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Neuntes Kapitel

Schon am frühen Morgen vor Sonnenaufgang hatte es gewittert, aber kein erfrischender Regen erquickte die lechzenden Fluren, mit Donner und Blitz zogen die schwarzen Wolken vorüber, die schwüle, erschlaffende Hitze blieb. Sie wuchs, je höher die Sonne emporstieg, selbst ein dünner, weißgrauer Wolkenschatten, der nachmittags den Himmel bezog, minderte nicht die stechende Glut der Sonnenstrahlen. Erschöpft kam Fritz aus dem Nachmittagsgottesdienst, aber auch die nun dichtbegrünte Laube gewährte in ihrem Schatten keine Kühlung. Unter solchen Umständen war die Arbeit keine Freude.

Kurz entschlossen trug Fritz Hefte und Bücher ins Haus und schritt durch regungslose Getreidefelder, auf verbrannten Rainen dem Flusse zu. Aber auch die quälenden Zweifel, welche sich während der Reise auf seine Seele gelegt, begannen ihn jetzt in der Stille des Alltagslebens doppelt zu bedrücken. – Wo sollte er eine Heimat suchen – wo seine Lebenswurzeln in den Boden schlagen? Ach, und vor allem: was war Mathilde? Liebte er sie? – fand er wahre Gegenliebe? oder war das ganze Verhältnis nur ein unwürdiges Spiel? – – Mißmutig warf er sich unter einer breitästigen Eiche auf der Uferhöhe ins Gras.

Die Wolkenschatten verdichteten sich, nur noch als glanzlose Scheibe stand die Sonne am Himmel, ohne daß sich die Hitze gemindert hätte. Eine einzelne Wachtel schlug im weit ausgedehnten, schon silbergrau schimmernden Korngebreite, die kleinen Blütenwimpelchen zitterten an den Ähren. Vor ihm, unter den Linden- und Haselbüschen, stieg von den Grasrispen dann und wann ein Wölkchen Blütenstaub auf, und eine Hummel brummte melancholisch um den Waldklee. Drüben auf der Straße rollte lautlos ein Wagen talab, von kleinen Staubwölkchen umspielt; ein einsamer Wandrer, ein weißes Bündel auf dem Rücken, kam gemächlich die Windsberger Höhe herab. In der Tiefe ward es lebendig, Blasen, Pusten, Gelächter und Schreien ertönte, rauschend spritzte das Wasser in die Büsche und verbreitete einen erfrischenden Geruch. Eine Schar Knaben badete grade unter ihm und erinnerte ihn an sein eignes Vorhaben. Vorsichtig, seine Schüler in ihrer Lust nicht zu stören, stieg er in eine verborgene Felsenbucht nieder.

Neubelebt verließ er den Fluß, auch geistig erfrischt. Die Knaben waren schon länger verschwunden; als Fritz die Höhe erreichte, zuckte ein falber Blitz über den wunderlich gefärbten Wolkenhimmel, der die Sonne gänzlich bedeckte, dahin, und ein leiser, schüttelnder Donner folgte. Mehrere Gewitter zogen sich bedrohlich zusammen; er durfte eilen, vor ihrem Ausbruch das Dorf zu erreichen.

Heimkehren mochte er nicht, die qualmige Wirtsstube war ihm verhaßt – wohin? Er erinnerte sich seines Versprechens, den Lichtennikele zu besuchen; ein uneröffnetes Päckchen Schokoladentafeln, das er zufällig bei sich trug, erschien ihm als schickliches Geschenk für die arme gelähmte Frau, und so schritt er ohne langes Besinnen dem kleinen Häuschen zu.

Halb versteckt lag es hinter den dichtbelaubten Hecken von Hainbuchen-, Kastanien- und Stachelbeerbüschen, die das kleine Hausgärtchen umgaben, ein üppiger Weinstock rankte an der niederen Hauswand empor, umspann einen kleinen Bienenstand, verhüllte freundlich den schadhaften Zustand der Wände, in deren Löchern die Spatzen erwünschte Schlupfwinkel fanden, die nun lärmend durch das dichte Weinlaub raschelten. Ein schmaler Pfad führte zwischen Hecke und Miststätte zum Treppenvorbau empor, der, seiner Bretterverkleidung zum großen Teil beraubt, auf weichender Grundmauer drohend genug über die Miststätte hereinhing. Fast als wollte er den müde sich vornüber neigenden Giebel stützen, schlang ein prachtvoller Nußbaum seine dichtbelaubten Zweige um das kleine Gebäude.

