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Einunddreißigstes Kapitel

Die Geschäftszimmer des Justizamtes in Haidach lagen mit denen des Landratamtes in einem alten, schloßartigen Gebäude. Der Landrat war zugleich Vorsitzender des Kirchen- und Schulamtes. In der gemeinschaftlichen Wartestube saßen bereits der Veiten- und Bergbauer neben dem Beckenjörg; sie erstaunten nicht wenig, als ihr abgesetzter Lehrer in Begleitung des hochgeachteten Justizrates eintrat. Sie wollten sich zu einer Besprechung um ihn drängen, allein Stein wies sie lächelnd ab. »Vor allem wollen wir eurem braven Lehrer zu seinem Recht verhelfen; dann stehe ich euch zu Diensten!« – Seine Uhr ziehend fuhr er fort: »Neun Uhr! Wo ist der Bureaudiener? Er möge dem Kirchen- und Schulamt Herrn Lehrer Reinhardt und Justizrat Stein melden!«

Reinhardt biß die Lippen zusammen, als er diesmal so wunderbar rasch vorkam. Im Sitzungszimmer saß Superintendent N. neben dem Landrat. Beide vermochten den Ausdruck einer unangenehmen Überraschung nicht zu verwischen. Der Landrat erhob sich und schien dem Justizrat entgegengehen zu wollen. Dieser winkte lächelnd: »Bleiben Sie ganz ruhig, ich komme als Rechtsbeistand des beklagten Herrn Lehrer Reinhardt! Ich hoffe, man würde meinem Klienten auch ohne meine Anwesenheit nicht zugemutet haben, die Verhandlungen stehend abzumachen.«

Der Landrat biß sich die Lippen, riß am Klingelzug und befahl dem hereinstürzenden Bureaudiener Stühle zu bringen. »Ich weiß in der Tat nicht, Herr Justizrat,« begann er, sichtlich verlegen an den Bartspitzen drehend, »ob es dem Lehrer Reinhardt gestattet werden darf, seine Verhandlungen vor dem Kirchen- und Schulamt durch einen Rechtsanwalt führen zu lassen!«

»Ah, bah!« – sagte Stein mit feinem Lächeln. »Lassen Sie das, Herr Landrat, ich weiß ja doch, daß Sie mich nicht zurückweisen werden. Wollen Sie gefälligst die Verhandlungen beginnen? Meine Zeit ist gemessen!«

Als der Landrat auf einige Worte, die ihm der Superintendent zuflüsterte, nur ärgerlich die Achseln zuckte und in seinen Akten kramte, erhob sich Stein und sagte ernst: »Ehe ich mich auf weiteres einlasse, erkläre ich das gegen den Lehrer Reinhardt von Bergheim eingeleitete Strafverfahren für völlig ungesetzlich und erhebe dagegen Protest. Ich behalte mir auch alle Schritte vor, die nötig sein werden, um die hier vorliegende Umgehung des Gesetzes energisch zu ahnden, sowie auch um meinem Klienten für alle Schädigung, die er an seiner Ehre oder sonstwie erlitten, vollste Genugtuung zu verschaffen!«

Der Landrat war unruhig geworden. »Herr Justizrat, wollen Sie nicht bedenken, daß Sie sehr hart und – und schnell urteilen? Wollen Sie nicht erst Beweise abwarten für, für –«

»Ich verlange meine Angabe wörtlich zu Protokoll zu nehmen. Die Beweise für die Richtigkeit meiner Anschauung werden die Verhandlungen bald genug klarstellen. Wollen Sie die Anklagen gefälligst vortragen?«

Nachdem der Landrat wieder lange in seinen Papieren gekramt, erhob er ein ziemlich dickes Konvolut Papiere und begann zu lesen. Nach einem salbungsvollen Eingang berichtete Pfarrer Walter, daß er sich leider genötigt sehe, gegen den Lehrer Reinhardt von Bergheim Beschwerde zu führen, da alle Mittel des ihm zustehenden Besserungsverfahrens ohne Wirkung geblieben seien.

»Dagegen erhebe ich Protest!« rief Reinhardt erregt. »Pfarrer Walter leitete nie das gesetzlich vorgeschriebene Besserungsverfahren gegen mich ein. Man stelle mich diesem Mann gegenüber und sehe zu, ob er diese Angabe aufrechtzuerhalten wagt!«

»Wollen Sie diese Bemerkung zu Protokoll nehmen«, sagte Justizrat Stein kalt.

Der Landrat las weiter. Die Beschwerden zerfielen in allgemeine und besondere. Über die ersteren – Reinhardt wurde, ohne weitere Beweise natürlich, als Atheist, Umsturzmann, als sittenloser Mensch denunziert – lachte der Justizrat. »Pastorengalle! Ohne Beweise erkläre ich diese Anschuldigungen für böswillige Verleumdung! Weiter!«

Die tatsächlichen Anklagen drehten sich um bekannte Vorgänge, Walter zeigte ein gutes Gedächtnis. Reinhardt wurde des Trotzes, Ungehorsams, der Beleidigung seines Vorgesetzten am Morgen des zweiten Pfingsttages, bei Rückempfang seiner Lehrpläne, angeklagt; besonders war sein eigenmächtiger Spaziergang und die Weigerung, auf Befehl die Kinder zu züchtigen, hervorgehoben. Seine Ablehnung des neuen Katechismus war gehässig verdreht, auch seine Versäumnisse bei der Kindtaufe, seine folgende abermalige Beleidigung des Pfarrers nicht vergessen worden. Zuletzt wurde auch des Schulfestes als einer Eigenmächtigkeit gedacht und als großes Verbrechen dargestellt, daß der Lehrer seinem Vorgesetzten das Wort verweigerte.

