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Achtes Kapitel

Auf dem halbdunkeln Hausflur legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter, und eine verschwommene Stimme sagte: »Ei, ei – sieh da, unser Herr Lehrer hat sein Einsiedlerleben endlich auch satt 'kriegt und macht sich unter die Menschen! – Na, freut mich, daß Sie endlich zur Einsicht kommen! – Getanzt? – Ei, so frag' auch, das versteht sich doch! – Und Sie wollen schon heim? – Nein, nein, daraus wird nichts, heute lasse ich Sie nicht los. – Ist 'ne lustige Gesellschaft beisammen, zwar auch an Brummochsen fehlt's nicht, aber die sollen uns nicht stören. Kommen Sie mit, Herr Lehrer, sind mein Gast heut'! Es wird Ihnen gewiß bei uns gefallen!«

Fritz fuhr erschrocken zurück – es war der Jockenhannes, der ihm die Hand auf die Schulter legte.

Breitspurig stand die gewaltige Gestalt vor ihm. Fritz war nicht klein, aber Hannes überragte ihn noch um halbe Kopfeslänge; der Größe entsprach sein Leibesumfang, alles war massig an ihm entwickelt. Der im Verhältnis zur hochgewölbten Brust und der Schulternbreite kleine Kopf saß etwas zwischen den Schultern auf einem wahren Stiernacken; als wolle er seine Kraft gewaltsam mildern, trug ihn Hannes etwas schief nach vorn und zur Seite geneigt. Das Gesicht war rund und voll, die Züge charakterlos, verschwommen; in den nach abwärts gezogenen Mundwinkeln lauerten Hohn und Schadenfreude; die kleinen Augen, die hinter den Fettwulsten fast verschwanden, lachten lustig in die Welt, oft aber, wenn sich Hannes unbeachtet glaubte, blitzten sie tückisch auf. Das blonde Haar war bereits sehr dünn geworden, auch im Wirtshaus trug Hannes ein einfaches, dunkelfarbiges Hauskäppchen.

Fritz stotterte Entschuldigungen, allein Hannes beachtete sie nicht; mit freundschaftlicher Vertraulichkeit zog er den Lehrer in die Wirtsstube. »Kommen Sie nur!« sagte er. »Haben sich heute wacker gehalten; Sie sollen auch sehen, daß es in Ihrer Gemeinde Leute gibt, die das zu würdigen wissen!«

Fritz wußte, woran er war. Jetzt galt es, auf der Hut zu sein.

Auch aus der gedrängt vollen Wirtsstube drang ihm ein widerlicher Dunst und Qualm entgegen; trübe schimmerten die Talglichter durch den Tabaksrauch, der wie ein dicker Nebel alles verhüllte und kaum die Gesichter der zunächst Sitzenden erkennen ließ. Alle Tische waren rundum besetzt, auch in den schmalen Gängen zwischen den Stuhlreihen drängte sich eine ungeduldige Menge. Lautes Reden, da und dort von Gelächter unterbrochen, summte und brauste durcheinander, das Geklapper mit den Zinndeckeln der Biergläser vermehrte das Getöse. Während sich Hannes und hinter ihm Fritz nach dem »Herrentisch« beim »Kafenetle« durcharbeiteten, schlug plötzlich der Holsteiner auf den Tisch und schrie: »'s Maul gehalten, sag' ich! Was seid denn ihr? – nichts seid ihr, nichts, gar nichts! Ich aber bin ein Mann! ja ich! Bin dabei gewest drin in Holstein, hab' Pulver gerochen und Kugeln pfeifen gehört! Ich bin einer – ja einer! – Bin dabei gewesen bei Eckernförde, wie der Koburger Herzog die Kanone lud. Hab' ihm selber den Pfropfer hingelangt und die Kugel. Hab' ihm beim Richten geholfen und gesagt: ›Hoheit,‹ hab' ich gesagt, ›nu ist's gut, nu fix los dermit!‹ Bum! schießt der Herzog das Stück ab – und pumps!! geht drüben Christian der Achte in die Luft! So ist's gewest, und wer noch ein Wort dagegen sagt, der hat's mit mir zu tun – ich bin der Holsteiner und ihr seid Schlafhauben!«