Da sein Klopfen unbeantwortet blieb, trat er in die Wohnstube. Grüne Dämmerung herrschte in dem kleinen Raum, der Fritz durch seine Sauberkeit und freundliche Ordnung in Erstaunen setzte.

Am großen, plumpen, spreizbeinigen Tisch saß der Alte in Hemdsärmeln, die große Weimaranerkappe auf dem Kopf. Auf seinem Schoß saß sein jüngstes Enkelkind, neben ihm auf der Bank kniete ein runder krausköpfiger Bube, beide Kinder betrachteten aufmerksam die Holzschnitte einer großen Nürnberger Bilderbibel und lauschten der Erzählung des Großvaters.

Aus der Kammer nebenan drang leises Stöhnen, unterdrücktes Weinen, und jetzt ward eine milde, tröstende Stimme laut, deren Klang Fritz wundersam berührte. Wo hatte er diese Stimme schon gehört? – Unwillkürlich machte er eine Bewegung, und nun bemerkten ihn der Alte und die Kinder. Der Bube verkroch sich vor seinem Lehrer halb unter den Tisch. Nikel setzte das Kind vorsichtig auf die Bank und ging seinem Besuch entgegen. Leise sagte er: »Ei du liebe Zeit! – wahrhaftig unser Herr Schulmeister! Seid mir tausendmal willkommen! – ja, grüß' euch der liebe Gott! – 's ist halt ein armes Hüttle, in das Ihr kommt, und anbieten kann ich Euch einstweilen auch nichts – mein Annedorle und die Herrnbauers Anna sind draußen, um meiner armen Alten auch zu ihrem Sonntagsrecht, zu einem reinlichen Hemd, zu verhelfen! Ist ein gar ausbündig's brav's Mädle, die Anna; was die schon an uns und meiner Alten getan, 's ist nicht auszusagen – Gott vergelt's ihr! Seht nur das eine – schon seit vielen Jahren kommt sie alle Sonntage und hilft meine Alte umkleiden – und niemals kommt sie mit leeren Händen! Ja, und ich bitt' Euch, redet ein Linsele leis', daß wir die Weibsleut' nicht verstören!«

Fritz war tief ergriffen; die Erinnerung an den köstlichen Pfingstmorgen tauchte in ihm auf. Jetzt wußte er, warum ihn die süße Stimme so eigen bewegte. – Herzlich schüttelte er dem Alten die Hand, nötigte ihn auf seinen Platz und zog sich einen Stuhl daneben und bat ihn, in seiner Erzählung fortzufahren. Groß sah ihn der Alte an und meinte: »Herr Schulmeister, wenn ich Euch nicht für einen braven Menschen kennte, möchte ich schier meinen, Ihr wolltet mich narren. – Wie werdet Ihr, solch ein studierter Mann, auf meine dummen Reden hören mögen?«

»Nicht doch!« entgegnete Fritz. »Es ist mir Ernst mit meiner Bitte. Seht, es gibt Verrichtungen, die sehen sich so einfach, so leicht an, man meint, jeder müsse sie vollbringen können, ja, sie müßten sich ganz von selbst machen. Dazu gehört auch das Erzählen der biblischen Geschichten. Ihr selber werdet denken: ei, was ist Großes dabei, wer die Geschichten weiß, muß sie doch auch erzählen können. Aber erzählen und erzählen ist zweierlei, und die Geschichten Kindern recht zu erzählen, ist eine Kunst, die selten gefunden wird. Haufen von Büchern sind schon zusammengeschrieben worden, wie man es anfangen müsse; Ihr dürft mir glauben, ich habe mir Mühe gegeben, das Erzählen recht zu lernen, habe aber bis heute noch wenig Freude daran erlebt. – Mein Großvater war auch nur ein einfacher Bauersmann wie Ihr – und was gäbe ich darum, könnte ich die biblischen Geschichten meinen Schulkindern nur halb so schön vortragen, wie er sie mir einstens, auch bei solch alter Bilderbibel, wie Ihr sie da habt, erzählt hat. – Ich habe Euch schon ein Weilchen zugehört, Ihr versteht das Erzählen; drum fahret fort!«

