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Sechstes Kapitel

In der Kirche traf Fritz einen jungen Mann. Er stellte sich als Kollege Schulz von Sülzdorf vor, hatte Fritz vergeblich im Schulhaus gesucht und nun in der Kirche erwartet. Fritz sah in ein gutmütiges, ehrliches Gesicht; es war weder besonders schön, noch verriet es viel Geist; die schlaffen Muskeln, der müde, schläfrige Blick der kleinen Augen ließ es ganz eigentümlich alt erscheinen, aber ein gewisser aufrichtiger, treuherziger Zug mutete Fritz an. Das Orgelspiel war eine gute Gelegenheit, ein freundnachbarliches Verhältnis einzuleiten; Roberts Augen leuchteten, als ihn Fritz zum Spiel einlud und ihm zugleich für alle Zukunft seine Orgel zur freien Verfügung stellte.

Er setzte sich seitlich von der Orgel in einen Winkel, von wo aus er die Schuljugend überwachen, ins Freie blicken und ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte.

Hinter ihm in der Orgel klapperte der Mechanismus, die Töne rollten wirr und kraus durcheinander, die tiefen Baßtöne machten die Bretterwände des Instruments erzittern. Die Buben neben ihm, die sonst der versteckte Winkel hinter der Orgel zu allerlei Mutwillen verlockte, blickten eifrig in die Gesangbücher und sangen laut, die wenigen alten Männer, die sich in den weiten Emporen fast verloren, machten sich's bequem und schliefen ein, draußen lag heißer, blendender Sonnenschein auf Dorf und Flur, Männer gingen einzeln oder paarweise behaglich plaudernd an der Kirche vorüber, und ein Spatz saß schläfrig in einem schattigen Mauerloch des Kirchenfensters.

Die Buben schlugen die Gesangbücher zu, die Orgel wurde schwächer, noch eine Weile zitterte ein tiefer Baßton nach, dann schwieg sie ganz. Die Männer erwachten, rieben sich die Augen, blickten nach dem Pfarrer und schliefen wieder ein. – Fritz hing seinen Gedanken nach.

Die wechselvollen Erlebnisse dieses Tages zogen noch einmal an seinem Geist vorüber. Dreimal war ihm heute der Vorwurf geworden, er verachte die Bauern. Das gab ihm zu denken, heute zum erstenmal kam ihm die Frage, ob er dem Landvolk nicht unrecht getan habe.

Die Mahnung des Lichtennikele machte ihn zwar lächeln, er trachtete ja nicht nach äußerlichen Vorteilen, sondern nur nach zusagendem Umgang, nach einem voll befriedigenden Wirkungskreis. Aber daß dieser arme, bedrückte Mann solche Mahnung an ihn richten konnte, das machte ihm zu schaffen. Und nun noch diese heitere Ruhe des Gemütes, diese Teilnahme für andere trotz allen Elends, dieses Vertrauen auf das Gute im Menschen trotz aller bitteren Erfahrungen! Den Schulbauer kannte er nicht; aber hatte schon seine Ruhe, Klarheit und Bestimmtheit ihn angemutet – die Tat, die der Lichtennikele von ihm berichtete, hatte ihm sein ganzes Herz zugewendet. Hatte ihn das Gespräch mit dem Beckenkarl nicht in ein eigenartiges, selbständiges Denken Einblick gegeben? Und welch ein Reichtum des Gemüts hatte sich ihm in Anna enthüllt? Fritz seufzte unwillkürlich, und doch wehte es durch sein Herz wie die Ahnung eines unsagbaren Glückes. Und er gedachte des Sträußchens daheim, das bescheiden in der dunkeln Ecke duftete. – –