Alles lachte, und der Bergbauer meinte: »Der Holsteiner erzählt seine Lügen so oft, daß er sie zuletzt selber glaubt!«

»Lügen? – Lügen? – glaubt?« schrie der Holsteiner, der sich kaum auf den Füßen erhalten konnte. »Glaubt? – Wer glaubt? Der Holsteiner glaubt nichts, keinen Gott und keinen Teufel! Der Holsteiner ist einer – ist dabei gewest Anno Neunundvierzig!«

»Das ist Gotteslästerung!« schrie der Uhrmacherle aus seiner sicheren Ecke. »Wehe, wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Betsaida! Ich sage euch, es wird Tyro und Sidon erträglicher ergehen denn euch! Doch ich sage euch: es wird der Sodomer Lande erträglicher ergehen denn dir!«

»Heult das Käuzle einmal wieder?« höhnte der Wagnerspaule vom Herrentisch.

»Heulen, heulen?« fuhr der Uhrmacherle auf. »Oh, über euch böse und ehebrecherische Art! Die Leute von Ninive werden auftreten am Jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen, denn sie taten Buße nach der Predigt Jonas. Und siehe, hier ist mehr denn Jonas. Habt ihr's verstanden, ihr – ihr Gotteslästerer? Am Tag des Gerichts werdet ihr hinausgeworfen in die äußerste Finsternis – und ihr werdet heulen – nachher aber wird das Käuzle lachen – ha, ha, ha!«

In der großen Stube war es tief still geworden, alles blickte nach dem Uhrmacherle, der heftig mit den Armen gestikulierte; manche Wange wurde bleich, manches Gesicht rötete Zorn und Schadenfreude. Fritz überlief ein Schauer, als der Uhrmacherle seine Drohungen herausheulte, dabei die Zähne zeigte und die Finger wie Krallen ausstreckte; als er dann am Schluß wahrhaft teuflisch auflachte, schrak er fast zusammen. Lauter Beifall belohnte den Uhrmacherle, als er erschöpft schwieg; aber auch die Gegenpartei ward lebendig. Alles überschrie der Holsteiner: »Wa – was? Wir sollen heu – – heulen und du willst lachen? Dich soll ja gleich ein Tausendmillionenhagel in Grund und Erdboden 'nein – 'nein –! Wart', ich will dich!« Dabei hob er sein Bierglas zum Wurf gegen den Uhrmacherle. Noch zur rechten Zeit fielen ihm seine Nachbarn in den Arm, allein das Ringen um das Glas brachte den Trunkenen vollends in Wut. Mit beiden Fäusten schlug er um sich und brüllte: »Was? Ich bin ein Holsteiner gewest, ich Hab' Pulver gerochen und mich vor keinem Dänen gefürchtet – und ich soll gebunden und hinausgeworfen werden, und die Pfarrklatsch' dort will über mich lachen – Tausendmillion! Selber muß er 'naus – der Herrgottlesfresser, der! – 'naus muß er, 'naus!«

»Der Holsteiner hat recht!« schrie es von vielen Seiten. – 'naus muß er, der Heuchler!«

»Probiert's und vergreift euch am Uhrmacherle!« schrien andere dagegen. »Er hat die Wahrheit gesagt, wer sich getroffen fühlt, soll sich was schämen!« – »Er hat Gottes Wort verkündigt! Ist's schon so weit in Bergheim, daß man um das Wort Gottes willen vor die Tür gesetzt wird? Holla – da müssen wir auch dabei sein!«

Schon drängte sich ein dichter Knäuel um den Uhrmacherle, Schimpfreden wurden gewechselt, der Tumult nahm zu. Unschlüssig stand der Wirt neben dem Schenktisch, er wollte es offenbar mit keiner Partei verderben. Schon lange hatten der Herrnbauer, Bergjörg, Ungerskasper und Schneidersnikel bedeutsame Blicke gewechselt, jetzt stand der dicke Herrnbauer auf, riß mit zitternden Händen an seiner Weste und sagte: »Schmach und Schande über ein Dorf, da solches geschehen darf, und keiner von den Männern, die dazu berufen sind, tut seine Schuldigkeit! Auseinander dort vorn – auseinander sag' ich; wenn der Schulz nimmer weiß, was er zu tun hat, dann sind noch andere Männer da. Auseinander – oder es soll euch reuen! Laßt mich's nicht zum drittenmal sagen!« fuhr er fort, und eine dunkle Röte überzog sein rundes Gesicht.