Ehe Reinhardt zu Wort kommen konnte, rief der Justizrat ungeduldig: »Lappalien! Nicht wert, darüber ein Wort zu verlieren; wenn Herr Pfarrer Walter diesen Geschichten so große Bedeutung beilegte, warum klagte er nicht sofort?«

»Ja, warum klagte er nicht?« rief Reinhardt, der aufgesprungen war. »Über sämtliche hier angeführte Beschwerdepunkte kam es zwischen uns zum offenen Streit, der stets damit endete, da mich Walter eines Unrechts nie überführen konnte, daß er mir mit Klage drohte. Man stelle mich dem Mann gegenüber, dann werde ich Punkt für Punkt beantworten!«

» Bon – bon!« lächelte Stein. »Vergessen Sie nicht, das ins Protokoll aufzunehmen! – und nun weiter. Ich will nicht hoffen, daß man ähnlicher Vorgänge wegen Amtssuspension über Reinhardt verhängte!«

Der Ephorus erhob Hände und Augen, allein der Landrat warf ihm einen Blick zu, der ihn rasch zur Ruhe brachte.

Allerdings begann nun der Pfarrer mit schwerem Geschütz aufzurücken. Nachdem er der religiösen Verwirrung im Dorf gedacht, den Abfall vom Glauben beklagt, kam er wieder auf Reinhardt, und diesem wurde geradezu schuld gegeben, daß die Verwilderung solche Höhe erreicht. Als Gründe wurden angegeben: seine verderbliche, destruktive Lehre, seine schlechte Schulzucht, sein schlimmes Beispiel!

»Zum erstenmal fast höre ich die Schule nennen!« rief der Justizrat. »Aber das sind ja leere, inhaltlose Behauptungen! Tatsachen – wo sind die Tatsachen?«

Die Tatsachen blieben aus, die Schule wurde nicht weiter erwähnt, vielmehr wurde Reinhardt angeklagt, er habe oftmals gotteslästerliche Reden, Geschichten, welche darauf abzielten, das Ansehen des Pfarrers zu untergraben, im Wirtshaus mit angehört, ohne dagegen einzuschreiten; ferner habe er unter den strenggläubigen Christen für seine eigene materialistische Weltanschauung agitiert und manche fromme Seele verwirrt und verführt. Besonders bei seiner Verlobung im Hause des Bauern Schubert habe er den Pfarrer Walter gröblich beleidigt, in der Würde seines Amtes gekränkt und seinem Ansehen geschadet.

»Vorläufig habe ich auf sämtliche Beschuldigungen nur eine Antwort: ich verachte sie!« rief Reinhardt. »Wagt Walter diese Klagen aufrechtzuerhalten, möge er Zeugen und Beweismittel beibringen, da soll es an einer Antwort meinerseits nicht fehlen.«

»Sie führen eine sehr hohe Sprache, junger Mann«, keuchte der Superintendent. »Ich fürchte nur, Sie werden dieselbe bedeutend herabstimmen, wenn nun die Hauptpunkte der Anklage hervortreten.«

»Endlich ein Wort von Hauptpunkten!« sagte der Justizrat ungeduldig. »Vorwärts!«

Der Landrat las: »In einer wahrscheinlich zu diesem Zweck veranstalteten Versammlung im Bergheimer Wirtshaus hielt Reinhardt einen Vortrag, in welchem er offen sich zum Atheismus bekannte, seine Feindschaft gegen alles, was Kirche, Religion und Glauben heißt, offen darlegte und unsrer heiligen Religion den Krieg erklärte!«

Reinhardt war furchtbar bleich geworden. Nicht mehr imstande, an sich zu halten, schmetterte er seinen Stuhl auf den Boden und rief: »Ha, ich beginne zu ahnen, aus welcher Quelle Walter schöpfte! Aber diese Beschuldigung ist schändlich! Ich selbst enthalte mich jedes Wortes zu meiner Verteidigung – in der Wartestube sitzen Bergheimer Männer der verschiedensten Parteien; man rufe sie, sie mögen für mich zeugen!«

Der Landrat begann heftig auf und ab zu gehen.

