläne ins Werk zu setzen, aber meint nicht, daß es euch so leicht gelingen werde. Den Kirchbauernhof halten der Schulbauer und Beckenbauer mit geladenen Gewehren besetzt; – kommt Not an den Mann, machen sie Gebrauch davon, zweifelt nicht. Auf einen heißen Empfang müßt ihr gefaßt sein; freilich müßt ihr euch beeilen, denn sowie der erste Schuß fällt, gehen reitende Boten in die Dörfer ab und bieten die Mannschaft auf, und kommen wir mit denen über euch, dann sei euch Gott gnädig!«

Das wirkte, und als nun gar die Nachricht kam, der Schulbauer und die Beckenbrüder mit ihren sämtlichen Knechten hätten das Kirchbauernhaus verrammelt, in allen Fenstern lehnten geladene Doppelflinten; als es nun im Herrnbauernhaus lebendig wurde, zahlreiche Männer mit Laternen in der Türe erschienen und Reinhardt umdrängten, als die Lichter die zornigen Gesichter der Sülzdorfer Schulbauernknechte und Hausleute beleuchteten und die blanken Gewehrläufe in ihren Händen blitzten, da wurde es plötzlich sehr still im Hof. Der Holsteiner und seine Genossen waren spurlos verschwunden.

Kaum war der Rachetaumel verschwunden, so begannen, vom Gefühl ihrer Schuld und Verworfenheit überwältigt, die noch anwesenden Weiber um Gnade und Erbarmen zu jammern; das Heulen steckte die Männer an, und nun war es erbärmlich anzusehen, wie die eben noch tobende Menge zerknirscht am Boden kniete, heulend, jammernd, betend die gerungenen Hände zum Himmel emporreckte und Reinhardt bestürmte, mit ihnen in die Kirche zu ziehen, für sie zu beten und sie mit Gott zu versöhnen. Voll Abscheu wendete sich Reinhardt ab; allein entziehen durfte er sich dem wahnwitzigen, unglücklichen Haufen nicht, so gab er sich denn alle Mühe, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Endlich gelang ihm auch, die größte Aufregung zu beschwichtigen; als er heilig und teuer gelobt, morgen, am Sonntag, einen besonderen Gottesdienst – ohne den Pfarrer – mit ihnen abzuhalten, verließen die Wilden ganz anders als sie gekommen den Hof.

»Wo kommt ihr her?« fragte Reinhardt die Sülzdorfer.

»Die Anna hat uns geholt!«

Reinhardt nickte, und ein glückliches Lächeln umspielte für den Augenblick seine Lippen. »Ist gut so! – Der Ruhe ist nicht zu trauen; wer weiß, wie wir eurer Hilfe noch bedürfen. Vorläufig verhaltet ihr euch still!«

Aufatmend trat er ins Haus. Anna zog er heftig an sich: »Du mein wackeres, tapferes Mädchen!«

»Nein, nicht tapfer!« entgegnete Anna, noch immer leise zitternd. »Das war nicht Tapferkeit, sondern eitel Furcht und Schwäche, was mich nach Sülzdorf trieb. Ach, Fritz, ich konnte es nicht mit ansehen, daß du so hilflos den Wilden preisgegeben warst. Da ich nicht an deiner Seite stehen durfte, floh ich vor meiner eigenen Verzweiflung! Ich flog mehr als ich lief! Gott sei Dank, daß es nicht zu spät und nicht vergeblich war!«

»O, Herr Schulmeister,« sagte der Lichtennikele, der mit dem Bergbauer aus der oberen Stube herabgekommen war, »sind das Zeiten! Den Augenblick vergeß ich nicht, weil ich lebe, da die Wilden gegen Euch losstürmten! Mir zittern noch immer die Knie! Ach, mein Gott, was wäre aus dem Dorf geworden ohne Euch?«

»Ja, Kind und Kindeskinder können es Ihnen nicht danken, was Sie heute an uns getan!« sagte der Bergbauer bewegt.