»Ei ja, 's ist auch eine dumme Unart davorn!« schrie nun auch der Schulz, der bisher ruhig am Herrentisch gesessen und den Helfern des Holsteiner heimlich zugeblinzt hatte. »Auseinander – Ruhe! Holsteiner, du hörst auf zu schimpfen, und wenn der Uhrmacherle noch einmal predigt, gebt ihm eine aufs Maul. So – auseinander! – soll ich vielleicht aufstehen?«

»Ich lass' mir Gottes Wort nicht verbieten!« lärmte der Uhrmacherle, und der Holsteiner schrie unverständliche Worte durcheinander. Als ihn seine Genossen mit Gewalt auf seinen Platz zurückbrachten, wurde er erst recht wild, kein Zureden konnte ihn besänftigen.

Der Jockenhannes hatte sich auf seinen Platz begeben und winkte Fritz näher zu kommen. Der Herrnbauer und Bergjörg rückten zusammen, daß auch an ihrem Tisch ein Platz frei wurde; Fritz tat, als bemerkte er das Winken des Hannes nicht und setzte sich neben den Schneidersnikel, der fort und fort den Kopf schüttelte und leise vor sich hinbrummelte. »He, Hansjörg,« rief plötzlich der Bergjörg den Wirt an, »ich kann dir's zwar nicht verbieten, daß du dein Wirtshaus zu einem Schweinstall machst, aber soviel sag' ich: tust du den betrunkenen Unflat da vorn nicht 'naus, geh' ich heim und betret' dein Haus nimmer wieder. Das ist doch aus der Weis', wie es zugeht. Den ganzen Abend sucht der Lump Händel und lärmt einem die Ohren voll mit seinen Holsteiner Lügen, 'naus muß er – oder ich geh'!«

»Guckt an, wie sich der Bergbauer auftörmelt!« lachte der Hannes, der bisher kein Wort geredet hatte. »Oh, Männle, das ist 'ne öffentliche Wirtsstub', da macht sich jedes vergnügt, so gut's kann. Dableibt der Holsteiner!«

»Dageblieben bleiben wir!« lallte dieser. »Den Herrgottlesfressern zum Trotz wird dageblieben!«

»Daß du mir im Augenblick das Maul hältst!« fuhr der Wirt dazwischen, der es mit dem Bergbauer nicht verderben wollte. »Setz' dich, trink dein Bier und halt's Maul, sonst – du kennst mich!«

»Nein, nein, so ist's nicht gemeint!« sagte der Ungerskasper gleichmütig. »Entweder der Holsteiner geht oder wir! Ich bin ein alter Mann, und kein Mensch kann mir ein Unrecht nachsagen. Soll ich mich von einem betrunkenen Bengel wegen meines Glaubens beschimpfen lassen? – Nein – und noch einmal nein! Du weißt jetzt, wie's steht, Hansjörg, tu nach deinem Belieben!«

»Wehe, wehe über euch Pharisäer und Schriftgelehrte, ihr Otterngezücht! Wehe, wehe dir, Jerusalem!« heulte der Uhrmacherle und sprang auf einen Stuhl. »Wehe dir, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigest, die zu dir gesandt sind! Siehe, euer Haus soll euch wüste gelassen werden!«

»Gott's ein Donner! aus der haut möcht' man fahren!« unterbrach der Bergjörg den Eifernden, »'runter vom Stuhl, schämst du dich nicht, Gottes Wort also zu mißbrauchen? – Nur noch einen Spruch bring', und ich bin der erste, der dich dem Holsteiner nachschickt! Und jetzt aufgeräumt, 'naus mit dem Holsteiner!«

»Vergreif sich einer an dem! Untersteh sich einer, den anzutasten!« schrie der Schulz, und neuer Lärm folgte diesen Worten.

