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Dreißigstes Kapitel

Die Abendglocke tönte verhallend von Bergheim herauf in die waldige Schlucht, durch welche Reinhardt, von Dammsbrück und Einzelberg kommend, dem Dorfe zuschritt. Mild klangen die trauten Töne herein in den Waldgesang, in das Brausen und Sausen droben in den Wipfeln der gewaltigen Tannen, in das Murmeln des Quells drunten in moosiger Felsschlucht. Reinhardt, sonst so empfänglich für alle Naturlaute, blieb heute ungerührt: nur ein tiefer Atemzug hob seine Brust, als er jetzt bei den Tuffsteinbrüchen ins Freie trat, und es dürfte schwer zu sagen sein, ob ihn der Anblick des stattlichen Dorfes zu seinen Füßen, über dessen rotbraunen Dächern so heimelig anmutend eine leichte blaue Wolke schwebte, diesen Seufzer auspreßte, oder ob er der grauenvollen Wildnis des Waldbruches dicht nebenan galt. Reinhardt lehnte sich auf seinen Stock, kreuzte die Arme über der Brust und murmelte: »Und darf ich klagen, daß ich als Ausgestoßner herumirren muß, wo ich so gerne meine Heimat finden möchte? – ›Haben Sie auch bei uns einwurzeln wollen?‹ Wer hätte geahnt, daß der Schulbauer mit diesen Worten mein Urteil sprach! Ja, ich irrte schwer, aber ich büße diesen verhängnisvollen Irrtum fast allzu hart.«

Reinhardt ließ den Kopf auf die Brust sinken und schien nicht zu bemerken, daß allmählich die Nacht ihren Mantel über die Erde breitete. »Warum ziehen sich die Freunde von mir zurück, statt mich offen und ehrlich zur Rede zu stellen? Mein Gott! wenn sich meine Ahnung bestätigt, wenn es wirklich dieser Verdacht ist, der meinen Namen schändet, wie soll ich meine Ehre reinigen, ohne wortbrüchig zu werden? Wie mich retten, ohne Robert dem Verderben preiszugeben? Und es ist so – es ist so!«

Mechanisch setzte er sich in Bewegung, stolpernd schritt er den Berg hinab, oft griff er an die fieberheiße Stirn, wie um die furchtbaren Gedanken, die dahinter arbeiteten und wühlten, zu beschwichtigen. »Gewißheit! – heute noch Gewißheit!« murmelte er, als er in die Heckenwege einbog.

Eine dunkle Gestalt stand mitten im Weg. »Sind Sie es, Herr Lehrer?« hörte er den Beckenkarl fragen, als er ausweichen wollte. »Ich habe mit Ihnen zu reden, schwere Dinge! Kommen Sie, in einer der Höhlen der Tuffsteinbrüche sind wir wohl sicher vor Lauschern!« Ohne Antwort abzuwarten, schritt er den Weg, den Reinhardt gekommen, zurück, und der Lehrer folgte ihm stillschweigend. In den Steinbrüchen fühlte sich Reinhardt an der Hand ergriffen, dann ging es über rollende Schutthaufen in eine schwarz durch die Nacht heraufgähnende Tiefe.