»Geht nicht – ist ganz untunlich!« rief er endlich. »Wir haben hier nur Ihre eigenen Angaben zu vernehmen; alles weitere muß späteren Verhandlungen überlassen bleiben!«

»Geht nicht?« fiel der Justizrat erregt dazwischen. »Wie? Sie verhängen ohne weiteres Amtssuspension, und jetzt wollen Sie dem Angeschuldigten die Mittel verweigern, seine Ehre sofort herzustellen? Herr, wie soll ich dieses Verfahren nennen? Werden Sie sofort die Genannten herbeirufen und ihre Aussage zu Protokoll nehmen oder wollen Sie es auf weitere Schritte meinerseits ankommen lassen?«

Sekundenlang blickten sich die beiden Juristen zornglühend in die Augen, dann aber riß der Landrat an der Klingel und befahl, ohne die Einwürfe seines Beisitzers nur im geringsten zu beachten, sämtliche in der Wartestube anwesenden Bergheimer hereinzuführen. Ein ängstliches, dumpfes Schweigen herrschte in dem großen, hellen Zimmer; der Justizrat schaute angelegentlich in einen kleinen Hof hinab, der Landrat ging heftig hinter dem grünen Tisch auf und ab, und der Ephorus begann mit steigender Unruhe und Verlegenheit auf seinem Stuhl umherzurücken. Endlich traten die Bergheimer ein und sahen sich mit großen Augen um. Es waren außer dem Beckenjörg, Veitenbauer und Bergjörg auch noch der Schulz und der Ungerskasper. Mit kurzen Worten legte ihnen der Landrat den Zweck ihres Hierseins dar; als sie seine Frage, ob sie sich auf Reinhardts Vortrag erinnerten, ob er ihnen in den Hauptsachen noch gegenwärtig sei, einstimmig bejahten, las er ihnen die betreffende Stelle der Anklageschrift vor und knüpfte daran die Frage, ob diese Angaben der Wahrheit entsprächen.

Bleich und verstört starrten die Männer bald sich, bald Reinhardt, bald den Landrat an. »Und das hat unser Pfarrer berichtet?« fragte der Bergbauer leise und strich sich über die Augen. »Unser Pfarrer? – Und deswegen ist unser Herr Lehrer abgesetzt worden?« – Dem Schulzen wurde so übel, daß er sich setzen mußte, der Veitenbauer und der Ungerskasper schüttelten die Köpfe, des Beckenbauern Augen funkelten wie Kohlen, hörbar knirschte er mit den Zähnen. Als der Justizrat vollends den Männern die Bedeutung und Tragweite des Satzes: »Reinhardt hielt einen Vortrag, in welchem er sich offen zum Atheismus bekannte!« auseinandersetzte, begann auch der Bergbauer nach einem Stützpunkt zu suchen, der starke Mann zitterte sichtbar vor Aufregung, der Beckenbauer aber brach los: »Das hat der Pfarrer geschrieben? Wahr und wahrhaftig? Mit seiner Unterschrift bezeugt? – Und den verfluchten Judas trifft kein Donnerschlag? Seine Lügenzunge wird nicht schwarz? Seine Finger verdorren nicht? – O lassen Sie nur, Herr Landrat, ich weiß sehr wohl, wo ich bin und was ich rede! Strafen Sie mich, so sehr Sie wollen, lassen Sie mich einsperren – mir gleich, aber 'runter muß vorher, was mir auf dem Herzen liegt, 'raus muß es, was da drinnen würgt, ich erstick' sonst! – Heiliger Gott! das hat unser Pfarrer geschrieben? Unser Pfarrer? Herr, mein Gott, mir brennt's im Gehirn! – Und nun lassen Sie schreiben, das ist alles erstunken und erlogen, kein wahrer Buchstabe drin! Den Herrgott hätte unser Lehrer geleugnet? Der Religion und dem Glauben den Krieg erklärt? – Was? hat er nicht ausdrücklich gesagt, ich ehre und liebe den Glauben? Ich bin kein Feind des Christentums, kein Spötter, kein Religionsverächter? – Und der Pfarrer wagt das zu schreiben? Auf elende Lügen und Klatschereien seiner Zuträger hin schändet er einen Menschen und macht ihn unglücklich? – Schreibt's nur auf, was ich gesagt, ich vertret's! Und noch einmal sag' ich: das sind ausgestunkene Lügen!«

Der Justizrat lehnte in der Fensternische und blickte angelegentlichst auf seine Fingernägel, der Landrat kniff die Lippen zusammen und spielte mechanisch mit einem Bleistift, der Ephorus aber war aufgesprungen, streckte beide Hände von sich, als müsse er etwas Entsetzliches abwehren; unruhig, wie Hilfe suchend, irrten seine Augen umher.

Ächzend erhob sich der Bergbauer, stützte sich auf den grünen Tisch und begann mit bebender Stimme: »Ich bin ein ruhiger Mann, hab' wenig an dem Treiben im Dorf teilgenommen und allzeit festgehalten am Glauben meiner Väter – fragt um, man wird mir das bezeugen. Drum ist mir der G'satz da von unserm Pfarrer wie ein Messer ins Herz gefahren; ich kann's nicht zusammenbringen, daß der Mann, den wir allsonntäglich zweimal auf der Kanzel sehen, solche Streiche macht. Ich nehme natürlich an, daß er auch hintergangen und betrogen worden ist, aber das macht nichts besser. Ja, ja – mir brennt's auch im Kopf und reißt's im Herzen, und was das für neues Unheil in Bergheim geben wird, daran mag ich nicht denken. In Gottes Namen lassen Sie schreiben, Herr Landrat, ich sag' auch, das sind schändliche, niederträchtige Lügen, was der Pfarrer schreibt. Die Red' war eine wackre, tüchtige Red', wie lang' keine gehört worden ist in Bergheim, und ich bin dem Herrn Lehrer heut' noch dankbar dafür. Das war nichts als die runde, klare Wahrheit, und wenn sie scharf war und manchen gebissen hat, so ist das nur seine Schuld. Wenn man mehr wissen will, soll man nur den Lichtennikele fragen, der weiß die ganze Red' auswendig. – Und nun ihr Männer, bezeugt ihr, ob ich nur ein Wort zuviel gesagt hab'!«