»Was macht man da erst große Präambeln!« sagte der riesenhafte Michelslang, des Herrnbauern Hausmann. »'naus – eher wird nicht Ruh'!« Damit zog er den Holsteiner aus dem Knäuel seiner Anhänger, ohne daß sich ihm jemand zu widersetzen wagte, und trug den Verblüfften unter schallendem Gelächter vor die Tür.

Der Jockenhannes war bleich geworden. »Und das leidest du?« fuhr er aufspringend den Schulzen an und drängte nach vorn. »Aber noch bin ich da, der Jockenhannes, und dem Michelslang soll sein Vorwitz teuer zu stehen kommen!«

Wie von einer Feder emporgeschnellt, fuhr jetzt auch der Herrnbauer auf und keuchte: »Keinen Schritt! Was mein Hausmann getan, das verantworte ich – ich, der Herrnbauer! Keinen Schritt weiter!«

Totenstill ward es plötzlich in der Stube, atemlos blickten die Männer auf die Gegner, die sich mit wutblitzenden Augen gegenüberstanden. Der Michelslang hatte aber den Streit vernommen, rasch drängte er sich nach seinem Herrn durch: »Ei, Herr, was ich tu', verantwort' ich selber! Laßt doch den Geldsack durch, – das soll mir eine Herzensfreud' sein, dem da ein paar Knochen entzweizubrechen! He, Hannes, 'raus, wenn Ihr's Herz nicht bloß in der Zunge stecken habt! Drauf und dran, ich fürcht' mich vor Euch und der ganzen Gesellschaft nicht!«

Der Hannes war wieder bleich geworden, er nagte an der Unterlippe, und seine Augen irrten blitzschnell durch die Stube. Aber niemand erhob sich zu seinem Beistand – so war es ihm offenbar angenehm, daß sich der Schulz und Veitenbauer nun ernstlich ins Mittel legten. Er ließ sich nach seinem Stuhl zurückdrängen, setzte sich schwer nieder und sagte: »Mit Lumpen hab' ich nichts zu schaffen. Euch, Herrnbauer, werd' ich das gedenken, so wahr ich Hannes heiße!«

»Bin alle Tage zu finden!« knirschte dieser und kehrte ebenfalls auf seinen Sitz zurück. Der Michelslang aber lachte: »Hannes, was gebt Ihr mir, wenn ich mit Euch tausche? was zahlt Ihr, daß Ihr nur wieder ein Lump werdet wie ich? – Hannes, Hannes, es ist noch nicht aller Tage Abend!«

Die Ruhe war hergestellt, und die meisten Nachbarn atmeten erleichtert auf, daß die Geschichte noch so glatt abging. Ein leises Flüstern lief um die Tische; der Wagnerspaule lachte tückisch in sich hinein und senkte den Kopf noch tiefer als gewöhnlich, der Jockenhannes kniff die Lippen zusammen und trommelte heftig auf den Tisch. Fritz schüttelte leise den Kopf, auch er empfand die dumpfe Schwüle, die auf allen Gemütern lastete, auch er ahnte, daß die Jockenpartei auf Rache für diese Niederlage sinnen würde. Der Beckenbauer reichte Fritz über den Tisch hinweg die Hand mit den Worten: »Guten Abend auch, Herr Lehrer! Bei dem Lärm hat man nicht einmal Zeit gehabt, Sie zu begrüßen. Sie werden auch Ihren Part von uns Bergheimern denken – 's ist wahrhaftig ein Jammer, wie's bei uns zugeht.«

Auch andere Nachbarn begrüßten Fritz, nur der Herrnbauer und der Bergjörg regten sich nicht: sie vergaßen ihm nicht, daß er mit dem Hannes gekommen war.