Den Alten erfreute diese Bitte, zum Erzählen brachte ihn Fritz jedoch nicht. Man sprach über allerlei, und so kam man zuletzt auch auf die Vorfälle im Wirtshaus in der zweiten Pfingstnacht zu reden. »Ich freu' mich aufrichtig, daß Ihr meine Warnung nicht verachtet habt. Nicht wahr, es hat sich gezeigt, womit der Jockenhannes umgeht? – Ja, ja, Ihr habt ihn gründlich ablaufen lassen, und so war's recht, wenn auch seine Partei Feuer und Flamme gegen Euch speit, Ihr dürft Euch das nicht kümmern lassen, alle rechtschaffenen Leute sind Euch für die Abfertigung dankbar. – Ein ander' Ding ist's freilich, daß Ihr zugleich auch den Herrnbauer so herzhaft abgeputzt habt. Verdient mag er's wohl haben, dagegen sag' ich nichts, aber ein Linsele säuberlicher hättet Ihr doch an ihn kommen sollen – nichts für ungut! Der Herrnbauer ist nun einmal ein Mann von Ansehen. Müßt aber nicht ängstlich sein, Herr Schulmeister, Ihr habt auch Eure Anhänger, der Sülzdorfer Schulbauer und der Beckenkarl sollen sich rechtschaffen Euer angenommen haben. – Ja, Herr Schulmeister, sell mit dem Jockenhannes war schon recht, aber wenn mein Rat was gilt, vor den Frommen nehmt Euch in acht. Ihr habt's mit dem Pfarrer verdorben, verderbt Ihr's noch extra mit seinen getreuesten Anhängern, könnt Ihr in böse Geschichten kommen! – O du lieber Gott! da ist das Gewitter! – meine arme, arme Alte!«

Ein bläulicher Schein hatte sekundenlang das Zimmer erfüllt, jetzt krachte ein furchtbarer Donnerschlag los. Die Türe des Nebenzimmers öffnete sich, und von den schon wieder aufzuckenden blauen Flammen umspielt, erschien die Herrnbauersanna auf der Schwelle. Ohne Fritz zu bemerken, sagte sie mit klarer Stimme: »Laß mich nur, Annedorle, bei einem Gewitter gehör' ich ins Haus, man weiß nicht, was kommen kann. Unterwegs geschieht mir nichts, habe keine Angst, und vor dem Regen werd' ich ja wohl den Hof noch erreichen!«

Tiefe Dunkelheit erfüllte das Stübchen, desto blendender fackelten die Blitze herein, das Rollen und Krachen tönte ununterbrochen fort. Eben bog ein heulender Windstoß die Rebenblätter zur Seite, ein blendender scharfer Strahl schoß durchs Zimmer. Die Kinder weinten, die Kranke jammerte, und Annedorle rief, die Hände ringend: »Anna, verlass' uns nicht – die Mutter stirbt!« Fritz war wie betäubt; als eben das Mädchen aus der Tür schlüpfen wollte, ergriff er ihre Hand: »Bleib, Anna! – Bleibe, nimm dich der Kranken an!«

»Ihr, Herr Lehrer? – Wie kommt Ihr hierher?« rief Anna erschrocken und riß sich los. Doch blieb nicht Zeit zu langen Erörterungen. Die Blitze durchkreuzten, die Donnerschläge überstürzten sich, und all den Lärm übertönte das Angstgeschrei der Kranken. Tief ergriffen sah jetzt Fritz beim Schein der Blitze, wie Anna am Bett der Kranken niederkniete, ihre Hände fest an ihr Herz drückte und laut betete; zuckte die Alte auch noch immer zusammen, sie wurde doch sichtlich ruhiger. Annedorle beruhigte die Kinder, daß sie nur noch leise mit der Mutter weinten. Hoch aufgerichtet, mit entblößtem Haupt und gefalteten Händen stand dabei der Alte im Zimmer, eine heitere Ruhe lag auf seinem Gesicht, von den grellen Lichtern, von den dröhnenden Donnern unbeirrt, richtete er sein Auge nach oben und betete.

Fritz konnte nicht anders, er mußte auch die Hände falten; noch in keiner Kirche hatte er sich so tief ergriffen gefühlt. Unbeachtet ging das Wüten und Toben des Wetters

an ihm vorüber, er erwachte erst wieder aus seiner Versunkenheit, als der ärgste Sturm vorbei war. Noch immer kniete das Mädchen am Bett der Kranken, noch immer hielt sie ihre Hand an das Herz gedrückt und wagte nicht, sie loszulassen – mitten im Wetter war das Mütterchen unter ihrem Gebet eingeschlafen.