Der Ephorus rang heimlich die gefalteten Hände, der Schweiß stand in dicken Tropfen auf seiner Stirn. Als er jetzt salbungsvoll auf die Männer einzureden begann und sie ermahnen wollte, doch in dieser hochernsten Angelegenheit ihre Worte zu bedenken – fuhr ihn der Landrat barsch an: »Wollen Sie die Männer beeinflussen? Können Sie noch immer nicht die Finger aus dieser unsauberen Geschichte lassen, die Sie, Sie und Pfarrer Walter mir aufhalsten? Schweigen Sie und lassen Sie die Bergheimer Männer reden – was habt ihr zu sagen, Schultheiß, Veit Wendler. Kaspar Unger?«

»Sehr viel oder auch sehr wenig, wie man's nimmt!« sagte der Ungersbauer. »Muß vorausschicken, daß ich bis heute unwandelbar unserm Pfarrer vertraut habe – ich sehe jetzt, mehr als gut war. Dagegen der Schulmeister Reinhardt war nie mein Mann, sein fürnehmes, hochmütiges Wesen war mir zuwider, sein freies Denken in Sachen des Glaubens mußte ich höchlich verdammen, und, um es gradeaus zu sagen, ich könnt' den Schulmeister nicht leiden und hab' ihm nicht über den Weg getraut. Was nun die Red' betrifft, so bin ich davon nicht so erbaut wie der Bergbauer; sie war nach meiner Meinung nichts Ganzes und nichts halbes, nicht gehauen und nicht gestochen. Von Gottesleugnung, Feindschaft wider den Glauben, Krieg gegen die Religion war aber nichts in der Red' zu spüren, nicht's Dingle, konträr', eh'r ließ sich das Gegenteil behaupten. So schwer mir's wird, und ich sag' euch, ihr Herren, ihr könnt gar nicht verstehen, was mir der Pfarrer mit der Geschicht' angetan, was er für ein Unheil in meinem alten Kopf angerichtet hat! – ich muß auch sagen, an der Anklage ist kein wahres Wort!«

»Will mich nicht besser machen, als ich bin,« begann der Veitenbauer zu poltern, »muß sagen, die Geschicht' macht mir 'nen Heidenspaß, und wenn mir je was nicht gefällt, so ist's, daß der Schulmeister so ganz ungeprellt davonkommen soll. Hab' ihn nie leiden können, den Schulmeister, und hab' auch kein Hehl daraus gemacht. Seine Überg'scheidigkeit, sein Tugendstolz lagen mir wie Steine im Magen; besonders seine Rede, worin er uns freisinnige Männer 'runterrunkste, als wären wir seine Schulbuben, werd' ich ihm in drei Tagen nicht vergessen. Aber wenn ich den Schulmeister nicht leiden kann, so bin ich dem Pfarrer spinnekatzenfeind, und es ist mir eine Freude wie groß, daß dem seine Herrlichkeit solch dreckig's Ende nimmt, und man auch weiß, was eigentlich hinter der Heiligkeit in Wahrheit steckt. – Was? Das gehört nicht daher? Grad' gehört das daher, kein Tippele nehm' ich zurück, und ich verlang' sogar, daß jedes meiner Worte ins Protokoll kommt! Und nun sag' ich mit dem Beckenjörg, was da der Pfarrer in seinem Bericht gegen den Schulmeister vorbringt, das sind ausgestunkene, meschante Lügen! Punktum!«

»Und Ihr, Schultheiß?« fragte der Landrat.

»Ich hab' nicht viel zu sagen, die Männer haben die volle Wahrheit geredet, ganz Bergheim kann nicht anders sagen, wird's vorgefordert!«

»Heillose Geschichten das! Wie wollen Sie Ihr unverantwortliches Vorgehen entschuldigen? Glauben Sie nicht, daß ich mich auch diesmal wieder zum Sündendeckel für Sie hergebe; haben Sie den Karren verfahren, so sehen Sie selbst zu, wie Sie ihn wieder flott bekommen!« schrie der Landrat den fassungslosen geistlichen Herrn an. »Ihr Männer, ihr könnt jetzt gehen, das Protokoll wird euch später zur Genehmigung und Unterschrift vorgelegt werden.«

»Nicht doch«, fiel ihm der Justizrat in die Rede, der eben mit seltsamem Lächeln aus seiner Fensternische hervorkam und an den grünen Tisch trat. »Lassen Sie die Männer ruhig hier, das Hauptstück der Anklage ist ja doch wohl noch zurück, und es kann für den Lehrer Reinhardt nur wünschenswert sein, wenn einige seiner Gemeindeglieder selbst Zeugen werden, wie er sich auch von dem letzten und schwersten Vorwurf reinigt.«