»Ja, 's ist ein Jammer, wie's bei euch zugeht!« nickte der Wagnerspaule, ohne aufzublicken, »das wird man dem Herrn Lehrer nicht mehr zu sagen brauchen, er hat heut' Proben gespürt!«

»Ja, und die Geschicht' mit dem Holsteiner ist ein neuer Beweis, wie's die Frommen treiben!« knurrte der Simesschuster. »Alles soll nach ihrer Pfeife tanzen, und wer sich stemmt – mit dem macht man kurzen Prozeß, da heißt's gleich: 'naus mit ihm!«

»Wenn uns aber der Uhrmacherle die Ohren vollschreit mit seinen Dummheiten, da darf man sich nicht dagegen regen – der bleibt ruhig sitzen!« brummte der Veitenbauer.

»Ihr seid jetzt ganz still!« rief der Bergbauer und drohte mit der Faust, als der Uhrmacherle wieder auf seinen Stuhl steigen wollte.

»Will euch was sagen, ihr Herren,« begann der Hausmann ruhig, »solltet euch schämen, solch' betrunkenen Bengel auch noch in Schutz zu nehmen!«

»Du – du,« fuhr der Schulz giftig nach ihm herum, »du bist gleich still, du einfältiger Bettelkerl, was hast du dich an uns Bauern zu rechnen?«

»O, Schulz, nehmt Euch in acht, ich hab' noch nicht bei Euch gebettelt!« rief der Michelslang. »Und ich sitze da für mein Geld, wißt Ihr, und frage nach Euch gradesoviel, als Ihr nach mir!«

»Ist recht so!« nickte der Herrnbauer. »Wirt, was mein Hausmann heute verzehrt, bezahl' ich!«

»Hi, hi, hi!« kicherte der Wagnerspaule. »Der Herrnbauer ist einmal einer! Ob er dem Hausmann wohl auch das Bier bezahlte, wenn er das ihm selber sagte?«

»Geschwätz!« rief jetzt der Jockenhannes und rückte sein Käppchen. »Kennen wir die Mucker, die Pietisten und Freimaurer nicht lange? Wissen wir nicht, womit sie umgehen? Narren sind wir, daß wir uns das bieten lassen; aber jetzt ist nicht immer, und zuletzt ist die Geschichte auch für was gut. Hab' ich nicht immer gesagt, die Heuchler wollen uns das Maul verbieten und uns unter die Knechtschaft der Pfaffen bringen? – Da habt ihr's ja handgreiflich! Was hat der Holsteiner getan? Hat er weniger das Recht, seine Meinung zu sagen, als der Uhrmacherle?«

»Ich erwürg' dich, so wahr ich hier sitze, wenn du nicht das Maul hältst!« schrie der Bergbauer, als der Uhrmacherle wieder ein »Wehe!« hervorheulte.

»Tut die Augen auf, wer nicht zu den Pietisten, Jesuiten und Freimaurern gehört; tut die Augen auf, sag' ich, sonst seid ihr an die Katholischen verkauft, ehe ihr's euch verseht!« rief Hannes und schlug auf den Tisch. »Wollt ihr euch von den Brummochsen übertölpeln lassen? Denkt dran, was ich vorausgesagt, eh' der Pfarrer kam; ist nicht alles buchstäblich eingetroffen? Sind das Predigten, was wir jetzt alle Sonntage zu hören kriegen?«

»Muß mich wundern,« lachte Paule, »daß so arg gescheite Leute sich das gefallen lassen – ha, ha! Wenn mir einer sagte, das ist auf dich gemünzt, ich verklagte ihn auf dem Fleck; bin ich gleich kein Engel, soweit ist's noch nicht, daß ich mich von der Kanzel aus zum Lumpen machen lasse.«