Reinhardts Antwort unterbrach der Eintritt des Grundmüllers, dem Söhne und Mühlknappen, alle bewaffnet, nachdrängten. »Daß dich der Hund beißt! – ist denn der Teufel los?« schrie der Alte. »Wollen wir dem Herrnbauer zur Hilfe gegen die Wilden – ist alles ruhig, als gäb's gar keinen Wilden im Dorf. Dagegen sind die Frommen drauf und dran, das Pfarrhaus zu stürmen und den Pfarrer über die Grenze zu jagen. – Hört nur, wie sie toben!«

»Was ist zu tun?« rief der ratlose Bergbauer. »Gott allein weiß, was geschieht, fällt der Pfarrer heute in ihre Hände! Sollen wir's geschehen lassen, daß auch die Wilden wieder rebellisch werden?«

Reinhardt, der bisher aufmerksam nach dem Toben gelauscht, nickte. »Das ist die größte Gefahr! – Grundmüller, Ihr seid ein resoluter Mann! laßt Eure Söhne mit je einem Sülzdorfer die Wirtshäuser besetzen. Kein Licht darf angezündet, kein Tropfen Bier oder Branntwein ausgeschänkt werden – verstanden? Mit den übrigen Männern patrouilliert Ihr im Dorf auf und ab und macht nötigenfalls Gebrauch von euren Gewehrkolben!«

»Ist recht – ganz recht!« schrie der Müller, »daß dich der Hund beißt. Ihr seid ein ganzer Mann! – Verlaßt Euch auf mich, wir halten Wirtshäuser und Gassen rein!«

»Nikel, Ihr bleibt im Herrnhof!« fuhr Reinhardt fort. »Ihr, Bergbauer, benachrichtigt die Männer im Kirchbauernhaus, wie die Sachen stehen, und führt soviel Mannschaft Ihr auftreiben könnt von hinten herum in den Pfarrhof.«

»Und Sie wollten sich abermals dem Schwarm entgegenwerfen,« rief der Bergbauer entsetzt. »Allein? – Haben Sie noch nicht genug an dem Sturm mit den Wilden?«

»Wer soll's für mich tun? – Nichts da, Bergbauer! Fort, Eure Aufträge sind wichtig, von ihrer pünktlichen Ausführung hängt viel ab!«

»Und diesmal laß ich dich nicht!« rief Anna außer sich und umschlang seinen Hals. »Ich ertrag's nicht, dich zum zweiten Male in solcher Gefahr zu sehen!«

Die Türe sprang auf. Ein Mädchen mit aufgelöstem Haar und verwirrter Kleidung stürzte herein, mit irrem Blick schaute sie um sich, umfaßte Anna und schluchzte mit erlöschendem Atem: »Hilfe – Hilfe!«

»Dorette – was bedeutet das? – Wo kommst du her?« fragte Anna.

»Durch's Küchenfenster! – Hilfe – Hilfe! – Ach, mein Gott, sie stürmen das Haus! – Der Jammer ist nimmer anzusehen! Der Herr läßt sich nicht blicken, die Frau schwankt herum wie ein Geist, die Kinderchen liegen in den Ecken auf den Knien, ringen die Hände und beten für den Vater – o, das Herz möcht' einem zerspringen! – Was steht ihr noch da? In Gottes Namen, eilt, ehe es zu spät ist!«

»Wirst du mich auch jetzt noch halten, Anna?« fragte Fritz leise, und als sich Anna weinend abwendete, griff er nach seinem Hut mit den Worten: »Auf denn! Tue jeder seine Schuldigkeit!«

Grellroter Fackelschein umleuchtete das Pfarrhaus, wildes Toben, Bedrohungen des Pfarrers und seiner Familie, stürmisches Begehren nach Einlaß, Fluchen und Schreien schallte Reinhardt entgegen, als er klopfenden Herzens den steilen Hügel zum Pfarrhof hinankletterte. Nach wenigen Sekunden stand er abermals einer fanatischen, tobenden Menge gegenüber, allein die Situation war noch gefährlicher. Nicht nur standen ihm hier, als er auf der Pfarrtreppe vor der Haustüre Posto faßte, die Anführer unmittelbar gegenüber; ein Blick über die wutverzerrten Gesichter, über die in wahnsinniger Glut leuchtenden Augen belehrte Reinhardt, daß er hier einen heißeren Kampf zu bestehen haben werde.

