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Zehntes Kapitel

Nach stürmischen Regentagen lachte heute zum erstenmal wieder die Sonne vom wolkenlosen Himmel auf die neu begrünte Erde. Auch die letzten Spuren der Regengüsse hatte der Wind wieder aufgetrunken, nur eine erfrischende, fruchtbare Kühle war geblieben und lockte hinaus in Wald und Feld. Schon lange hatte Fritz seinen Schülern einen Gang durch die Flur versprochen. Kurz entschlossen schrieb er an Pfarrer Walter und bat um die Erlaubnis, die auf heute angesetzten Unterrichtsstunden für Geographie und Naturgeschichte im Freien abhalten zu dürfen. Das Kind, das den Brief an den Pfarrer besorgte, brachte keine Antwort zurück. Fritz nahm das für stillschweigende Genehmigung seines Gesuches, versah sich mit einem guten Vorrat von Baumwachs und Bast, steckte seine Lupe und seinen Taschenkompaß zu sich, die Kinder nahmen ihre Schiefertafeln unter den Arm, und so ging es jubelnd hinaus, an den Ufern des Lindenbaches aufwärts in die Berge hinein.

Der Teich in tief ausgewaschner Schlucht oberhalb des Dorfes gab zuerst Veranlassung zu mancherlei geographischen und naturgeschichtlichen Erörterungen; ein Maulwurf in der Falle, ein verspäteter Maikäfer bot weiteres Unterrichtsmaterial. Die in waldiger Fichtenschlucht unter überhängenden moosigen Felsen hervorsprudelnden Quellen des Lindenbaches führten auf eine Schilderung des großen Wasserkreislaufes, und was gab es erst im Wald selbst zu sehen! Auf der waldfreien Ebene des Lindenberges machten sie halt. Tief zu ihren Füßen lag Bergheim, dem Lauf des Baches folgend, lang hingestreckt. Frei hob sich die Kirche aus den Baummassen, welche das Schloß und die Häuser fast versteckten. Wallende silbergraue Kornfelder, daneben noch tief saftgrüne Weizensaaten umschlossen das Dorf und die Obstgärten. Weiterhin schweifte der Blick hinab in den Werthagrund, der silberglänzende Bach war fast bis zu seinem Ursprung hoch droben im Gebirge zu verfolgen. Wie leuchteten die Augen der Kinder, als ihnen Fritz mit begeisterten Worten die Schönheit ihrer Heimat pries, ihnen so manchen Ort nannte, den sie aus der Geographiestunde schon kannten und nun mit hellem Jubel begrüßten.

Gut verstanden bereits die Kinder das Geheimnis der Magnetnadel; eben gingen die größeren Knaben daran, mit ihrer Hilfe die vier Himmelsgegenden zu bestimmen, als plötzlich Pfarrer Walter aus den seitlichen Büschen trat. Mit stummem Gruß schritt er durch die erschrockenen Kinder zu Fritz, lüftete den Zylinder und sagte: »Herr – was soll das heißen? Wie können Sie wagen, ohne Erlaubnis die Schule zu verlassen?«

»Herr Pfarrer,« sagte Reinhardt, peinlich betroffen, »ich habe schriftlich um Erlaubnis zu diesem Ausflug nachgesucht und glaubte Ihr Schweigen als Gewährung auffassen zu dürfen.«

Der Pfarrer schlug die Augen zu Boden und sagte: »Sie werden mit den Kindern sofort in die Schule zurückkehren und die Versäumnis noch heute durch entsprechende Verlängerung des Unterrichts nachholen.«

Fritz drängte die ihm auf den Lippen schwebende Antwort zurück, kommandierte die Kinder zum Ordnen, und als sie ihn betroffen anschauten, sagte er: »Der Herr Pfarrer wünscht, wir sollen in die Schule zurückkehren. Damit ihr Buben jedoch eure Messer nicht umsonst geschärft habt, kommt Nachmittag nach der Schule zu mir, wir werden dann eine Hecke finden, daran wir das Veredeln der Obstbäume üben können. Achtung, Schritt gehalten, durch das Dorf singt ihr euer Turnlied! – Achtung – marsch!«

»Herr Lehrer!« rief der Pfarrer. Allein das Geräusch vieler Schritte übertönte seine Stimme, und ohne sich nach seinem Vorgesetzten umzublicken, eilte Reinhardt an der Spitze seiner Schülerschar den Berg hinab, mit Gesang durchs Dorf.