»Herr, spricht der leibhaftige Satanas aus Ihnen?« gurgelte der Ephorus, der aufgesprungen war, sich halb über den Tisch beugte und mit hervorquellenden Augen schreckensbleich den Justizrat anstarrte. »Woher können Sie wissen? –«

»Echauffieren Sie sich nicht, Hochwürden«, lächelte der Justizrat boshaft. »Um Sie zu beruhigen, beeile ich mich zu sagen, daß meinerseits der Fürst der Hölle nicht im geringsten inkommodiert wurde. Es gehört ja in der Tat wenig Scharfsinn dazu, vorauszusehen, daß ein Gerücht, das, so grundlos es sein mag, trotzdem seit längerer Zeit in Bergheim spukte und die Ehre des Lehrers Reinhardt so empfindlich verletzte, von Herrn Pfarrer Walter mit Vergnügen benützt werden würde. Wollen Sie, Herr Landrat, die Stelle der Anklageschrift vorlesen, welche die Gerüchte über Reinhardts unsittliches Verhältnis mit einer liederlichen Dirne in Schottendorf zur Sprache bringt?«

Der Superintendent hatte alle Haltung verloren, sein Atem ging keuchend, in dicken Tropfen stand ihm der Schweiß auf der Stirn: als wolle er den Ereignissen, die solch unerwartete Wendung nahmen, Einhalt tun, erhob er bald beschwörend die Hände, bald öffnete er den Mund. Doch kam kein Wort über seine Lippen, und auch die Hände mußte er machtlos wieder sinken lassen. Auch die Bauern waren aufgefahren, wie vom Blitz getroffen; sie standen eng zusammen, tauschten leise Bemerkungen, und ihre Blicke irrten ängstlich fragend durch das Zimmer.

Der Landrat las mit unsicherer Stimme. Den Schluß der Beschwerdeschrift bildete wirklich die Darstellung der in Bergheim über Reinhardt umlaufenden Gerüchte.

Erwartungsvoll ruhten aller Augen auf Reinhardt und dem Justizrat: Reinhardt nagte an der Unterlippe, der Justizrat betrachtete aufmerksam seine Finger. Leise, aber vollkommen verständlich begann er endlich: »Ich will alle naheliegenden Betrachtungen unterdrücken: was bleibt mir auch noch zu sagen übrig, nachdem soeben ein schlichter Landmann solch vernichtendes Urteil über dieses Verfahren ausgesprochen? Ja – mir reißt's auch im Hirn und brennt es im Herzen über solch leichtfertigen Frevelmut!«

Tiefe Stille herrschte in dem weiten, hellen Gemach, als der Justizrat tiefatmend schwieg. Golden lachte die Sonne herein, flimmernde Staubkörperchen wirbelten durch die breiten Lichtstreifen, einige vorzeitige Fliegen summten an der Decke, selbst ein Schmetterling gaukelte vor dem Fenster auf und ab. Tiefe Ruhe lag auch draußen auf der sonnenglühenden Straße, nur zuweilen tönte das harmlose Lachen und Jauchzen spielender Kinder herein. Plötzlich hielt ein Reiter vor dem Amtsgebäude, säbelrasselnd sprang er aus dem Sattel, spornklingend schritt er über den Gang draußen, dann wurden mehrmals Türen auf und zu geworfen, auf den Korridoren begann ein hastiges Rennen, Laufen und Flüstern, das ebenso plötzlich endete, wie es begonnen.

Auch der Justizrat hatte, wie alle Anwesenden, einen Augenblick nach dem Lärm draußen gehorcht, jetzt begann er mit voller Stimme: »Ich spreche in dieser letzten Anklage nicht als Rechtsbeistand des Lehrers Reinhardt, sondern nur als sein Entlastungszeuge, da sich, wie ja in der Anklageschrift ausgeführt wurde, jene schmachvollen Gerüchte hauptsächlich auf Reinhardts Verkehr mit mir gründeten. Die Verhandlungen, die ich im Auftrag des Herrn Lehrer Reinhardt leitete, gehören nicht hierher, es genügt vollkommen, wenn ich, der geschworene Rechtsanwalt und Notar Stein, auf Grund meiner Notariatsakten hiermit erkläre: jene Gerüchte, auf die Pfarrer Walter seine Anklage stützte, sind völlig grundlos! Reinhardts Ehre ist so makellos, wie nur die des besten Mannes sein kann!«

Schon nach seinen ersten Worten waren der Berg- und Beckenbauer abwechselnd erblaßt und wieder dunkelrot geworden, mit jedem Wort war ihre Erregung gestiegen und jetzt eben machte sich ihr überwallendes Gefühl gewaltsam Luft. »Mein Gott! – O Herr, mein Gott!« schluchzte der Bergbauer, dem die Tränen über die Wangen rollten, »o Herr Lehrer – nun ist alles gut, nun sind Sie unser für allezeit! Nimmer dürfen Sie uns verlassen, und wer nur mit dem Aug' gegen Sie zuckt, der hat's mit mir zu tun! Ich bin ja freilich nicht wert, daß Sie mich noch angucken: warum hab' ich Ihnen nicht mehr vertraut als Ihren Feinden? Aber, Herr Lehrer, Gott weiß es, wie es in meinem Herzen riß und brannte, als das Gerücht über Ihre Schlechtigkeit immer mehr Schein gewann! und wie Sie nachher so verstört 'rumgingen, o Herr Schulmeister, was ich da ausgestanden – und nicht ich allein! – das ist nicht auszusagen. Gottes Zorn und Verdammnis aber über Ihre Feinde, die so wissentlich auf Ihren Untergang hinarbeiteten! Kommen Sie, Herr Lehrer, wir wollen heim! Wir wollen Abrechnung halten mit dem Hannes und dem Pfarrer, wir wollen aufräumen im Dorf! – O mein Gott im Himmel, nun Sie gereinigt sind, nun ist ja alles gut! – O Herr Lehrer, nehmen Sie's doch nicht ungut, aber sagen Sie mir nur ein einzig's Mal rund und klar, daß Sie mit dem Weibsbild nichts zu schaffen haben!«