Reinhardts Erscheinen wurde mit tobendem Beifallsgebrüll begrüßt. »Hurra – der Schulmeister! Hoch der Schulmeister! Das ist unser Mann, der muß uns führen und leiten! Hurra – Hurra – nun kriegt die Sach' ein Ansehen! Kommt gerade recht, Schulmeister! Hat Euch der Pfaff' am tollsten mitgespielt, sollt Ihr auch das Recht haben, zuerst Hand an ihn zu legen! Hurra, Schulmeister, dran und drauf!«

»Traut ihm nicht, dem Hund!« schrie jetzt der Holsteiner, der gewaltsam nach vorn drängte. »Das ist ein infamer Neunhäuter! Ihr meint, der wär' zu eurem Beistand 'kommen? – ha, ich weiß besser, was der Spitzbube vorhat! – Kurzen Prozeß: schlagt ihn nieder und brecht die Tür auf, so ist alles zu End'!«

»Stopft dem Unflat das Maul – was hat der bei uns zu suchen?« tönte es aus dem Haufen. »Der Schulmeister soll leben – hoch und übermal hoch! Der ist unser Mann! Hat lang das Pfaffenhäfele abgedeckt und dem Schwarzrock aufgebrummt, daß ihm die Ohren sausten! Hurra! zu Euch stehen wir mit Leib und Seel'! Euern Glauben müßt Ihr uns lehren, religionsfrei wollen wir werden wie Ihr, wollen auch nicht länger in der Dummheit herumtappen und uns von den Schwarzen schurigeln lassen! Ein Donner auf die Pfaffen mitnander – uns soll keiner mehr kommen! Hurra, vorwärts – dran und drauf!«

»Halt doch, ihr Nachbarn!« rief Reinhardt. »Was soll der Lärm? Was habt ihr vor?«

»Ho, ho – was heißt das? Nehmt Euch in acht, Schulmeister!« brauste es auf. »Was wir wollen? – unser Recht wahren; dem gottverdammten Satanspfaff' Moses und die Propheten auslegen, daß ihm der Buckel raucht, dem Heuchler und lügnerischen Schleicher den Fuchspelz abziehen, die ganze Brut über die Flurgrenze schaffen und zum Teufel jagen! – Platz, Schulmeister! gebt Raum oder es geht Euch schlecht! – 'raus mit dem Pfaffen, wir wollen Abrechnung halten!«

Von den qualmenden Kienstöcken, deren Flammen durch die Zweige der Bäume züngelten, rot bestrahlt, von einer tobenden Menge umwogt, lag das Pfarrhaus still und tot zwischen Büschen und Bäumen – und welch' Entsetzen mochte durch die Gemächer irren, deren Fenster die qualmenden Flammen widerspiegelten? – Reinhardt strich über die schmerzende Stirn, aber ihm blieb nicht Zeit zum Sinnen. Schon kam das vielköpfige, vielgestaltige Ungeheuer näher, mit Gewalt wurde er zur Seite geschoben, Fäuste und Füße, sogar schon eine Axt donnerten gegen die Tür. Was blieb Reinhardt übrig, als ebenfalls Gewalt zu brauchen? Er selbst wußte nicht, wie es kam, plötzlich fühlte er die Axt in seiner Hand, und vor der hochgeschwungenen blitzenden Waffe wichen die Angreifer unwillkürlich zurück. »Sagt' ich's nicht, er ist ein falscher Hund?« brüllte der Holsteiner. »Nieder mit dem Schulmeister!«