Pfarrer Walter kam ihnen auf näheren Wegen zuvor, Fritz traf ihn im Schullokal seiner wartend. Noch während sich die Kinder auf ihre Plätze begaben, begann er: »Wie gesagt, dieser Unfug muß ein Ende nehmen, ich werde es mir zur besonderen Aufgabe machen, die Ordnung in dieser Schule wiederherzustellen.«

»Bemühen Sie sich nicht weiter, Herr Pfarrer, ich habe Sie schon auf dem Berge sehr gut verstanden!« unterbrach ihn Fritz. »Wenn ich dort eine Antwort unterdrückte, geschah es nur, um Erörterungen vor den Kindern zu vermeiden. Die »versäumte« Zeit werde ich sogleich heute pünktlichst nachholen, auch in Zukunft Spaziergänge unterlassen, obgleich die neuere Pädagogik großen Wert auf solche Ausflüge legt, der dadurch gewonnenen unmittelbaren Anschauungen willen.«

Ein Konvolut Papiere aus der Brusttasche ziehend und verächtlich auf den Tisch werfend, fuhr Walter fort: »Hier die von Ihnen eingereichten Lektions- und Stundenpläne zurück! Begreife nicht, wie Sie mir mit solchem Machwerk unter die Augen zu treten wagen können! Theoretische Hirngespinste ohne Berücksichtigung der realen Verhältnisse, abgesehen davon, daß grade das eine, was unsrer Zeit so not tut, fast ganz übergangen ist. Natürlich sind sämtliche Pläne verworfen.«

»Herr Pfarrer, die Lektions- und Stundenpläne sind auf Grund unsres Schulgesetzes entworfen!«

»Gesetz – pah! Sie wissen, Ihre Arbeit ist als untauglich verworfen.«

»Ich werde Berufung beim Kirchen- und Schulamt einlegen.«

»Tun Sie das!« rief Walter. »Soll mir lieb sein, wenn Ihnen von dem Hochehrwürdigsten Herrn Superintendenten die Augen über Ihre – Torheit geöffnet werden. Das Kirchen- und Schulamt hat bereits durch Herrn Superintendent Einsicht in Ihre Arbeiten genommen und mich zur Ablehnung aufgefordert! – Um Störungen im Unterrichtsgang zu vermeiden, habe ich Ihnen selbst Lektions- und Stundenpläne ausgearbeitet; sie werden von heute an in Ihrer Schule in Wirksamkeit treten!«

Fritz überflog die dargereichten Papiere, mit zitternder Hand legte er sie auf den Tisch. »Ist es Ihr Ernst, daß ich danach unterrichten soll?«

»Wie können Sie sich unterstehen? Diese Frage –«

»Sie weisen mich ab? – Gut denn! – ich werde Ihnen neue Pläne vorlegen – Ihre Forderungen und Ordnungen sind ganz unannehmbar!«

»Was ist das? – Sie wagen, sich Ihrer Behörde offen zu widersetzen? – hüten Sie sich! – Um Ihnen jede Ausflucht im voraus abzuschneiden, teile ich Ihnen mit, daß dieses Reglement unter den Augen des Hochehrwürdigsten Herrn Superintendent entstanden ist und in allen Teilen gutgeheißen wurde!«

»Auch das noch? – Aber sei's drum! Dennoch bleibe ich bei meinem Protest! Ich kann die von Ihnen aufgestellten Bestimmungen nicht annehmen; Ihre Ordnungen sind gegen das Gesetz. Die Hälfte sämtlicher Lehrstunden haben Sie dem Religionsunterricht oder ihm allein dienenden Disziplinen zugewiesen; hierbei kann weder ich noch die Schule bestehen. Mein Gewissen verbietet mir, Herr Pfarrer, den Staat, die Eltern und Kinder in ihren Rechten zu verkürzen, die das Gesetz verbürgt. Niemals kann ich mit diesem Stundenplan das gesetzlich bestimmte Lehrziel erreichen. – Sobald als möglich werde ich Ihnen neue kurz und einfach gehaltene Entwürfe vorlegen; die Ihrigen kann ich nicht annehmen!«

»Ihr letztes Wort?« fragte Walter, nur eine Sekunde die Augenlider hebend.