»Und die Predigt ist noch Spaß! Wer ein Brummochs sein will, der mag in die Kirche laufen und sich schlechtmachen lassen, was geht's uns an?« schrie Hannes. »Aber es gehen Dinge vor, zu denen wir nicht stillschweigen dürfen! Wollte nicht der Pfarrer die Tanzerlaubnis verweigern? Hat er nicht dem Jungvolk das Singen auf der Straße verboten? Wer gibt ihm das Recht, unsere Gebräuche anzutasten, wie er's heute morgen probiert hat? Da soll ein Donner und ein Wetter! – – Und zu End' ist's mit meiner Geduld, Ernst muß dem Schwarzrock gezeigt werden. Er muß erfahren, daß wir lang' über die Dummheit und die Pfaffenlügen, die sie Bibel und Religion heißen, hinaus sind, daß wir uns nimmer für Brummochsen estimieren lassen. Es ist Zeit, sag' ich! Hat nicht der Pfaff heut' die Krallen gezeigt? Hat er nicht den Anfang gemacht, unsern Herrn Lehrer einzuschüchtern? Ja, ja, Herr Lehrer, wir wissen alles, und ich dank' Ihnen im Namen aller, die nicht zu den Brummochsen gehören, daß Sie sich nicht haben ins Bockshorn jagen lassen, sondern haben dem Schwarzkittel die Zähne gezeigt. Und wir freuen uns, daß auch Sie auf unsrer Seite stehen, wenn Sie's auch nicht sagen! Und nun nur unverzagt, wir stehen hinter Ihnen, und ich wollt's keinem raten, Ihnen auch nur mit einer Silbe zu nahe zu treten!«

So war eingetroffen, was der Schulbauer und Lichtennikele vorausgesagt! Der offene Kampf war ausgebrochen. Wie sich nun zu den Parteien stellen? – Fritz war bleich geworden, er fühlte die Augen aller Anwesenden auf sich ruhen, er empfand die Spannung, mit welcher Erwartung man seiner Entscheidung entgegensah. Er empfand, daß ihm Klarheit jetzt nötiger war denn je; mit Gewalt zwang er sich zur Ruhe, strich sich langsam die Haare aus der Stirn und sagte: »Ich verstehe Sie nicht! Allerdings hatte ich heute morgen eine kleine, nicht gerade angenehme Unterredung mit dem Herrn Pfarrer, aber man scheint ihre Bedeutung zu überschätzen. Überhaupt möchte ich bitten, mich in diesem Streit ganz und gar aus dem Spiel zu lassen.«

»Oh, Herr Lehrer,« fiel ihm Hannes hastig ins Wort, »ich weiß, was Sie sagen wollen! Seien Sie ganz ruhig, uns dürfen Sie trauen, wir sind keine Heuchler und Schleicher. Brauchen nichts zu verheimlichen, wir wissen alles; wir wissen, wie Ihnen der Pfarrer in der Sakristei den Marsch machte und was er von Ihnen verlangte.«

Fritz sprang so heftig auf, daß sein Stuhl umstürzte. »Was können Sie wissen?« rief er und seine Lippen bebten.

»Nur ruhig Blut! Hat der Pfaff' Ihre Schule nicht heruntergemacht und verlangt, Sie sollten heut' abend die Kinder vom Tanzplatz wegjagen? – »Ja, schauen Sie nur! Habe ich nun nicht doch recht?«

Fritz zitterte vor Zorn; er achtete nicht auf das Murmeln, das lauter anschwellend diesen Worten folgte. Grimmig ballte er die Fäuste und rief mit blitzenden Augen: »Woher wissen Sie das? Antworten Sie, von wem haben Sie diesen Bericht?«

»Von wem?« lachte Hannes, offenbar sehr zufrieden mit dem Eindruck seiner Rede. »Das ganze Dorf ist voll davon!«

»Ha, ha – wenn Sie sich besinnen wollten!« nickte der Wagnerspaule. »Sie werden wohl am besten wissen, wer noch in der Sakristei war, als die Mess' losging? Und die Türen in der Kirche sind schlecht, was kann einer dazu, wenn er draußen jedes Wörtle hört?«

Der Uhrmacherle schlich hustend und scheltend aus der Stube. Fritz war sprachlos, allein das Getöse um ihn brachte ihn bald wieder zu sich. Der Herrnbauer schlug auf den Tisch und erklärte, es sei heutzutage keinem Menschen zu trauen, der Pfarrer werde wohl wissen, was er getan.