Der Lichtennikele hing einen leeren Sack als Regenmantel um die Schulter, nahm Abschied von Fritz, bat ihn um baldige Wiederholung des Zuspruchs und eilte trotz des strömenden Regens mit der Hacke auf seine Äcker, etwaigen Flutungen rechtzeitig Einhalt zu tun. Annedorle schaffte hochgeschürzt in Haus und Scheune, die Kinder fingen auf dem Treppenvorbau jubelnd die fallenden Tropfen der Dachtraufe in den hohlen Händchen auf. Fritz und Anna waren allein bei der Kranken.

Leise machte sich Anna endlich doch von der Schläferin los, knüpfte ihr Tuch über den Kopf, daß es das ganze Gesicht verhüllte, und wollte an Fritz vorbei aus der Stube huschen. »Nicht doch, Anna!« sagte Fritz und trat ihr in den Weg. »Bald wird der Regen aufhören, so lange gedulde dich! – Ja, und warum bist du vorhin so erschrocken, als ich dich anredete?«

»Wie konnte ich anders, da Sie plötzlich so ganz unvermutet vor mir standen?« entgegnete Anna leise. »Lassen Sie mich, ich muß heim, die Mutter ängstet sich gewiß um mich.«

»Willst du die Kranke allein lassen?«

»Lieber Gott!« seufzte Anna. »Das Alleinsein ist der Lichtenkunnel nichts Ungewohntes! Wenn die Arbeit drängt – wer soll bei ihr bleiben?«

»Schrecklich! – So wird die gelähmte Frau im Sommer wohl oft in das einsame Haus eingeschlossen?«

»Ja. – Lassen Sie mich jetzt, Herr Lehrer, mir wird ganz ängstlich!«

»Was ist doch mit dir?«

Als Fritz dringender fragte, sagte Anna leise: »Sie werden wohl wissen, wie mir zumut' sein mag! – Ach, Herr Lehrer, ich möchte vor Scham in den Erdboden versinken! – Sie dürfen mir glauben, es war ein großer Jammer daheim, daß der Vater in der zweiten Pfingstnacht so unmanierlich gegen Sie aufgetreten ist. Wir haben fast nicht mehr getraut, uns vor den Leuten sehen zu lassen, und die Mutter ist heute noch untröstlich. Auch der Schulvetter war ganz außer sich und hat dem Vater herzhaft die Meinung gesagt. – Ach, Herr Lehrer, was werden Sie vom Vater halten? – Und doch ist er so brav und gut. Daß er jetzt manchmal auffährt und tut, was ihm selber leid ist, daran ist bloß die grausame Verwirrung im Dorf schuld, über die er sich nun einmal nicht hinwegsetzen kann. Er meint, es sei Sünde, wenn er da ruhig zusehen wollte, und leider Gottes redet ihn auch der Herr Pfarrer täglich in größeren Zorn gegen die – die – – Sie wissen schon, gegen wen. Ach Gott, Herr Lehrer, die Schande, daß sich der Vater mit Ihnen gezankt, liegt uns schwer, schwer auf! Ach, Herr Lehrer, ich bitt' Sie, tragen Sie uns das Leid nicht nach, das Ihnen der Vater angetan.«

Sichtlich verlegen begann Reinhardt: »Ich verstehe nicht! Wer denkt daran, euch Frauen verantwortlich zu machen, wo ihr ganz und gar unschuldig seid?«

»Aber dem Vater sind Sie doch bös' – sehr bös'! Gestehen Sie nur, ich weiß ja doch!«

»Wie kannst du das wissen? Aber allerdings, sein Angriff war hart, beleidigend, Anna!«

»Ich weiß, ach, ich weiß!« schluchzte das Mädchen. »Und ich kann Ihnen ja nicht verdenken, wenn Sie erzürnt sind. – Aber was soll nun werden? So lange der Streit über die Religion im Dorf nicht aufhört, so lange ist auch der Vater nicht zu besänftigen. Zwar sieht er sein Unrecht gegen Sie ein, aber zu einem versöhnlichen Wort ist er nicht zu bringen, er behauptet, Sie hätten ihn hart genug gestraft im öffentlichen Wirtshaus und – und müßten froh sein, wenn er Ihre Reden ruhig einsteckte. Weiter bringt ihn auch der Schulbauer nicht! Ja – was soll nun werden, wenn Sie abermals mit dem Vater zusammengeraten? – O mein Gott, mein Gott!«

»Beruhige dich, Anna!« sagte Fritz gerührt. »Hier meine Hand! Der Vorfall ist meinerseits vergessen und vergeben.«

»Ich danke!« hauchte das Mädchen und wollte entschlüpfen.