»In Gottes Namen, ja!«

»Ich will nicht antworten, wie Sie es verdienen. Zwei Tage gebe ich Ihnen Bedenkzeit, dann werde ich Entscheidung fordern und – bleiben Sie auf Ihrem Sinn, was ich nicht hoffe! – wenn auch mit schwerem Herzen tun, was Pflicht und Gewissen von mir fordern!«

Fritz verneigte sich schweigend. Staunend blickten die Kinder auf die Streitenden. Solchen Auftritt hatte wohl die Schule noch nicht gesehen. Walter ging mit gesenktem Kopf heftig auf und ab. Ohne seinen Gang zu unterbrechen, sagte er: »Sie haben nicht für nötig befunden, meinen Auftrag, Schulkinder vom Tanzplatz fernzuhalten, zu beachten. Leider geschah, was ich befürchtete, viele Schüler wurden auf diesem Sündenpfuhl gesehen; Sie werden in meiner Gegenwart die Schuldigen exemplarisch bestrafen!«

Reinhardt schoß das Blut ins Gesicht.

»Auf Befehl erteile ich keine körperliche Züchtigung, die Schule ist keine Strafanstalt!«

»Herr – glauben Sie, daß meine Geduld unendlich sei? – Erfüllen Sie Ihre Pflicht!«

»Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer! Ich bin sehr vorsichtig in der Erteilung von körperlicher Züchtigung, auch ist mir noch sehr gut in Erinnerung, wie Sie vor vier Wochen die Mutter des Kasper Scheler unterstützten, als sie wegen einer Züchtigung, die ich notgedrungen über ihren boshaften Schlingel verhängte, Klage bei Ihnen führte. Jene Demütigung, die Sie mir bereiteten, soll mir eine Warnung sein! – Züchtigen Sie selbst, wenn Sie es für durchaus notwendig halten! Wollen Sie jedoch die Sünder bloß zum Nachsitzen verurteilen, bin ich gern bereit, sie durch Strafarbeiten zu beschäftigen und während der Strafzeit zu beaufsichtigen – mehr kann ich nicht tun!«

Walter rannte wieder auf und ab, plötzlich ergriff er seinen Hut, sagte mit zuckenden Lippen: »Gut! Lassen Sie die Schuldigen eine Stunde nachsitzen und ein Gesangbuchlied auswendig lernen. Mögen Sie diesen Tag nie bereuen! Adieu!«

Fritz war allein. An eine Fortsetzung des Unterrichts war nicht zu denken, seine Erregung und Bestürzung, sein Zorn war allzu groß. Was hatte er sich bieten lassen müssen! Dort lagen seine Hefte, die Früchte jahrelanger Arbeit – dort lagen sie, vernichtet, mehr noch: verhöhnt! – Und was nun? – Fritz atmete tief auf. Einen Entschluß hatte er gefaßt, verhängnisvoll, ungewiß im Ausgang, allein ihm blieb nur die Wahl: entweder dies – oder Unterwerfung!

Längst war die Schulzeit vorüber; Fritz verschob den angekündigten Spaziergang, entließ seine Kinder, bezeichnete den Arrestanten ein Lied zum Auswendiglernen, und während sie abwechselnd heulend und leise murmelnd die Strophen ihrem Gedächtnis einzuprägen suchten, verfaßte Fritz ein Schreiben an das Staatsministerium. Nach einfachem Bericht über die heutigen Vorgänge bat er um Prüfung der eignen, vom Pfarrer verworfenen Pläne und begründete kurz, warum er die – ebenfalls beigeschlossenen – Entwürfe des Lokalschulinspektors nicht annehmen könne und bat um baldige Entscheidung. Eben siegelte er den Brief, als der Postbote eintraf. Mit klopfendem Herzen sah Fritz dem Mann nach – er trug sein Schicksal in der schwarzen Ledertasche.

Ein trauriger Nachmittag folgte diesen Aufregungen; Stunde um Stunde legte neue Lasten von Sorgen und Zweifeln auf seine Seele. Keine Arbeit erfreute, selbst die Musik erheiterte ihn nicht. Endlos dehnte sich der Tag, dennoch wurde ihm die kurze Sommernacht, die er schlaflos verbrachte, noch länger.

Gleich bei seinem Eintritt in die Schule empfand er die Wirkungen der gestrigen Vorgänge. Der Gruß der Kinder war nicht so offen und freudig als sonst, die Söhne mehrerer besonders eifriger Anhänger des Pfarrers hielten es kaum der Mühe wert, von ihren Plätzen aufzustehen. Auch die Aufgaben waren liederlich gearbeitet, die Aufmerksamkeit gering, vor allem befleißigte sich der böse Geist der Schule, der schon genannte Kasper Scheler, einer demonstrativen Rüpelhaftigkeit, und sein Beispiel wirkte ansteckend. Da alle Bitten, Ermahnungen, Drohungen wirkungslos abglitten, steckte Fritz den Störenfried vor die Tür und verkündigte ihm, daß er nach Schluß der Schule eine Stunde nachsitzen werde. Damit war die Ordnung hergestellt. Als Fritz nach einer Viertelstunde den Missetäter in das Klassenzimmer zurückrief, betrug er sich musterhaft.