»Wir sind wohl eigentlich Feinde«, begann Karl mit heiserer, unsicherer Stimme. »Unterbrich mich nicht, laß mich reden, es ist jetzt nicht Zeit zu Auseinandersetzungen! Wir sind eigentlich Feinde; allein du hast mir ja oft versichert, daß du mir meine Torheit nicht nachträgst, und ich wüßte niemand, an den ich mich wenden könnte. Überdies geht dich die Sache auch nahe genug an. – Also, kommt heute die Schulzenmarie zu mir ins Haus, kann vor Weinen lange nicht zu Worte kommen, sie habe ein Gespräch zwischen ihrem Vater und dem Jockenhannes angehört – anhören müssen. – Ihr Vater, der Schulz, war wie toll auf den Hannes eingestürzt: wo das hinauswolle mit der Holzgeschichte? Warum er dem Herrnbauer und dem Ungerskasper nicht widerstanden? Warum er sich zu der tollen Geschichte in der Gemeindestube habe treiben lassen? Was nun werden solle, wenn die betrügerische Grenzsteinsetzung an den Tag komme? Der Hannes habe auf alle solche Klagen und Vorwürfe lange nicht geantwortet, endlich sei er mit solch wildem Toben und Fluchen gegen den Wagnerspaule losgebrochen, daß ihr das Herz gezittert habe. ›An allem ist der Lump, der Gauner und Erzhalunke schuld!‹ habe Hannes geschrien, ›Der Paule schwätzte mir die Geschichte mit der Urkunde ein und ruhte nicht, bis ich auf die Leimrute ging! – Warum ich mich zu der Geschichte in der Gemeindestube habe treiben lassen? Was blieb mir übrig, nachdem einmal die Lagsteine aufgedeckt waren, diente an das Tageslicht hätten kommen sollen? Was wollte ich machen, dem stierköpfigen Herrnbauer gegenüber? Sollte ich's darauf ankommen lassen, daß er, bei fortgesetzter Weigerung unsererseits, in seiner sinnlosen Wut unser ganzes Geheimnis auf einmal bloßlegte? Ist mir schwer genug 'worden, in die Verkündigung unsrer Ansprüche zu willigen; das weiß der Teufel! es war eben der einzige Ausweg, der uns blieb. Wenn nichts anderes, haben wir wenigstens Zeit gewonnen, das ist schon immer etwas! Und jetzt gilt's eben, alle Gedanken zusammennehmen, um einen Ausweg zu finden; der Ungerskasper. besonders der Herrnbauer, müssen für uns die Zeche bezahlen, so oder so: jetzt gilt's unsre Köpfe durch die Schlinge ziehen und sie allein in der Falle stecken lassen! Danach war's abermals zu einem heftigen Streit zwischen den Männern gekommen, endlich wurden sie aber doch einig: was sie weiter verhandelten, konnte Marie nicht mehr verstehen. – Sei nur still, ich weiß, was du sagen willst. Es ist klar, daß hier ein schändlicher Betrug vorliegt, nicht minder gewiß, daß der Herrnbauer den bübischen Ränken des Hannes zum Opfer fiel. Kein Jammern und Klagen hilft darüber hinweg, der Herrnbauer hat sich zur Grenzverrückung verleiten lassen. Kommt das an den Tag, ist er ein verlorener Mann! Die Gefahr ist groß: morgen schon ist die erste Gerichtsverhandlung in der Waldgeschichte. Es gibt nur eine Rettung für den Herrnbauer: so schnell als möglich, heute noch, muß er sich mit seinen Gegnern vergleichen. – Nur so kann er vielleicht noch von den Gerichten und vom Hannes loskommen. Aber bald muß der Vergleich geschlossen werden, heute noch, verstanden? Dazu sollst du helfen, deswegen habe ich dich erwartet. Frage nicht weiter, rede nicht: du kennst jetzt alle Verhältnisse so genau als ich: an dir liegt's nun, großes Leid von der Familie abzuwenden. Gern ginge ich selber ins Herrnbauernhaus, den Bauern zu warnen, Gott allein weiß es, wie gern! Aber ich habe mich dort fremd gemacht, handle du für mich mit. – Ja, und noch eins: grüße Margaret. Sage ihr, ich hätte sie immer geliebt und nie vergessen. Für meine Torheit hätte ich grausam gebüßt, und die Strafe würde erst mit meinem Tode enden. In Deutschland sei meines Bleibens nicht, in Amerika wolle ich versuchen, ein neues Leben anzufangen. Sage ihr, ich würde sie niemals vergessen, ich würde ledig bleiben. Ja, das sage ihr, und ich lasse ihr alles Glück wünschen, und wenn sie in Freundlichkeit manchmal an mich denken wolle, sollte mir das ein rechtschaffener Trost sein. So – und nun eile, du hast keinen Augenblick mehr übrig.«

Ehe Reinhardt ein Wort entgegnen konnte, war er allein. Sein Auge hatte sich an die Finsternis gewöhnt, als grauer Nebelbogen zeichnete sich der Ausgang der Höhle vom dunkleren Hintergrund ab, darauf schritt er zu, tastete sich ins Freie, kletterte an den Schutthalden empor und ohne erst heimzukehren, eilte er sogleich in den Herrnhof.