»Das will ich Euch sagen, mein guter Alter!« entgegnete der Justizrat, der bewegt dem Bauer die Hand drückte. »Ich habe Euch achten gelernt und ich merke, Ihr liebt Reinhardt auch! Und Ihr dürft ihm vertrauen, auf meine Ehre versichere ich Euch, Reinhardt kennt jene Dirne gar nicht, hat noch nie ein Wort mit ihr gesprochen!«

»Also ist's erlogen, daß der Wagnerspaule sie und den Herrn Lehrer in der Stadt zusammen gesehen?« fragte der Beckenjörg zähneknirschend. »Schändlich! Hört ihr's, Schulz und Veitenbauer? Hört ihr, was eure Leithammel für Früchte sind? Aber verdammt will ich sein, wenn das nicht ihr letzter Streich war – ich schwör's: von heute an ruhe und raste ich nicht, bis ihr Schelmenhäfele aufgedeckt ist. Und Ihr, Kasper, macht, daß Ihr heimkommt, es wird Arbeit für Euch geben. Gott sei Eurem Pfaffen gnädig, kommen diese Streiche aus: ich möcht' nicht in seiner Haut stecken, wird's ruchbar, wie er mit dem Hannes und seinen Konsorten heimlich' Spiel gegen den Lehrer trieb!«

Während dieses Zwischenfalles, der sich viel rascher abspielte, als er erzählt werden kann, rannte der Landrat, hochrot im Gesicht, an den Bartspitzen kauend, hinter dem grünen Tisch auf und ab; so oft er in seine Nähe kam, duckte der Schreiber unwillkürlich hinter seinem Pult zusammen; er war ein Wetterkundiger und wußte, ein Gewitter zog herauf. Der Superintendent saß vollständig hilflos auf seinem Stuhl und folgte mit wachsender Angst dem immer heftiger werdenden Gang des Landrates. Bei der laut hinausgeschrienen Bedrohung des Pfarrers Walter wurde er womöglich noch bleicher, doch schien die wachsende Gefahr auch etwas wie Entschlossenheit in ihm zu wecken. Er machte einen Versuch aufzustehen, blieb aber sitzen und begann: »Herr Landrat, ich weiß in der Tat nicht, bin ich im Kirchen- und Schulamt, oder hat mich das Unglück in eine Bauernkneipe geführt! Solche Zustände muß ich mir allen Ernstes verbitten; ich verlange, daß Sie dafür Sorge tragen, daß die Würde meines Amtes hier besser respektiert werde!«

»So? – verlangen Sie das? – wirklich?« – fiel ihm der Landrat mit voller Lungenkraft ins Wort, indem er sich dicht vor ihm hinstellte und einen Aktenband in voller Wut auf den Tisch schmetterte. »Herr! wo hatten Sie Ihre Gedanken, als Sie auf diese hirnlose Sudelei hin sofort Amtssuspension über den Lehrer Reinhardt verhängten? heute noch geht eine Reklamation an das hohe Staatsministerium ab. Tragen Sie die Folgen Ihres Tuns, ich wasche meine Hände in Unschuld! Und zum besonderen Vergnügen gereicht es mir, Herrn Lehrer Reinhardt von allen Beschuldigungen freizusprechen und ihn in all seine Rechte und Ehren einsetzen zu können. Ein Extrabote wird sofort ein Reskript an Pfarrer Walter besorgen, das als vorläufige Satisfaktion für Herrn Lehrer Reinhardt gelten mag. Pfarrer Walter wird Ihnen, Herr Lehrer, unverzüglich vor dem gesamten Schulvorstand Abbitte leisten und Ehrenerklärung geben, womit die Amtssuspension von selbst in Wegfall kommt!«

Der Justizrat lächelte und wiegte sich vom Absatz auf die Zehen; eben öffnete er den Mund, als eine neue Störung ihn unterbrach und die Sitzung unerwartet beendete.