So gern er gewollt hätte, das Nachsitzen glaubte Fritz dem Sünder doch nicht erlassen zu dürfen. Ein lautes Heulen, das die Dorfgasse herunterkam, erregte seine Aufmerksamkeit. Das Heulen kam naher, die Schultür wurde aufgerissen und des Knaben Mutter, die Schelerschristel, stürzte heulend und schimpfend herein. Fluchend stürmte sie auf Fritz ein: wie er wagen könne, ihren Jungen, weil er arm sei, also zu mißhandeln! Aber sie wolle ihm das Handwerk legen, gleich laufe sie zum Pfarrer, der werde wohl mit ihm fertig werden. Und sie lasse ihren Kasper ein für allemal nicht mehr brummen, jetzt im Augenblick müsse er mit ihr nach Haus! – Fritz war vor Überraschung sprachlos; er sprang auf und verlangte, sie solle sofort das Zimmer verlassen, oder er mache Gebrauch von seinem Hausrecht. Eine Flut der gemeinsten Flüche und Schimpfreden war die Antwort. Fritz schwoll die Stirnader, ohne Entgegnung faßte er die Widerstrebende und führte sie aus der Tür. Mit Gewalt jedoch drang das Weibsbild abermals in das Schullokal, unter wilden Verwünschungen und Bedrohen des Lehrers riß sie Kasper aus der Bank. Als sie trotzdem noch immer fortlärmte, gab Reinhardt dem Knaben einen Wink sich zu entfernen, den der Schlingel eilfertig befolgte, dann aber packte er die Wütende am Arm und schob sie zur Haustüre hinaus, die er hinter ihr verschloß. In sinnloser Wut schmähte die Schelerschristel auf dem Heimweg den Lehrer, wohl alle drei Schritte kehrte sie sich um und hob drohend die Faust gegen die Schule.

Fritz zitterte vor Zorn und Erregung, lange konnte er sich nicht fassen. Als er sich notdürftig gesammelt, begann er einen Bericht des Vorfalls an die Lokalschulinspektion, verlangte Schutz vor ähnlichen Roheiten und exemplarische Bestrafung der Scheler. Kaum war das Schreiben vollendet, als ihm die Pfarrmagd den schriftlichen Befehl des Pfarrers überbrachte, sogleich vor der Lokalschulinspektion zu erscheinen. Fritz knirschte!

In der Studierstube des Geistlichen traf er wirklich die heulende Schelerschristel. Sie wollte auffahren, Walter winkte ihr, zu schweigen. Ehe er jedoch selbst die Verhandlung beginnen konnte, überreichte ihm Fritz den Bericht und sagte: »Ich bitte, Herr Pfarrer, das sogleich zu lesen.« Walter öffnete zögernd das Papier, überlief es rasch, faltete es zusammen und warf es auf den mit Büchern und Schriften bedeckten Tisch inmitten der Stube.

»Ich muß mich in der Tat sehr über Sie wundern, Herr Lokalschulinspektor!« sagte Fritz, dessen Augen blitzten, indem er hoch aufgerichtet einen Schritt naher trat. »Sie scheinen wirklich zu vergessen, daß Sie zwar mein Vorgesetzter, nicht aber mein Herr sind! Ich bestehe auf meinem schriftlich eingereichten Strafantrag und verlange von Ihnen, daß Sie unverzüglich die nötigen Verhandlungen mit dem Schulamt einleiten. – Haben Sie mir sonst etwas mitzuteilen?«

»Nein!«

»Erlauben Sie mir nur noch ein Wort zu dieser!« sagte Fritz, und sich zur sehr erschrocken dreinsehenden Scheler wendend, fuhr er fort: »Merken Sie auf, Scheler! Sie haben mich in meiner Wohnung gröblich beschimpft, sogar tätlich bedroht; Sie haben meiner Aufforderung, das Haus zu verlassen, nicht Folge gegeben, ja, Sie sind, als ich Sie aus dem Zimmer entfernte, gewaltsam wieder in dasselbe eingedrungen: das ist Hausfriedensbruch! Lassen Sie sich vom Herrn Pfarrer sagen, welche Strafe auf Hausfriedensbruch gesetzt ist! Und nun geben Sie acht: wenn Sie binnen einer halben Stunde mir in meiner Wohnung vor Zeugen nicht Abbitte geleistet haben, so geht noch heute eine Klage gegen Sie auf Hausfriedensbruch an das Justizamt ab. Natürlich steht diese zweite Klage mit der hier beim Herrn Pfarrer niedergelegten in gar keiner Verbindung. Haben Sie mich verstanden?« Mit stummem Gruß verließ er das Zimmer.