Lauter Widerspruch der Jockenpartei folgte, aber auch Beifall und Zustimmung blieb nicht aus; Fritz nagte an der Unterlippe und blickte starr ins Licht – was sollte er tun, gehen oder bleiben? Plötzlich schlug nun auch der Jockenhannes auf den Tisch, daß die Gläser emporfuhren und schrie: »Ruhe, ihr erbärmlichen Brummochsen!« – »Hannes, mit den Brummochsen seid stet, sie könnten stoßen!« schrie der Herrnbauer. – »Ist mir lieb, daß ihr euch selber zu den Brummochsen rechnet!« höhnte der Hannes und stimmte in das Hohngelächter seiner Genossen ein. »Ruhe!« unterbrach er den Bergbauer und Ungerskasper. »Ruhe – ins Kuckucks Namen! Ich sag', wir leiden's nicht, daß dem Herrn Lehrer zu nahe getreten wird. Der gehört zu uns, und wir wollen doch sehen, ob ihn die Pfaffenknechte und Freimaurer unterkriegen! Ihr alle miteinander und alle Pfaffen im Land kommen nicht gegen ihn auf, das sag' ich – ich, der Jockenhannes!«

Der Streit erregte Aufsehen, durch die offene Tür drängte das Jungvolk herein, auch Frauen und Mädchen starrten neugierig auf Fritz. Mit hochklopfendem Herzen stand er inmitten der Parteien; mühsam hielt er an sich. Jetzt streckte er wie abwehrend beide Hände aus und sagte mit bebender Stimme, die erst nach und nach ihren Klang, ihre Festigkeit erlangte: »Halt da – jetzt laßt auch mich ein Wort reden! Mit Erstaunen höre ich, daß man auch mich in die Streitigkeiten des Dorfes ziehen will, ja, mich schon zu einer bestimmten Partei rechnet. Wer gibt ihnen das Recht, so über mich zu verfügen? – Hier vor allen Nachbarn erkläre ich öffentlich, daß ich weder der einen, noch der andern Partei angehöre, und daß ich niemandem erlaube, mich für seinen Anhänger auszugeben. Ich stehe auf eigenen Füßen. Auch die Einmischung in meine Angelegenheiten muß ich mir ernstlich verbitten; was ich begonnen habe ohne Rat und Beistand anderer, will ich auch nach eigenem Ermessen durchführen. Ihnen, Herr Schubert,« wendete er sich an den Herrnbauer: »sage ich: haben Sie gegen meinen Unterricht Bedenken, oder glauben Sie, daß ich durch meinen Lebenswandel den Kindern ein schlechtes Beispiel gebe, so wollen Sie beim Pfarramt Beschwerde erheben, hier ist nicht der Ort dazu. – Der ganzen Versammlung aber kann ich nicht verhehlen, daß die Art, wie man mich behandelte, mich auf das tiefste empörte. Verdient der Lehrer eurer Kinder nicht mehr Achtung? Erlaubt man sich noch einmal solche Rücksichtslosigkeiten, so hat man mich zum letztenmal in Gesellschaft gesehen. Gute Nacht!«

Fritz achtete nicht auf den Eindruck seiner Worte, und es war vielleicht gut, daß er die zornfunkelnden Augen und tückisch zusammengekniffenen Lippen des Jockenhannes, den giftigen Hohn auf dem Gesicht des Wagnerspaule und Schulzen, die zornige Röte des Herrnbauern nicht bemerkte. Er wandte sich rasch um, und so entging ihm auch das beifällige Nicken und Lächeln des Beckenbauern, der ihm sogar die Hand reichen wollte. Scheu machten die Gäste dem rasch dahinschreitenden Lehrer Platz, viele schlugen vor ihm die Augen nieder, das Jungvolk, vor allem die Mädchen, drängten hastig in den dunkeln Hausflur zurück. Einen Augenblick war's Fritz, als habe er Annas Augen traurig auf sich ruhen sehen, doch achtete er nicht darauf und ging davon. Jetzt erst merkte er, daß Mitternacht lange vorüber war.