Voller Orgelklang riß ihn aus seinem Sinnen und Träumen. Wie um sich auch äußerlich von seinen Gedanken zu befreien, sprang er auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Jetzt erst empfand er die drückende Schwüle in dem geschlossenen Raum. Die wenigen Männer erwachten nun auch wieder, schlichen gähnend die Treppen hinab. Fritz erwartete vor der Kirchentür den Kollegen. In der Schule hieß er ihn herzlich willkommen. Die Haushälterin hatte den Nachmittagskaffee in der Laube vor dem Haus schon bereitgestellt, dahin begaben sich denn auch die beiden Lehrer. Fritz trug die Tabaksschachtel und zwei lange Pfeifen in der Hand. Die Laube war wohl noch licht, gab aber doch genügenden Schatten. War ein lauschiges Plätzchen, diese Laube im Lehrergarten! Ziemlich hoch über der Straße gelegen, vollkommen geschützt gegen neugierige Augen und Ohren, gab sie nach einer Seite Ausblick über grünende Baumgärten, nach der anderen ließ sie die Dorfstraße weithin übersehen, und zunächst lag der freundliche Lehrergarten mit seinen Krokus-, Aurikel-, Narzissen- und Jelängerjelieberblüten. Auf der Straße war es still, nur die Hühner gingen suchend auf und ab, und ein paar Gänse watschelten nach dem Bach herab. An der Schattenseite des Hauses saßen nähende, strickende Frauen und Mädchen, nur die alten Mütterchen gingen der Sonne nach und hüteten vom Bauholz an der Straße aus die Enkel. Drüben über dem Weg rauschte eine starke Quelle, und um die Blüten summten auch hier die Bienen.

»Ein rechter Feiertag heute!« sagte Fritz tief atmend. »So, nun langen Sie zu, dort habe ich Ihnen auch eine Pfeife bereitgestellt. Sie rauchen doch? So,« sagte er, als die Pfeifen brannten, und lehnte sich behaglich zurück, »und nun erzählen Sie. Wie gefällt es Ihnen in Sülzdorf?«

»Mir würde es auch an schlechterem Ort, als Sülzdorf ist, gefallen!« lachte Robert. »Aber ich fühle mich schon ganz heimisch. Scheinen gute Leute zu sein, die Sülzdorfer; kamen mir sehr freundlich entgegen, bin auch mit einigen schon recht vertraut.«

»Kennen Sie den Bauer Vordran, den Schulbauer?«

Robert entgegnete etwas hastig: »Den Schulbauer? Ja, gesehen und gesprochen habe ich ihn, aber das ist nicht mein Mann! Ist mir zu ernst, zu altklug. Nein, den mag ich nicht!«

»Nun, vielleicht ändern Sie Ihre Ansicht. In der Umgegend gilt wenigstens der Schulbauer für einen der charaktervollsten Männer.«

Robert murmelte etwas zur Entgegnung, das Knarren der Gartentür unterbrach ihn. Kaum hatte Fritz einen Blick durch die Zweige geworfen, als er aufsprang und zornig brummte: »Wahrhaftig schon wieder! Ist das Mädchen verrückt?«

Durch den schmalen Gang tänzelte ein stattliches, halb bäurisch, halb städtisch gekleidetes Mädchen daher. Während des Gehens nahm sie ein Tuch ab, das sie zum Schutz gegen die Sonne über den Kopf geworfen hatte; wie absichtslos strich sie über das Schürzchen, daß die schwere Seide rauschte und knitterte. Robert saß in seiner Ecke und blickte starr, mit weit aufgerissenem Munde auf das Mädchen, deren Augen mit dem Stumpfnäschen an Keckheit wetteiferten und deren rote, übermütig lachende Lippen die weißesten, glänzendsten Zähne zeigten. Der Sand knirschte und die zierlichen Schuhe knarrten, als sie mit einer leichten Wendung durch die schmale Laubentüre hereinkam. Ohne die mindeste Verlegenheit zu zeigen, gab sie den Anwesenden die Hand und sagte: »Guten Tag, Herr Lehrer! Guten Tag! – ei, das ist ja gar der neue Sülzdorfer Herr Lehrer! Das trifft sich ja schön, daß man Sie auch bald kennenlernt. Ist recht, daß Sie Bergheim aufsuchen, da werden Sie gewiß immer Gesellschaft finden. Bei uns ist es ganz anders als in Sülzdorf und auch in Schottendorf. Ei ja, ich meine, bei uns muß es jedem gefallen, die Leute sind nicht mehr so gar dumm und stöckisch als anderswo. Ei ja – Sie werden gewiß bald bei uns daheim sein, und wir wollen auch noch manche lustige Stunde zusammen verleben. Ich bin die Jockenline, mit meinem ordentlichen Namen heiße ich Karoline Metzner, Herr Lehrer, daß Sie mich doch zu nennen wissen, Ihren Namen kenne ich schon!«