Schon länger war ein Rennen und Laufen, ein Rufen und Schreien auf den Gängen und im Hof laut geworden; ein Bernerwagen rasselte im vollen Galopp vor das Haus. Plötzlich öffnete sich die Türe, der Justizamtmann steckte den Kopf herein und rief: »Entschuldigen Sie, meine Herren, wenn ich störe – ah, da sind Sie ja, Herr Justizrat, Sie eben suche ich! Unser Termin ist aufgehoben – droben in Bergheim muß rein die Hölle los sein! Eben bekomme ich vom Staatsanwalt eine Depesche: Der Bauer Johannes Metzner, bekannt unter dem Namen Jockenhannes, wurde wegen erhobener Anklage auf Mord, Meineid und ausgezeichneten Betrugs verhaftet. Man fand ihn im erbitterten Kampf mit seinem ehemaligen Freund, dem Wagner Scheeler, den man halbtot aus den Händen des Bauern riß. Besagter Scheeler bestätigte sofort sämtliche Anklagen. Ein Hauptzeuge, der Schuhmacher Simon Fischer, ist verschwunden, ein anderer, der Jakob Brückner, vulgo Uhrmacherle, ein notorisch verkommenes Subjekt, wurde erhängt gefunden, jedoch noch rechtzeitig abgeschnitten und in Sicherheit gebracht. – Eine ganz famose Geschichte, sage ich Ihnen, halb Bergheim kompromittiert.«

»So kommen Sie doch nur herein!« rief der Landrat ärgerlich. »Kommen Sie und berichten Sie ausführlich – sehen Sie nicht, daß sich hier Männer befinden, die die Sache nahe genug angeht?«

»Ah, da sind ja Bergheimer!« nickte der Amtmann und schlüpfte ins Zimmer. »Schlimme Sache, sehr – sehr schlimme Sache! Hm, und nun gar auch noch die Verwicklung mit dem Lehrer Reinhardt!«

»Reinhardts Angelegenheiten sind geordnet,« sagte der Justizrat kurz, »die ganze Anklage hat sich, wie zu erwarten stand, in nichts aufgelöst. Reden Sie – Sehen Sie nicht die Aufregung dieser Männer? – Was hat die Katastrophe so unerwartet herbeigeführt? Was soll das heißen: das ganze Dorf ist kompromittiert?«

»Hm – so, so! Nun, gratuliere Herrn Reinhardt von ganzem Herzen zu dieser Wendung! – Ja, was die Katastrophe in Bergheim betrifft, so wurde sie von einem Sülzdorfer Bauern, Georg Vorndran heißt er, herbeigeführt!«

»Von wem?« rief Reinhardt, dessen Haare sich zu sträuben begannen.

»Georg Vorndran heißt der Bauer, der gestern mitten in der Nacht den Staatsanwalt herauspochte und den Jockenhannes des Mordes und Meineides anklagte – ich entsinne mich, daß der Mann sich dieses Mordes wegen schon einmal in Untersuchungshaft befand. – Er brachte solche gewichtige Beweise bei, daß sich der Staatsanwalt sofort in Person nach Bergheim begab! Die Gerichtsdeputation und Gendarmen fanden das Haus leer; vor einer verschlossenen Tür im obern Stock, aus der ihnen wilder Lärm entgegendrang, fanden sie die Tochter des Bauern ohnmächtig. Da alle Rufe nach Einlaß unbeachtet blieben, wurde die Tür gesprengt. Zwei Männer wälzten sich keuchend am Boden; mit Mühe riß man sie auseinander, der eine, der Wagner, war fast erwürgt. Die Uniformen der Gendarmen brachten den Bauer zur Besinnung mit Riesenkraft schleuderte er seine Häscher von sich, stürzte ins Nebenzimmer und sofort krachte ein Doppelschuß. Den Bauer fand man am Boden liegend, blutend, wimmernd – der Schuß war schlecht gezielt, hatte ihm nur die linke Schulter furchtbar zerschmettert. Der Mann wollte keinen Verband dulden, er tobte und raste gegen seine Fesseln. Endlich wurde er ruhiger. Als er den Wagner gebunden zwischen den Gendarmen erblickte, brach er in ein wildes Lachen aus, rief nach dem Staatsanwalt und begann die umfassendsten Geständnisse abzulegen, die eine Menge der angesehensten Bauern Bergheims auf das ärgste kompromittieren, darunter vor allem den Herrnbauer, Ungersbauer und den Schultheißen. Auch Pfarrer Walter soll in diesen Geständnissen bös' weggekommen sein.«

In ihrer Aufregung hatten die Anwesenden einen heftigen Lärm vor der Türe gänzlich überhört, jetzt sprang diese auf und ein Bureaudiener meldete: »Herr Justizamtmann, wir halten den Kerl nicht länger auf!« Draußen rief eine zornige und doch ängstliche Stimme: »Laßt mich durch, sag' ich! ich muß hinein und sollt' ich euch alle niederschlagen wie Kälber!« Reinhardt war aufgesprungen; doch ehe er zu Worte kam, prasselten plötzlich zwei Bureaudiener und ein Gendarm wie aus der Pistole geschossen weit hin durch die Stube und stürzten fluchend und wetternd fast unter den Tisch, hinter ihnen drein schalt eine zornige Stimme: »Was, ihr erbärmlichen Jammerprinzen? Fast zuschanden habe ich meine Gäule gejagt, um nichts zu versäumen, und ihr wollt mich vor der Tür aufhalten? Oho – zwanzig wie ihr sind mir noch gar nichts!« Zugleich stürmte ein vierschrötiger Bauernbursche herein, dessen leuchtende Augen forschend die Versammlung überflogen.