Bald kam die Schelerschristel – allerdings viel langsamer als vorhin – das Dorf herab. Eben gingen der Lichtennikele, der Beckenjörg und der Schreinerspaule vorüber, Fritz bat sie, einen Augenblick einzutreten, seiner Verhandlung mit der Scheler als Zeugen anzuwohnen. Groß war das Staunen der Männer, als gleich danach die im Dorf wegen ihrer Wildheit gefürchtete Scheler, von der man wußte, daß sie eben erst den Lehrer beim Pfarrer verklagt hatte, scheu und demütig in die Stube schlich, weinend dem Lehrer die Hand bot und wehmütig um Verzeihung bat. »Gut, Scheler!« sagte Fritz. »Nachdem Ihr gezeigt, daß Ihr Euer Unrecht einseht, soll es auch meinerseits vergessen sein. Wie ich Euch versprochen habe, unterbleibt nun die Klage wegen Hausfriedensbruch. – So, nun geht und überlegt künftig besser, was Ihr tut!«

Allein die Scheler mußte noch etwas auf dem Herzen haben. Zögernd brachte sie Reinhardts Schreiben unter der Schürze hervor und sagte: »Der Herr Pfarrer meinte, wenn ich Euch um Verzeihung bitte, sei Euch genug getan, und Ihr solltet auch das zurücknehmen!«

Einen Augenblick sann Reinhardt nach, dann sagte er lebhaft: »Nein, Scheler, das kann ich nicht! Was Ihr mir, dem Fritz Reinhardt, angetan, das habe ich verziehen, die Beleidigung, die Ihr dem Lehrer Reinhardt zugefügt, die muß bestraft werden. Ich will Euch sagen, Scheler, was Euch den Kopf verdrehte. Ihr hörtet gestern von Eurem Kasper, daß sich der Herr Pfarrer in der Schule mit mir gezankt. Nun meinet Ihr, mit mir sei es aus, und Ihr könntet mit mir umspringen, wie es Euch beliebt. – Entgegnet nichts, ich weiß, es ist so; ich weiß auch, es denken noch mehr wie Ihr. Aber das war falsch gerechnet, Ihr werdet es bald bitter spüren. So – geht jetzt, tragt das Schreiben wieder zum Herrn Pfarrer und sagt ihm: ich bestände auf meinem Strafantrag!«

Laut weinend rang die Scheler die Hände: »Herr Schulmeister, seid barmherzig!« rief sie. »Denkt an meine Armut! Vor Gott und nach Gott bitt' ich Euch, bringt mich nicht ins Elend!«

»Ihr tut mir leid, Scheler, aber helfen kann ich nicht!« sagte Fritz, gewaltsam sein Gefühl bezwingend. »Ihr wißt nicht, was Ihr getan habt! Alle Zucht und Ordnung in der Schule habt Ihr über den Haufen geworfen, da Ihr Euren Kasper mit Gewalt aus der Schule risset. Ihr dauert mich herzlich, Christel, aber der Schule muß ihr Recht werden, darum tragt nur sogleich mein Schreiben zum Herrn Pfarrer zurück und sagt ihm, ich bestände auf meinem Strafantrag. – So, geht jetzt, Christel, wir haben nichts mehr zu verhandeln!«