Jetzt wandte sich Line an Fritz: »Herr Lehrer, ich bitte sehr um Entschuldigung. Hätte ich denken können, daß ich störe, wäre ich nicht um die Welt gekommen. Sehen Sie, mein Vater brachte mir vorgestern neue Stücke für Geige und Klavier aus der Stadt mit, und da Sie sich gar so selten bei uns machen, meinte mein Vater, ich sollte zu Ihnen und Sie bitten, daß Sie die Stücke einmal mit mir durchspielten und mir sagten, wie sie gegeigt werden müßten – es sind gar arg schwere dabei! Er meinte, Sie würden es gewiß nicht übelnehmen, daß ich Sie heute plage, Sie wüßten ja auch, daß unsereins am Alltag nicht Zeit für solche Sachen hätte!«

Fritz bat Lina, einstweilen Platz zu nehmen, weiter kam er nicht, denn Robert rief eben: »Was? Habe ich auch recht verstanden, Fräulein Lina? Sie spielen Violine?«

Lina ward rot und verbarg kichernd das Gesicht halb in ihrem Kopftuch. Robert sah allzu komisch aus in seiner Überraschung und Begeisterung. Mit den Fingern schnalzend – bei jedem Schnalzer machte er einen kleinen Hopser auf der Bank – rief er: »Herrlich! göttlich! Nein, das ist unbeschreiblich! Sie, Fräulein Lina, spielen Violine? Herrgott von Bentheim! – Nein, so was ist ganz unerhört! Aber bitte, Fräulein Lina, erlauben Sie mir, daß ich Sie begleite – bitte, machen Sie mich glücklich!«

Lina ward wirklich verlegen. Wohl fühlte sie sich geschmeichelt, aber sie ärgerte sich über dieses ungestüme Zudrängen. Ihr Unmut wurde noch größer, als auch Fritz, statt sich ihrer anzunehmen, Robert das Wort redete. Verdrießlich warf sie die schwellenden Lippen auf, spielte mit ihrem Tuch, schlug schüchtern die Augen nieder und meinte zögernd: »Ihr Vorschlag ist mir eine große Ehre, aber – ich weiß nicht, wir sind doch noch ganz unbekannt, – und – und – Sie würden sich auch nur lustig über mich machen, wenn Sie sehen, daß ich nichts kann!«

Dagegen protestierte Fritz, und sein aufrichtiges Lob versöhnte Lina etwas; wenn auch ungern, gab sie ihre Einwilligung, daß Robert sie begleite, und dieser war überglücklich.

Man ging ins Haus; Fritz ärgerte sich über das heimliche Lächeln seiner Haushälterin – also die wußte auch schon! Lina war lang' nicht mehr so zuversichtlich als im Freien. Herzlich begrüßte sie die Haushälterin und ließ sich in ein Gespräch über häusliche Dinge mit ihr ein. Mit sichtlicher Unlust gab sie endlich Roberts Drängen nach und griff zur Geige. Ihr Spiel war wirklich befangen, erst auf das Zureden Reinhardts wurde sie ruhiger. Fritz ging unmutig auf und ab; was gab das nun wieder für Gerede? Wohin sollte diese Musikspielerei führen?

Aber Robert! Die Nähe des schönen Mädchens, ihr Spiel wirkte auf ihn wie ein feuriger Wein. Längst schon konnte er nicht mehr ruhig sitzen, nach besonders gelungenen Stellen brach er mitten im Spiel ab, um schnalzend und hopsend Lina Komplimente zu machen. Zuletzt wurde Roberts Tollheit selbst Lina zu stark, halb schmollend, halb belustigt legte sie die Geige weg und sagte: »Nein, Herr Lehrer, das ist kein Spielen mehr! Wenn Sie solch tolles Zeug treiben, wie soll ich nachher Takt halten? – 's ist auch genug für heute? Ich danke Ihnen, Herr Lehrer, daß Sie so Geduld mit mir gehabt haben, muß eben sehen, wie ich's wieder gleichmache.«

»Gleichmachen?« schrie Robert und hopste und schnalzte. »Reden Sie doch nicht so, Fräulein Lina! – Das war mir ein ungeheures Vergnügen! Und ich hoffe auch, daß ich noch recht oft das Glück haben werde, mit Ihnen zu spielen!«

Lina kramte in ihren Noten und antwortete nicht; heimlich schielte sie nach Fritz, ob er nicht das Glück für sich beanspruchen würde. Schmollend warf sie die Lippen auf und den Kopf zurück, der Griff in ihre rauschenden Papiere schien zu sagen: Wart' nur, dich bezwing' ich doch noch! »Ich habe so oft schon gebeten, Sie sollten mir auch einmal etwas auf der Geige vorspielen, Herr Reinhardt, heute lasse ich mich nicht wieder abweisen. Bitte, Herr Lehrer, tun Sie mir den Gefallen.«

Da auch Robert drängte, gab Fritz nach. Robert erwies sich als notenfester Spieler, nach flüchtiger Durchsicht erklärte er mit der Begleitung fertig zu werden. Wie liebkosend strich Fritz über seine Violine, dann begann er eine Sonate von Beethoven. Robert hielt aus, das begeisterte Spiel Reinhardts riß ihn mit fort; mit klopfendem Herzen und glühenden Wangen schlossen sie.