»Jakob, was führt dich hierher?« riefen der Lehrer und die Bergheimer aus einem Munde.

»Gott sei's gedankt, daß ich Euch endlich finde!« seufzte der Bursche. »Ach, daß sich Gott im Himmel erbarme! Im Herrnhof ist eitel Jammer und Elend. Der Jockenhannes–«

»Weiß schon!« fiel ihm Reinhardt bebend ins Wort. »Weiter – was ist im Herrnhof geschehen?«

»Ihr wißt das Unglück schon? Nun denkt Euch, der Hannes hat angegeben, er, der Schulz, der Herrnbauer und der Ungerskasper hätten im Gemeindewald mit Absicht die Grenze verrückt, um sich das Gemeinde –«

Zwei gellende Schreie unterbrachen den Knecht. Der Ungerskasper war in die Knie gesunken und raufte sich die Haare, der Schultheiß lag in Zuckungen am Boden. Eine unbeschreibliche Verwirrung erfolgte. Während der Justizamtmann, von den Bureaudienern unterstützt, den lallenden Schultheiß aufzurichten versuchte und den Gendarm nach einem Arzt schickte, schlich der Superintendent wankend hinweg. Die drei übrigen Bergheimer drängten fassungslos um den Knecht, der endlich auf das freundliche Zureden des Justizrats in seinem Bericht fortfuhr: »Der Bauer ist wie zerbrochen, redet und deutet nicht; der Schulbauer, der feste Mann, ist ganz außer sich, tobt wider sich selber, und die Weiber – o Herr Lehrer, nun gar erst die Weiber! Nur die Anna hat den Kopf oben behalten. ›Jakob,‹ sagte sie, ›uns kann nur einer helfen, mein Fritz. Spann' an und hole ihn – hier ist ein Brief! Sag' ihm, er solle kommen, seine Anna ruft, und er solle doch ja den Justizrat Stein mitbringen. Jage die Pferde zu Tod, nur bringe bald meinen Fritz und den Justizrat!‹ Hier ist der Brief – und nun eilt, Herr, macht vorwärts, die Not ist groß!«

Zitternd riß Reinhardt den Brief an sich; während er las, beredete sich der Justizrat Stein leise mit dem Justizamtmann, dem Landrat und dem eintretenden Arzt. Da der Anfall des Schultheißen nicht gefährlich war, wurde er auf den Bernerwagen gehoben, auch die übrigen Bauern setzten sich auf und fuhren ab. Reinhardt merkte von dem allen nichts, mit weit geöffneten Augen starrte er noch immer in den Brief.

Der Justizrat legte sanft die Hand auf seine Schulter: »Fassung, Freund! Zusammenraffen, es gibt Arbeit für Sie!« Statt der Antwort reichte ihm Reinhardt den Brief, und der Justizrat las mit Bewegung die wenigen Zeilen:

»Geliebter! Wie so anders stehe ich Dir heute gegenüber als gestern. Glänzend bist Du gerechtfertigt – der arme Robert! Er hatte von Deiner Absetzung gehört, konnte das Unglück nicht mit ansehen und floh zu seinen Eltern: von dort schrieb er an mich, entdeckte mir alles, bat mich, ich solle seinen Brief dem Pfarrer vorlegen, um Dich zu retten, er gehe nach Amerika. O Fritz, wie bin ich so stolz auf Dich, mein Einziger! – Roberts Brief hielt ich natürlich zurück, ich schrieb ihm auch sofort, er solle doch erst einen Brief von Dir erwarten, ehe er einen entscheidenden Schritt wage.

Ach – nun aber das Unglück, das gräßliche Unglück! Unser ganzes Haus ist zerstört, alles wie zerrissen und zerstreut. Wir leben und wissen kaum, daß wir noch leben; wir sind daheim, und doch so gottverlassen, so einsam, so fremd! Selbst der Schulbauer – von dem Vater und uns Frauen gar nicht zu reden – hat den Kopf verloren. Doch nein, ich will nicht lügen – ich bin gefaßt, ruhig und klar. Ich habe solch fürchterliche Nacht durchkämpft, daß mir kein Schrecken mehr etwas anhaben kann. – Und doch! – O Fritz! – Fritz! mein Herz erzittert, ich kann es nicht in Worte fassen, was mich anweht wie Grabesluft – Du mußt mich verstehen! – Gott, Gott! – mein Vater – doch nein, ich kann's nicht in Worte fassen! – Ich glaube an Dich, Fritz, Du bist allein mein Trost, meine Hoffnung! Ich vertraue Dir, Fritz! – O, was hat das Wort heute für einen andern Sinn, als gestern! – Ich glaube an Dich, Fritz! – Und nun eile, eile. Wir alle harren mit Sehnsucht und Schmerzen Deiner! Ist noch Hilfe möglich, liegt sie in Deiner Hand. – Eile, Fritz, eile! Jede Minute mehrt die Angst und die Verzweiflung! – Bringe Justizrat Stein mit – und eile, Fritz, eile; komm, hilf tragen, tröste und richte auf
Deine Anna!«

»Und was stehen Sie noch hier und sehen mich an?« rief der Justizrat rauh, während doch seine Augen feucht glänzten. »Auf, Reinhardt, mein Wagen wartet.«


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