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Vorwort des Herausgebers

Heinrich Schaumbergers großer Lehrerroman » Fritz Reinhardt« ist seit langem vergriffen. Wenn es sich die »Deutsche Landbuchhandlung« zur Ehrenpflicht gemacht hat, das ganze Werk Schaumbergers in einer würdigen neuen Ausgabe herauszubringen, durfte »Fritz Reinhardt« am wenigsten fehlen. Es ist, in jedem Betracht, das Hauptwerk des – allzufrüh seinem Schaffen entrissenen – Dichters: nicht nur an Umfang übertrifft es Schaumbergers übrige Erzählungen um ein Mehrfaches, es zeigt auch einen Reichtum der Erfindung, eine Kunst des Aufbaues, eine Tiefe des Gehaltes, die es weit über die sonstigen Werke des Dichters hinausheben.

Nicht mehr bewegt sich die Handlung bloß in dem beschränkten Bezirke bäuerlichen Daseins – in diesem Romane eines Dorfschullehrers überschneiden sich die verschiedensten Lebenskreise in mannigfaltigster Weise: der Einfachheit ländlicher Verhältnisse steht der lockende Zauber städtischer Kultur gegenüber, der zu geistiger und sozialer Freiheit aufstrebende Lehrerstand stößt ebenso auf die Feindschaft einer starrgläubigen, herrschgierigen Geistlichkeit wie auf das Mißtrauen der im Altheimischen verwurzelten Bauernschaft; »modernes« Aufklärertum findet im Dorfe seine ersten Apostel, die die falsch verstandene neue Geistesfreiheit als Deckmantel für niedrigste Gelüste mißbrauchen und dadurch eine unübersehbare moralische Verwirrung unter der ihr fast widerstandslos preisgegebenen Bauerngemeinde anrichten. Inmitten des Labyrinthes, das die sich schneidenden Linien dieser verschiedenen Kreise bilden, steht nun der jugendliche Idealist von Dorfschullehrer und muß schauen, wie er in der Welt der Wirklichkeit festen Boden unter den Füßen gewinnt. Und wenn nun – um bei unserem Bilde zu bleiben – all diese Kreise von der geheimen Zauberhand des Dichters in einen tollen Wirbel versetzt werden und zuletzt einen wahren Hexensabbat der Leidenschaft aufführen, da gibt es für den unerfahrenen Jüngling wohl auch Augenblicke der Schwäche, wo ihm alles vor den Augen verschwimmt, aber immer mehr läßt ihn die Größe seiner Aufgabe zum wirklichen Helden der Handlung emporwachsen, so daß er, als zuletzt der Taumel der Verwirrung in einer richtigen Dorfschlacht seinen Höhepunkt erreicht, unter Einsatz seines Lebens alle bösen Geister bannt und, nunmehr ganz fest und sicher in sich ruhend, dem aufgewühlten Dorfe den inneren Frieden wiedergibt.

Und mit welcher Meisterschaft ist das alles aufgebaut: wie sorgfältig werden die einzelnen Fäden des verwickelten Netzes der Handlung ineinander verwoben, wie fein werden da vor unseren Augen in heimlichen Ecken und Winkeln all die bäuerlichen Intrigen gesponnen, mit welcher Raffiniertheit werden dann die so gesponnenen Netze ausgelegt, in denen sich die »Dummen« fangen sollen – und wenn zuletzt doch Wahrheit und Recht über Lüge und Gemeinheit triumphieren, so ist es doch kein deus ex machina, der einen unentwirrbar gewordenen Knoten durch göttliches Machtwort löst: die Aufhellung all der dunklen Machenschaften, die zum Teil in die Vorgeschichte der Handlung zurückreichen, vollzieht sich über Jahre hin mit jener Sicherheit und Stetigkeit, die den Vertretern der guten Sache die innere Überlegenheit und damit zuletzt den Sieg über das Böse gewährleistet.