Lina saß still auf dem Sofa, sie hatte den Kopf in die Hand gelegt und kein Auge von Fritz verwendet. Leise begann sie: »Das ist ein Spiel! Du lieber Gott! man schämt sich, nun noch eine Geige in die Hand zu nehmen. Und das Stück! Das ist eine wunderseltsame Musik, aber sie geht einem durch und durch! So was möchte ich wohl öfter hören. – Meine Tänzle da, die mag ich schon gar nimmer angucken!«

Fritz sagte lächelnd: »Solches Lob verdienen wir nicht, höchstens mein Herr Kollege, der wirklich gut spielt! Ja, herrliche Musik ist das wohl, aber die Tänze dürfen Sie deswegen nicht verachten. – Was sollte heute abend werden, wenn's keine Tänze gäbe?«

»Ei, Herr Lehrer,« entgegnete Lina munter, »ich tanze wohl gerne, das leugne ich nicht, aber so arg bin ich doch nicht darauf versessen. Es kommt alles darauf an, was man für Tänzer hat!«

»Das ist richtig!« fiel Robert schnalzend ein, »Herrgott von Bentheim, wenn die Rechten zusammenkommen – das ist 'ne Lust!«

»Sie müssen's schon oft erfahren haben, weil Sie's so grausam genau wissen!« kicherte Lina und verbarg die schelmischen Augen halb hinter ihrem Tuch.

Fritz mußte herzlich über Roberts Verlegenheit lachen; gutmütig meinte er: »Ich wollt's ihm wenigstens gönnen, daß ihm dies Glück recht bald und noch recht oft zuteil wird – meinst du nicht auch, Lina?«

Lina antwortete nicht, biß die Lippen zusammen und rollte das Schürzenband um den Finger. Plötzlich sprang sie auf und tat erschrocken, daß sie ganz das heimgehen vergessen habe. »Und kommen die Herren auch auf den Tanzboden?« fragte sie unter der Türe. »Es wäre schön, wenn die Herren einmal zeigten, daß sie die Bauern nicht gänzlich verachten. Wir Bauernmädchen sind ja freilich nicht so fein und nicht so gebildet wie die Stadtfräulein, aber es ist doch ein Unterschied zu machen unter uns, wir sind auch nicht bloß Strohköpfe und Misttrampeln, für die man uns verschreit. Nichts für ungut und auf Wiedersehn heut' abend!«

Fort war sie. Fritz schüttelte den Kopf und brummte im Auf- und Abgehen: »Das war deutlich geredet! Ein verwettertes Mädchen, die Lina!« Robert stand am Fenster, schaute Lina nach und rieb sich die Hände. Plötzlich wendete er sich nach Fritz um, hüpfte, schnalzte mit den Fingern und rief: »Ist das ein Mädchen – Nein, ein Mädchen! Herr Kollege, ein Blitzmädchen! sage ich, auf Ehre, ein Blitzmädchen! – Aber ich bitte, Herr Kollege! Wie kann man einem solchen Mädchen gegenüber gleichgültig bleiben? – Bedenken Sie doch, diese Augen, diese Lippen, diese Zähne – –«

»Herr Kollege, ich warne Sie. Die Jockenline ist reich, viel umworben – und achtzehn Jahre alt. Sie denkt ernst ans Heiraten. Nun ermessen Sie, in welche Aufregung und Sorgen Sie gestürzt würden, wollten Sie sich dem Mädchen wirklich nähern. Seien Sie vernünftig!«

»Ach, ich durchschaue Sie ganz und gar! Sie wollen nur selbst freie Bahn haben.«

»Torheit! Ich denke nicht an das Heiraten, überhaupt mag ich kein Bauernmädchen zur Frau. – Genug! Ich tat meine Schuldigkeit und habe Sie gewarnt, das weitere ist Ihre Sache. Reden wir von etwas anderem.«

»Noch eine Frage: Gehen Sie mit auf den Tanzboden?«

»Leider!« entgegnete Fritz und bat seine Haushälterin um Abendbrot für sich und Robert.


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