Es war eine jener finsteren Nächte, wie sie dieser Jahreszeit eigentümlich sind. Alle Wohnzimmer im Dorf waren ungewöhnlich hell erleuchtet, aus den Fenstern fluteten breite Lichtströme auf die Straßen; und Fritz war es, als huschten viele dunkle Gestalten, einzelne hell bestrahlte Gesichter an ihm vorüber; auch traf ein verworrenes Summen und Brausen, das Geräusch halb unterdrückter Stimmen sein Ohr. Zu jeder anderen Zeit würde ihm diese ungewöhnliche Bewegung in dem sonst so stillen Dorf aufgefallen sein; heute achtete er aber nicht darauf, eine unsägliche Angst trieb ihn vorwärts.

Auch der Herrnhof war hell erleuchtet. Reinhardt erschrak, als ihm auch aus der oberen Stube Licht entgegenschimmerte. Als er die hohe, runde Steintreppe emporstieg, sah er den Bauer hastig im Zimmer auf und ab gehen und mit geballten Fäusten vor sich hin in die Luft schlagen; aus seinen Augen blitzte ein Strahl boshafter Freude, um seinen Mund zuckte giftiger Hohn und Triumph. Der Bauer fluchte und wetterte, Reinhardt glaubte mehrmals seinen eigenen Namen hindurchzuhören. Die Magd, die ihm erst nach langem Klopfen öffnete, zeigte verweinte Augen und prallte bei seinem Anblick erschrocken zurück. Wie einer unwillkürlichen Regung folgend, drückte sie die Tür wieder ins Schloß und eilte in den oberen Stock. Fritz hatte nicht Zeit, über seine sonderbare Lage zu grübeln; vorsichtig wurde abermals der Riegel zurückgeschoben, Reinhardt fühlte sich an der Hand ergriffen, in das Haus, durch einen endlosen Gang in eine dunkle Kammer gezogen. Seine Hand wurde frei, die Türe schloß sich unhörbar, ein Feuerzeug klapperte; als endlich nach langem, vergeblichem Mühen das Licht brannte, stand Reinhardt Margaret gegenüber. – Aber wie sah das Mädchen aus! Reinhardt trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Eine erschreckende Blässe deckte ihr Gesicht; mit beiden Händen mußte sie sich an den Tischrand klammern, um nicht umzusinken, ein Zittern lief durch ihren Körper, und die weitgeöffneten, unnatürlich glänzenden Augen starrten mit solchem Ausdruck des Entsetzens auf ihn, als sei er wirklich ein Geist und nicht ein Wesen von Fleisch und Blut.

»Margaret!« rief Reinhardt, dem es vor den Ohren zu klingen begann, im Tone tiefsten Schmerzes.

Heftig winkte ihm das Mädchen zu schweigen, sie konnte nicht reden, ein Tränenstrom entstürzte ihren Augen; sie warf sich aufs Bett und vergrub ihr Gesicht in die Kissen.

Reinhardt strich sich mehrmals über Stirn und Augen, fühlte, wie seine Gedanken sich zu verwirren begannen; gewaltsam die Betäubung abstreifend, fügte er: »Margaret – was bedeutet das?«

Das Mädchen mußte seine Anwesenheit vergessen haben, heftig fuhr sie empor und starrte ihm mit weit aufgerissenen Augen in das Gesicht. Erst nach und nach schien ihr ein Verständnis der Situation aufzudämmern, die Verwirrung wich von ihrem Gesicht, aber nur, um dem Ausdruck tödlichsten Schreckens Platz zu machen. Zitternd, die Hände ringend, flüsterte sie: »Reinhardt – Sie hier – hier in diesem Hause? – Wissen Sie nicht, fühlen Sie nicht – o mein Gott im Himmel! – haben Sie wirklich das Herz, uns – o ich weiß nicht, was ich rede, die ganze Welt dreht sich um mich! Um der blutigen Wunden unsres Heilands willen, Reinhardt, mußte das sein?«

»Margaret! Was bedeuten deine Worte, was ist geschehen?«

Das Mädchen hatte sich aufgerichtet, mit einem unbeschreiblich kummervollen Blick sah sie auf Reinhardt nieder. »Auch das noch? Und Sie scheuen sich wirklich nicht, mir unter die Augen zu treten? Und wenn Ihnen unser Jammer nichts gilt, sollten Sie nicht den gerechten Zorn des Vaters fürchten, der –«

»All die vielen Worte sind mir völlig unbegreiflich!« rief Fritz aufwallend, alle Vorsicht vergessend. »Wohl ahne ich, daß ein schweres Unglück über mich hereingebrochen sein muß, wozu dann aber diese geheimnisvollen Reden, da dir meine Bestürzung gesagt haben muß, wie gänzlich unvorbereitet mich dieser Schlag trifft? – Sprich! mache dieser Folter ein Ende! Rede – wessen beschuldigt man mich?«