Daß die bäuerliche Welt, in der sich diese leidenschaftlich bewegte Handlung abspielt, mit unverfälschter Echtheit dargestellt ist, versteht sich bei dem großen Realisten Schaumberger von selbst: wie wird da das Dorfleben mit seinen vielen typischen Einzelzügen, in Haus und Gemeinde, in der Gastwirtschaft wie unter der Planlinde, in der bäuerlichen Alltagsarbeit wie bei den ländlichen Festen vor unseren Augen unmittelbar lebendig! Und wenn dem Außenstehenden jenes Leben in seiner konventionellen Gebundenheit leicht gleichförmig und eintönig erscheint, welche Fülle individuellen Lebens weiß unser Dichter aus ihm hervorzuzaubern! Aus der langen Reihe scharfgezeichneter Einzelfiguren seien hier nur die hauptsächlichsten herausgegriffen: da steht auf der einen Seite als überragende Gestalt der »Schulbauer«, Fritz Reinhardts väterlicher Freund, der mit seiner in schwerem inneren Ringen gewonnenen männlich-reifen Lebensweisheit dem jungen Lehrer in ernster Zeit Halt und Stütze ist, neben ihm der prächtige alte »Lichtennikel« mit seiner in aller Bescheidenheit seines Daseins freien und frohen kindlichen Frömmigkeit – auf der anderen Seite der schuldbeladene »Jockenhannes« mit seinem teuflischen Ratgeber, dem »Wagnerspaule« und seinem übrigen unsauberen Anhang, dazwischen der seinem Stolz und seiner Habgier zum Opfer fallende »Herrenbauer«, der in religiösen Zweifeln hin und her schwankende »Beckenkarl«, der sich so weit von der Partei des Jockenhannes einfangen läßt, daß er seiner Braut, der prächtigen »Herrnbauersmargret« untreu wird und sich der koketten »Jockenline« verspricht, um sich zuletzt nach schweren Erschütterungen wieder zurechtzufinden – und zuletzt die weibliche Lichtgestalt des Romanes, vom Dichter mit besonderer Liebe gezeichnet und mit den Zügen seiner eignen jungen Frau Magdalena Frau Magdalene Schaumberger lebt heute als ehrwürdige Greisin von 78 Jahren in Dresden; daß sie die Wiedererstehung des Werkes ihres geliebten Gatten noch miterleben darf, ist das größte Glück ihres Alters. Frau Schaumbergers Vater war der auch als Volksschriftsteller bekannte Pfarrer Bagge. Er schrieb Erzählungen unter dem Namen Josias Nordheim und war der treueste literarische Berater des jungen Schaumberger. ausgestattet: die jugendfrische, tugendreine »Herrnbauersanna«, mit deren treubewährter Liebe sich der junge Schulmeister, durch allerlei Irrungen und Wirrungen sich hindurchkämpfend, den größten Schatz seines Lebens erwirbt.

Solch bodenständiges Menschentum darzustellen ist natürlich nur einem Dichter möglich, der die heimatliche Scholle selbst mit allen Fasern seines Herzens liebt. Und wie weiß Schaumberger den stillen Zauber seines Thüringer Heimatlandes zu malen: seine prächtigen Naturschilderungen sind nicht bloß hübsche äußerliche Zutaten, sie gehören mit zu dem Wesensbestande des Ganzen; die Vorgänge draußen in der Natur stehen in einem organischen Zusammenhang mit den menschlichen Schicksalen, die sich in ihrem Rahmen abspielen: wo sich die Abgründe der Hölle in den Menschenseelen auftun, da scheinen auch alle wilden, zerstörenden Gewalten der Natur von unsichtbaren Mächten losgelassen zu sein, um die menschliche Verwirrung bis zum Höchsten zu steigern – in der Darstellung solcher gewaltiger Katastrophen bewährt sich Schaumbergers besondere Meisterschaft.