Inhaltsangabe des Herausgebers. (Reinhardt benützt seine Pfingstferien zu einer mehrtägigen Thüringer Reise. Zunächst wandert er nach der einige Stunden entfernten Landeshauptstadt. Das elegante Leben, das ihm dort auf Straßen und Promenaden entgegentritt, entzückt den Dorfschullehrer ebenso wie der Besuch des herzoglichen Theaters, in dem der »Freischütz«, seine Lieblingsoper, aufgeführt wird.

Aber nicht nur die glänzende Außenseite des von ihm mit neidvollen Augen angesehenen städtischen Lebens, auch seine dunkle Kehrseite soll er kennenlernen: Die erste Enttäuschung bereitet ihm die enge, dumpfe Mietswohnung seines Freundes Braun, bei dem er zu Gast ist. Der kümmerliche Lehrergehalt zwingt den Stadtlehrer, wenn er für Frau und Kinder zu sorgen hat, zu Einschränkungen in seiner Lebenshaltung, von denen der Landschullehrer nichts weiß.

Eine zweite Enttäuschung erlebt er in der »Künstlerkneipe«, die er nach der Theateraufführung besucht: die erhoffte geistige Anregung findet er hier nicht, vielmehr enthüllt sich ihm in der bierseligen Atmosphäre sehr bald der wahre Charakter der wilden Kneipgesellen, denen jeder wahre künstlerische und sittliche Ernst fehlt.

Von ebenso zwiespältiger Wirkung ist die Reise nach dem Thüringer Wald, die er in einer größeren Gesellschaft junger Damen und Herren am nächsten Tage antritt. Voll Begeisterung nimmt er die Eindrücke in sich auf, die die an natürlichen Reizen wie an geschichtlichen Erinnerungen gleich reiche Thüringer Landschaft bietet. Die anderen jungen Leute haben für solche Schwärmerei wenig Sinn, für sie ist die gesellschaftliche Unterhaltung das Hauptvergnügen. Vor allem versteht es eine ebenso schöne wie geistreiche junge Dame, Mathilde Werner, durch ihre kokette Liebenswürdigkeit das allgemeine Interesse auf sich zu ziehen. Es ist niemand anderes als eben jenes junge Mädchen, in dem Fritz Reinhardt schon bei einer früheren Begegnung die Verkörperung seines weiblichen Ideals gefunden zu haben glaubt. Um ihretwillen hat er sich zur Teilnahme an dem Ausflug entschlossen, bei der Wiederbegegnung auf dem Bahnhof hat ihre jugendschöne, elegante Erscheinung aufs neue sein Entzücken erregt, während des vertraulichen Tête-à-Tête im Eisenbahnwagen hatte er Liebenswürdigkeiten von ihr erfahren, die ihn darauf hoffen ließen, unter allen Bewerbern um ihre Gunst der Bevorzugte zu sein. Um so größer seine Enttäuschung, sobald sie sich wieder in der allgemeinen Gesellschaft befinden: Hier peinigt sie den armen Liebhaber immer wieder durch das sehr wenig wählerische und taktvolle Kokettieren, das sie während der ganzen Reise betreibt – um ihn dann freilich immer wieder durch den raffinierten Zauber ihres Wesens an sich zu fesseln. Besonders schmerzlich ist für ihn die Entdeckung, daß Mathilde seinen Hauptnebenbuhler, dem Lehrer Reuter, einem jener Kneipgesellen, deren zügelloses Wesen so abstoßend auf Reinhardt gewirkt hat, bei gegebener Gelegenheit dieselbe vertrauliche Annäherung wie ihm erlaubt.

So kehrt Fritz Reinhardt mit sehr geteilten Empfindungen von seinem Ausflug in die ihm erst so verlockend erscheinende große Welt nach dem stillen Dorfe zurück, das vielleicht doch noch seine Heimat werden soll.)


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