Eben rief die Kranke nach Anna, und das scheue Mädchen mußte nun doch bleiben. Langsam folgte er ihr an das Bett; ein Leuchten ging über das Gesicht der Alten, als sie erfuhr, wer der Besuch sei. »Gott grüß' Euch, Herr Schulmeister!« sagte sie eifrig und streckte ihm die gesunde Hand entgegen. »Ach, ist das doch schön von Euch, daß Ihr so arme Leut', wie wir sind, nicht verachtet, daß Ihr eine Kranke auch in ihrem Elend aufsucht! Ach, Herr Schulmeister, wenn ich höre, wie die gesunden Leute draußen sich das Leben mutwillig verderben, kann ich mich im Herzen bekümmern. Ach, wenn sie erst tagelang manchmal keinen Menschen um sich hätten, und dann wochenlang immer nur die gleichen Gesichter – ach, nachher würden sie bald friedfertig und herzensgut werden. – Aber ich schwätz' Euch die Ohren voll und lass' Euch gar nicht zu Wort kommen – nehmt mir's doch rechtschaffen nicht übel, Herr Schulmeister!«

»Ei, wo denkt Ihr hin?« sagte Fritz. »Ich sehe, Ihr seid in Eurer Einsamkeit wahrlich weiter gekommen als viele, die sich draußen ihres Lebens zu freuen meinen!«

»Ich seh', Herr Schulmeister, mein Nikele hat recht, wenn er Euch lobt«, sagte die Kranke mit freundlichem Lächeln. »Ihr macht's nicht wie so viele Leute, die da kommen, über einen 'neinfallen und wunder meinen, was sie können, wenn sie einen mit allen möglichen Trostgründen überhäufen. Trost brauche ich nicht, damit werde ich selber fertig, und kommen die schwachen Stunden, da das Herz verzagen will, dann hilft kein Menschentrost. Nein, damit ist's einem Kranken nicht gedient; ein freundliches Gesicht und Geduld, die einen auch zu Wort kommen läßt: das ist die rechte Wohltat! Herr Schulmeister, Ihr könnt fast so gut reden wie da mein herzliches Annele! – Ja, das Mädle, das ist mir ein wahrer Trost, ein wahrer Gottessegen!«

»Aber Bas', was macht Ihr doch?« rief Anna und verbarg ihr Gesicht in den Kissen.

»Laß nur, Kind! das darf alle Welt wissen, was du für eine Samariterseele bist, wie mein Nikele immer sagt. Ja, meine Leute tun, was sie können, und alle Nachbarn sind gar freundlich gegen mich, aber die Anne, ja, das ist eben die Anne.« – –

Leise legte Fritz das Päckchen Schokolade auf das Bett und sagte: »Ich habe Euch eine Kleinigkeit mitgebracht, Mutter Kunigunde – der Trank soll Euch gut tun, und die Anna wird wohl wissen, wie er zu bereiten ist. Ihr seid müde und angegriffen – ruhet jetzt. Ich werde Euch nicht vergessen und bald wiederkommen, saget das dem Nikele und grüßt Annedorle und die Kinder!« –

Rasch verließ er die Stube und das Haus. Er hörte, wie ihm Annedorle erstaunt nachrief, kehrte sich jedoch nicht um, sondern schritt rasch weiter. Ein herrlicher Abend folgte dem Gewitter, erfrischende Kühle lockte nach der Schwüle des Tages ins Freie.