Wie sehr sich der Dichter selbst bewußt war, daß er der liebevollen Versenkung in Natur und Menschentum seiner Thüringer Heimat das Beste seines Schaffens verdankt, zeigt eine briefliche Bemerkung von ihm aus der Zeit der Arbeit an diesem Werke: »Ich empfinde immer mehr, wie nur durch die Benützung des Kleinsten in der Wirklichkeit ein wahrhaft fließendes, erregendes Werk zustande gebracht werden kann.« Und doch ist Schaumbergers Bedeutung mit dieser Selbstcharakteristik noch nicht erschöpft. Stellen wir darum ein anderes ebenso wichtiges Bekenntnis des Dichters daneben: »Ich möchte dem Volk einen Spiegel vorhalten, in dem es sich selbst sieht, dann aber durch Idealisierung den Sieg der göttlichen Idee darstellen.« Auch deswegen ist »Fritz Reinhardt« Schaumbergers Hauptwerk, weil es, wie er einmal an seine Braut schreibt, »die Ideen seines Lebens enthält«, verkörpert in den bedeutendsten Gestalten des Romanes, dem Schulbauern und Fritz Reinhardt; nach einer brieflichen Äußerung des Dichters vertreten sie » die höchste Freiheit der Individualität, die nur in sich selbst ihre notwendige Schranke und Begrenzung findet«. Das ist Geist vom Geiste Schillers, in dessen »Idealismus der Freiheit« Schaumberger sein hohes sittliches Vorbild gefunden. Und wenn er den jugendlichen Helden seines Romanes von zwei Seiten bedroht sein läßt, wenn auf der einen Seite der unduldsame Dorfpfarrer den kleinen Dorfschulmeister mit der ganzen Wucht seiner geistlichen Autorität zerschmettern möchte, wenn auf der anderen Seite die Partei des Jockenhannes den jungen Lehrer für ihre neue Lehre des schrankenlosen Egoismus und Materialismus gewinnen zu können glaubt, so geschieht das nur, damit sich daran die Kraft eines freien und zugleich innerlich gebundenen Idealismus entwickle und bewähre.

Solche Ewigkeitswerte, die uns aus dem Werke Schaumbergers entgegenleuchten, bleiben bestehen über Raum und Zeit hinaus, sie heben seine »Heimatkunst« in die höhere Sphäre des rein Geistigen; sie werden auch dauern, wenn das, was davon zeitlich bedingt erscheint, verblaßt ist. Schon heute, nach einem halben Jahrhundert, empfinden wir manches von dem, was die Zeitgenossen gerade als besonders »aktuell« berührt und aufgerührt hat, als veraltet; die deutsche Lehrerschaft begrüßte das Werk bei seinem Erscheinen als ein großes Kampflied ihres aufstrebenden Standes gegen pfäffische Herrschsucht. Und in der Tat: sie hatte (und hat noch heute) allen Grund, in Schaumberger einen ihrer großen literarischen Vorkämpfer zu verehren. Das »Epos des deutschen Lehrerlebens«, wie man »Fritz Reinhardt« damals nannte, war ein Hausbuch in ungezählten deutschen Lehrerfamilien. Heute, wo von der Lehrerschaft alles das, was Schaumberger mit erkämpft hat, längst erreicht ist, scheint auch sie ihn schon wieder halb vergessen zu haben: »Fritz Reinhardt« als Tendenzroman ist bereits historisch geworden.

Wenn nun der Verlag beim Neudruck des Werkes vor der Frage stand, ob und was davon um seiner lebendigen Wirkung zu streichen wäre, so ist mit dem zuletzt Ausgeführten die Antwort zum Teil schon gegeben: von dem Lehrerroman konnte – da nun einmal große Partien im Interesse der Verbreitung des allzu breit angelegten Werkes geopfert werden mußten – im wesentlichen nur das stehen bleiben, was sich in dem engen Bezirke des Dorfes abspielt: als Roman eines Dorfschullehrers ordnet es sich so organisch in Schaumbergers Gesamtwerk ein. Die in der Stadt spielenden Kapitel fehlen übrigens auch in dem ursprünglichen Entwurf des Werkes vollständig. – Aus dem vielmaschigen Gewebe der Handlung, wie sie der Roman in seiner letzten Fassung enthält, den Dorfroman herauszulösen, ist gewiß eine Aufgabe, die nicht restlos gelingen kann. Zu der Unzulänglichkeit eines solchen Versuches, deren wir uns voll bewußt sind, gehört es auch, wenn wir an einigen Stellen die Inhaltsangaben gestrichener Kapitel einfügen, die zum Verständnis des Ganzen unentbehrlich sind.