»Zurück – zurück!« rief Reinhardt. »Solange ich's hindern kann, betritt niemand das Haus!«

Ein dumpfes Toben, ein neuer, allgemeiner Sturm war die Antwort. Ein Steinhagel prasselte gegen das Haus. Fensterscheiben klirrten, zerbrochene Laden klapperten, die Türe hallte dumpf wider von Steinwürfen und Balkenstößen. Reinhardt rang verzweifelt gegen die Übermacht; eben taumelte er, von einem furchtbaren Schlag auf den Kopf getroffen, halb betäubt gegen die Wand, als die Gegner zu weichen begannen. Sich gewaltsam aufraffend, sah sich Fritz von einer Schar wohlbewaffneter Männer umgeben, an ihrer Spitze der Schulbauer, die Beckenbrüder, der Bergbauer, Veitenbauer und Grundmüller, die schon der Zahl nach den Stürmenden wohl gewachsen waren. Das sahen auch diese sofort ein, murrend zogen sie sich zurück, und eine sehr erregte Verhandlung entspann sich zwischen den feindlichen Nachbarn. Mit Trotz machten die ehemaligen Frommen das uralte Herkommen geltend, mißliebige Geistliche über die Flurgrenze zu bringen, um sie so für immer los zu sein, und beharrten auf der Ausführung ihres Vorhabens. Dieses Herkommen erkannten natürlich Reinhardts Freunde nicht an, sondern erklärten einfach, daß sie unter allen Umständen die Ruhe und Ordnung im Dorf streng aufrechterhalten würden. Als nun auch die Drohung der Fanatiker, mit den Waffen in der Hand ihren Willen durchsetzen zu wollen, auf die Ordnungspartei, die sich überdies mit jedem Augenblick verstärkte, nicht den geringsten Eindruck machte und die Männer mit Einmut erklärten, sie müßten es eben darauf ankommen lassen – da wurden die Gegner doch stutzig und kleinlaut. Nach abermaligen längeren Verhandlungen willigten die Angreifer widerstrebend ein, ihr gewaltsames Vorhaben für heute aufzugeben; dafür sollte sofort Reinhardt den Pfarrer zu der Erklärung bewegen, daß er nie mehr die Bergheimer Kirche betrete und sich sofort auf eine andere Stelle melde. »Herrgottseindunner!« schrie der Mäurerslang, der sich zum Führer seiner Partei aufgeworfen. »Für heut' ist die Geschichte doch verpfuscht – durch Euch verpfuscht, Schulmeister, merkt das! Doch wollen wir's Euch nicht nachtragen, tut Ihr sonst Eure Schuldigkeit! Meine, es müßte Euch soviel als uns daran gelegen sein, den Himmelsschwerenöter da drin bald los zu sein! – Also, bringt Ihr den Pfaffen zur Einwilligung, ist's gut! Betritt er aber morgen die Kirche, gibt es Mord und Totschlag! Dann wird der Pfaff' doch über die Grenze geschafft, und wenn sich Himmel und Hölle dazwischenlegen!«

Diese Rede fand lebhafte Zustimmung in der Ordnungspartei; der Beifall versöhnte die Aufgeregten vollends. Als nun der Holsteiner abermals lärmen und hetzen wollte, machte man mit ihm und seinen betrunkenen Gesellen kurzen Prozeß und sperrte sie in das Spritzenhaus, wo sie nun Zeit hatten, ihren Rausch auszuschlafen.

Die Fackeln erloschen, die Menge verlor sich zwischen den Bäumen, nur Reinhardt blieb mit seinen Freunden und den zuverlässigen Männern noch beisammen, um beim Schein einiger Laternen weiter zu beraten. Plötzlich wankte Reinhardt, der Schulbauer fing ihn auf und schrie erschrocken: »Mein Gott! was ist das? Und überall Blut? – Was ist geschehen?« – Reinhardt antwortete nicht; kalt und schwer lag er in den Armen seines Freundes!


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