Fritz schritt sinnend die Dorfstraße hinab in den Grund. Ein warmes Rot lag eben auf dem jenseitigen Stammberg, der ganz in Licht und Farbe getaucht war; die Fenster der Bergdörfer brannten in rotem Feuer. Die Sonne ward noch einmal völlig frei, neigte sich jedoch rasch zum Untergang. Süßer Abendfriede lag ausgegossen über die Welt. Fritz war bewegt; tief hatte ihn die Frömmigkeit des Litennikele erschüttert. Der arme Tagelöhner stand in der erhabenen Ruhe eines Weisen vor ihm, den nichts mehr überrascht, nichts erschreckt. Wie eine Erleuchtung war ihm aufgegangen: das ist jene innere Vollendung, jene volle Erfüllung des Lebens, nach der ich so lange vergebens suche; was ich sein möchte, der Alte ist es! Und nun quälte ihn der Zweifel: sollte wirklich nur der positive Glaube die innere Vollendung ermöglichen? Eine heiße Sehnsucht nach dem Paradies seines kindlichen Glaubens erwachte, neu wurde der Schmerz über ein verlornes Glück, dessen Wert er nicht zu schätzen gewußt, solange er es besaß.

Noch ein andrer Zwiespalt lag in seiner Seele. Er liebte Mathilde, gewiß; grade jetzt in stiller Abendstunde erwachte seine Sehnsucht nach ihr mit doppelter Stärke. Aber die ganze, ungeteilte Hingabe seines Wesens an das Mädchen – das war vorbei! Es war ein kaltes, dunkles Etwas zwischen ihn und sie getreten.

Und wunderlich: Mathildens Bild thronte nicht mehr allein in seinem herzen. Neben der stolzen, selbstbewußten Schönen stand ein bescheidenes, demütiges Mädchen! – Und wunderbar! der Gedanke an das einfache Bauernmädchen legte sich wie milder Abendschein in sein verdüstertes Gemüt. Mit Ruhe und Gleichmut blickte er in die Zukunft.

So hatte er talaufwärts die Stelle erreicht, wo der Windsberger Kirchstein die Chaussee schneidet und in kürzester Frist nach Bergheim führt.

In der Stube erwartete ihn Robert und schalt verdrießlich über sein langes Wegbleiben. Das Gespräch wendete sich sofort auf die Ereignisse der Pfingstnacht. Robert meinte: »Gefreut hat mich's, daß du den groben Bauern einmal gründlich die Wahrheit sagtest; aber in deiner Haut möchte ich auch nicht stecken! Herrje! Das ist ein Aufruhr in allen Dörfern drei Stunden im Umkreis; er könnte nicht größer sein, hättest du den Herzog selber auf offner Straße geprügelt!«

»Glaub's wohl!« lachte Fritz. »Und was wird über mich geredet?«

»Werde mich hüten, das wieder zu sagen! Heiliger Gott! in deiner Haut möchte ich nicht stecken! Aber – hör' einmal – du bist doch ein rechter Heimlichkeitskrämer. Hast du mir gar nichts von deiner Reise zu berichten?«

»Wohl mancherlei! – Das später, bin heute nicht in der Stimmung!«

»So! – nicht in der Stimmung! – Ei du Heuchler! Leugne nur nicht, gesteh's: wann ist Verlobung?«

»Bist du bei Trost?« rief Fritz ärgerlich. »Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß wir in Bergheim und Umgegend sehr genau wissen, warum der Herr Lehrer Friedrich Reinhardt die Bauernmädchen so gründlich verachtet! Ja, es ist dorfkundig, wie genannter Herr auf dem Bahnhof einem ›grausam fürnehmen‹ und ›mordsmäßig schönen‹ Fräln gar arg schön getan hat! Wagst du noch zu leugnen?«

»Ekelhafte Klatscherei!« fuhr Fritz auf. »Und von wem ging das Gewäsche aus?«

»Auch damit kann ich dienen. Die alte Botenkunnel war auf dem Bahnhof, als ihr nach Thüringen abreistet! Sie hatte natürlich nichts Eiligeres zu tun, als nach ihrer Heimkunft Haus für Haus die Wundermäre zu berichten. – Darf man gratulieren? – Und wer ist die stolze Schöne?«

»So weit ist es noch nicht, aber dir will ich im Vertrauen gestehen, daß mir Fräulein Mathilde Werner allerdings nicht gleichgültig ist!«

»Hurra, hoch!« schrie Robert. »Gott sei Dank! Muß dir sagen, daß ich dir doch nicht traute – von wegen Fräulein Lina nämlich! Höre, ich hoffte Fräulein Lina bei dir oder wenigstens abends im Dorf zu treffen, und nun gießt es wieder wie mit Eimern! Hilf, rat! wo treffe ich das göttliche Mädchen?«

»Mußt sie eben suchen!«

»So hilf – komm mit!«

»Danke! Viel Vergnügen!« rief er dem verdrießlich Davoneilenden nach.