Und noch eine zweite Folgerung ergab sich aus dieser Voraussetzung: das Unsympathische in dem Charakter von Reinhardts geistlichem Widerpart ist in tendenziöser Weise so übersteigert, daß die am meisten anstößigen Einzelzüge beseitigt werden mußten. Solche Streichungen geschahen nicht nur mit Rücksicht auf das Empfinden solcher kirchlicher Kreise, die sich durch die polemische Darstellung mit Recht verletzt fühlen könnten, sondern viel mehr noch aus ästhetischen Gründen. Auch für den künstlerischen Genuß gilt das Goethewort: »Man merkt die Absicht und man wird verstimmt.«

Was würde – so fragen wir zum Schluß – der Dichter selbst zu unserem Eingriff sagen? Schaumberger hat sich von diesem Werke, das er selbst als »dem Gehalt nach bedeutend« bezeichnet, viel versprochen. »Wäre ich Herr der Form,« – so meint er – »hier wäre wohl etwas zu erwarten.« Nach ihrer Vollendung sollte die Erzählung »ruhig liegen; ist es mir vergönnt, mag die Zeit sie reifen und klären«. Die hier ausgesprochene Hoffnung – zugleich ein ehrendes Zeugnis für das hohe Maß von Selbstkritik, das Schaumberger besaß – hat sich für den Dichter nicht erfüllt: er wurde unmittelbar nach dem Abschluß der Niederschrift von seinem Schaffen für immer abberufen. Zudem hat er als todkranker Mann in heroischem Ringen – wie sein großer Schicksals- und Geistesverwandter Friedrich Schiller – dieses Werk mitten im Fieber seiner qualvollen Leiden innerhalb neun Monaten niedergeschrieben. Erschütternd klingt die Schilderung, die er selbst in einem Brief aus Davos vom 16. Dezember 1873 kurz nach Abschluß seiner Arbeit von dieser entwirft:

»Als der böse Herbst kam, ein Anfall nach dem andern mich niederwarf, war ich noch lange nicht zur Schürzung des Knotens gelangt. Diese Not ist unbeschreiblich. Wenn jeder Nerv, jeder Muskel nach Ruhe schreit, sich an den Schreibtisch setzen und poetisch produzieren – das sind Folterqualen! Wenn man auf dem Stuhl zusammenbrechen möchte, wenn die zitternde Hand den Dienst versagt, das fiebernde Hirn keinen Gedanken zum andern bringt ... o, solch ein Schaffen ist Höllenqual! Und so habe ich mich Monate hindurch abgekämpft!«

Daß die Spuren dieser im eigentlichsten Sinne des Wortes »fieberhaften« Schaffensweise dem Werke in seiner ursprünglichen Form anhaften, ist selbstverständlich. Schon der Biograph Schaumbergers, Hugo Möbius, weist darauf hin, daß die aus der Todeskrankheit des Dichters hervorgehende furchtbare Gereiztheit Schaumberger in seinen alten Fehler, in Übertreibung verfallen ließ, von seiner Hauptschwäche, der Neigung zu allzu großer Weitschweifigkeit, gar nicht zu reden. Hätte er länger gelebt, so hätte er zweifellos versucht, – nach seinen eigenen Worten – seine »unglückselige Breite« in »lakonische Kürze« umzuwandeln. Liegt es da bei einer Neuausgabe des Werkes nicht nahe, da und dort die glättende Feile anzulegen, die der Dichter selbst nicht mehr in die Hand nehmen konnte?

Dabei kann natürlich nicht davon die Rede sein, den Dichter irgendwie durch eigene Zutaten »verbessern« zu wollen. Es handelt sich vielmehr im wesentlichen darum, allzu große Längen zu kürzen, unnötige Wiederholungen und Abschweifungen zu streichen, Konventionelles zu beseitigen, unnatürliche Übertreibungen zu mildern, damit das wirklich Echte, Starke, Ursprüngliche, Gesunde, das rein Menschliche der Schaumbergerschen Erzählungskunst um so eindrucksvoller in die Erscheinung trete.

So hoffen wir mit unserer Bearbeitung vor den alten Freunden des Werkes mit Ehren zu bestehen und ihm in der neuen Form recht viele neue Freunde zu gewinnen.

Dresden, Juli 1927.
Prof. Dr. August Rahm.


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