Die Männer machten große Augen; der Beckenbauer und der Schreinerspaule waren offenbar in Verlegenheit – waren sie wirklich bloß Zeugen, oder wollte der Lehrer zugleich ihnen eine Lehre geben? Fritz ahnte, was in ihnen vorging, und konnte sich eines leisen Lächelns nicht enthalten, als sie um vieles höflicher als beim Eintritt das Zimmer verließen. Der Lichtennikele allein blieb unbefangen, drückte ihm herzhaft die Hand und sagte: »So ist's gut! drückt nur herzhaft durch, da wird das Geschwätz im Dorf gleich ein Ende haben. Und der Christel ist's nur gesund, wird ihr einmal gezeigt, daß sie unrechtes Heu 'runtergeworfen hat. Das ist gar ein meisterloses Weibsbild, fragt weder nach Gott, noch nach dem Teufel! Habt's recht gemacht, muß Euch loben! – Ja, und was habt Ihr doch mit Eurer Schokelohr bei meiner Alten und den Kindern gestern für eine Herrlichkeit angerichtet – o lieber Gott, Herr Schulmeister, so was kommt ja im ewigen Leben nicht an unsereins! – Habt meine gute Alte recht erquickt! Alle Tage reden wir von Euch, Herr Schulmeister! – Kommt ja bald einmal wieder zu uns!«

Am nächsten Morgen betrat Fritz mit Herzklopfen seine Schule; er wußte, daß ihn Walter dort bereits erwartete, um vor den Kindern seine Demütigung zu vollenden. Ein heftiger Zorn quoll in ihm auf, doch nur einen Augenblick behielt die Leidenschaft in ihm die Übermacht. – Schon um seiner Kinder willen durfte er sich nicht fortreißen lassen, es galt, sich mit Ruhe und Geduld wappnen!

Langsam trat er in das Lehrzimmer, mit kalter Höflichkeit begrüßte er den Pfarrer, der mit leichtem Kopfnicken dankte, ohne von den Aufsatzbüchern der Schüler, die er prüfte, aufzublicken. Ohne sich nun seinerseits weiter um den Besucher zu kümmern, ließ Fritz einen Gesangbuchvers singen, das Morgengebet sprechen und wollte den Unterricht beginnen, als Walter sagte: »Bestehen Sie noch immer auf Bestrafung der Scheler?«

»Gewiß! – Das Interesse der Schule erfordert, daß diese eigenmächtige Durchbrechung der Schulordnung bestraft wird. Haben Sie sonst einen Auftrag für mich?«

Walter biß sich die Lippen. »Ich richte nochmals die Frage an Sie: Wollen Sie sich meinen Anordnungen in allen Stücken unweigerlich fügen, von heute an meine Pläne Ihrem Unterricht zugrunde legen?«

Reinhardt atmete tief, sein Herz schlug fast hörbar. Langsam sagte er: »Sie stellen eine Doppelfrage, Herr Pfarrer. Auf den ersten Teil entgegne ich: ja, soweit sie sich mit den bestehenden Gesetzen und mit meiner Ehre vereinbaren lassen; für Ihre zweite Frage habe ich, wie schon vorgestern, nur ein ›Nein!‹«

Eine jähe Röte schoß in Walters Gesicht, die ebenso schnell einer tiefen Blässe wich. Einen Augenblick standen sich die Gegner schweigend gegenüber. Auch die Kinder waren bleich geworden und wagten kaum zu atmen; eine beängstigende Stille lag auf dem menschenvollen Raum. Mit Gewalt sich bezwingend, schlug Walter die Augen zu Boden und faltete die Hände auf der Brust. »Ihr letztes Wort?«

»Mein letztes!«

Ein blitzgleicher Augenaufschlag, dann eilte der Pfarrer wortlos nach der Schultüre, an welcher der Stundenplan angeschlagen war. Reinhardt erriet seine Absicht, leise sagte er: »Halten Sie ein, Herr Pfarrer! Da ich nach Ihren eignen Worten bei der Ephorie auf eine Berücksichtigung meiner Beschwerden nicht rechnen durfte, wendete ich mich an Hohes Staatsministerium. Sämtliche Entwürfe – auch die Ihrigen – habe ich der hohen Behörde zur Begutachtung eingesendet – warten Sie, ehe Sie weitere Schritte unternehmen, die Entscheidung ab!«

Walter hatte eben die Hand nach dem Stundenplan ausgestreckt, langsam ließ er sie sinken, neigte den Kopf auf die Brust, dann verließ er plötzlich ohne Gruß, ohne sich noch einmal nach dem Lehrer oder den Kindern umzukehren, hastig die Schule.

– – – Etwa acht Tage nach der letzten Scene schickte Pfarrer Walter Reinhardts Entwürfe und Stundenpläne – genehmigt – zurück. Beigelegt war ein Schreiben des Schulamtes, welches dem Lehrer Reinhardt mitteilte, daß die Christiane Scheler auf seine Klage zu vier Tagen Gefängnis verurteilt sei. Seufzend befestigte Fritz den Stundenplan mit des Pfarrers Unterschrift an der Schultüre.


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