Fritz war einsam im dunkeln Zimmer, preßte die Stirn an die kalten Scheiben und lauschte dem rauschenden, klappernden Regen, den dann und wann ein plötzlicher Windstoß heftiger an die Schieferwand des Schulhauses warf. Aus dem engen, befriedeten Kreis seiner Berufstätigkeit war er herausgetreten, und schon regte sich allerorts eine Bewegung gegen ihn. Feindliche Mächte rüsteten sich, seine natürlichen Verbündeten fielen ab, selbst die Teilnahmlosen waren ihm nicht günstig gesinnt.

Er fand nicht sofort die nötige innere Geschlossenheit und Ruhe, aber das war ihm klar: zurück konnte und durfte er nicht. Wie es auch ausfallen, wie man ihn auch beurteilen mochte – er mußte durch! Ruhiger suchte er sein Lager – freilich Ruhe fand er nicht!

Um dieselbe Zeit war auch Anna allein im dunkeln Kämmerlein, preßte auch ihre Stirn an die Scheiben, und während draußen der Regen an ihnen niederströmt, benetzen sie innen ihre Tränen. Ja, Anna weinte und rang die Hände; der erste große Schmerz des Lebens drückte ihre Seele zu Boden.

Lange war das frische, schöne Mädchen wie träumend durch die Welt gegangen, wie viele Bursche sich auch um sie bemühten, keiner löste den in ihrem Herzen schlummernden, ahnungsvollen Zauber. Auch noch Fritz gegenüber blieb sie lange im unklaren über ihr Gefühl, obgleich er sogleich bei seinem ersten Erscheinen bedeutenden Eindruck auf sie machte. Erst jener Pfingstmorgen machte ihr zur süßen Gewißheit, daß sie ihn liebe.

Anna fragte nicht, ob ihre Liebe auch Erwiderung finde, das eigne Gefühl erfüllte ihre ganze Seele. Erst der Abend brachte diese Frage, ach – zugleich die schmerzliche Erkenntnis, daß Fritz ihr Empfinden nicht teile. Wohl durchzuckte sie ein heißer Schmerz, allein sie blieb gefaßt, glaubte sich stark genug, zu entsagen. Sie entsagte dem Besitz des Geliebten, aber sie wußte ihn frei, niemand stand zwischen ihr und ihm, und unbewußt klang durch all ihr Empfinden und Denken ein unausgesprochenes: Vielleicht!

Da kam die Botenkunnel mit ihrer Nachricht. Es war gut, daß sie erst nach vollbrachter Tagesarbeit den Herrnbauershof aussuchte, daß es bei ihrer Erzählung ziemlich dunkel in der Stube war und so niemand die heimliche Entfernung Annas bemerkte. Zum Glück hatte auch Margaret ein Stelldichein mit dem Beckenkarl verabredet; so konnte Anna in Einsamkeit und Stille den ersten Sturm des Schmerzes austoben lassen. Ach – jetzt, da Fritz wirklich für sie verloren war, jetzt empfand sie erst, was es heißt: entsagen! Nicht allein der Schmerz zerriß ihre Seele, oft auch kam dazu ein eifersüchtiger Zorn auf die Glückliche, die Fritz besitzen sollte. Aber all diese nächtlichen Schatten konnten nicht bleibend ihre Seele verdüstern; ihr Herz war zu mild und gütig, als daß ein Unmut bleibend darin hätte aufkommen können. Sie weinte sich aus und betete nur noch um Kraft und Stärke, ihr schweres Los zu tragen. – Ihre Blässe, die verweinten Augen entschuldigte sie am Morgen mit heftigem Kopfschmerz, niemand beachtete ihr verändertes, noch mehr nach innen gekehrtes Wesen, das schwermütige Lächeln, das so oft die feinen Lippen umspielte. Sie kämpfte hart und schwer, und noch stand ihr das schwerste bevor, das Wiedersehen.

Und sie sah ihn – wie treu und gut seine Worte klangen; wie er sich mit so herzlicher Teilnahme der Armen und Leidenden erbarmte! – Welches Glück, mit ihm vereint zu sein! – Anna rang die Hände, und ihre Tränen rieselten an den Scheiben nieder – vorbei! – vorbei für immer!


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