Statt der Antwort verhüllte Margaret mit lautem Jammerruf das Gesicht. Mit steigender Heftigkeit fuhr Reinhardt fort: »Du schweigst? Also auch hier bin ich verurteilt, ohne daß mir nur ein einziges Wort zu meiner Verteidigung gestattet wäre?«

Ein wilder Schrei auf dem Gang unterbrach ihn. »Wer ist's? Fluch und Verdammnis! – er – er in meinem Haus?« brüllte der Herrnbauer und schlug dröhnend mit den Fäusten an die Tür. »Aufgemacht! ich will dem Vogel zeigen, was es heißt, sich mit Gewalt in ehrliche Familien eindrängen! Aufgemacht! ich will ihn zeichnen, den Buben! Aufgemacht! oder ich trete die Türe ein, und Gnade Gott dem, der dem Hund in mein Haus geholfen!«

Reinhardt trat erbleichend zurück, Margaret stand hoch aufgerichtet und lauschte trocknen Auges dem Toben des Vaters, der dumpf brüllend an der Tür arbeitete. »Auch das noch!« stöhnte das Mädchen. »Fort, fort jetzt, Reinhardt, hier gilt kein Besinnen! So lieb dir dein Leben ist,« flehte sie mit gerungenen Händen, »um Annas und meines Vaters willen – fort! Das Fenster ist niedrig – schnell, schnell!«

»Aber du? Was wird mit dir?« rief Reinhardt.

»Fort, fort!« schrie Margaret in Verzweiflung. »Willst du uns mit Gewalt unglücklich machen?«

Ein Sprung brachte Reinhardt ins Freie, im selben Augenblick sprang auch die Tür krachend auf und der Herrnbauer stürzte in die Kammer. Reinhardt, unfähig sich zu bewegen, lehnte am Stamm eines Apfelbaumes. Der Herrnbauer stand sekundenlang regungslos, ein Röcheln rang sich keuchend aus seiner Brust los. Dann erst schien er Margaret zu bemerken, und nun wendete sich all sein Zorn gegen das Mädchen. Reinhardt stand mehrmals auf dem Sprung, in die Kammer zurückzukehren, sich zwischen Vater und Tochter zu werfen. Aber sein Beistand war unnötig. An der unerschütterlichen Ruhe des Mädchens zerschellten die Wogen des väterlichen Zornes. Mehr als einmal hob der wilde Mann die Fäuste gegen sein Kind, immer wieder ließ er sie langsam sinken. Schritt für Schritt wich er zurück, und als könne er ihren Blick nicht ertragen, verließ er endlich fluchend die Kammer. Margaret lauschte seinen Tritten, als sich endlich die Stubentür hinter ihm geschlossen, sank das Mädchen weinend auf die Knie, leise wimmernd rang sie die Hände; sie schien nicht beten zu können; verzweiflungsvoll den Kopf schüttelnd, verließ auch sie die Kammer. Reinhardt erinnerte sich später dieser Vorgänge wie eines dunkeln, wüsten und wilden Traumes. Eines klaren Gedankens war er längst nicht mehr mächtig, lediglich von der furchtbarsten Seelenangst getrieben, eilte er ziellos durch die Nacht und erschrak fast, als er plötzlich vor dem Sülzdorfer Schulbauernhaus stand. Anna mußte er sehen und sprechen, sie mußte über seine Zukunft entscheiden. Leise klopfte er an das Fenster, ein Zittern ging durch seine Glieder, was wird der nächste Augenblick bringen? Leben oder Tod? – –

Er mußte wohl erwartet worden sein. Noch während er pochte, öffnete sich leise die Haustür, weiche Arme schlangen sich um seinen Hals, heiße Küsse brannten auf seinen Lippen, sein Gesicht wurde mit Tränen überströmt.

Lange hielten sich die Liebenden sprachlos umschlungen, keines wagte das erste Wort zu sprechen aus Furcht vor der Unterredung, die doch folgen mußte. Endlich brach Reinhardt das Schweigen; hastig, so kurz als möglich, berichtete er seine Erlebnisse im Herrnhause. »Was ist das, Anna? Wessen beschuldigt man mich?«

Erschreckend ließ ihn Anna los. »Gott im Himmel! Du weißt nichts? Und nun kommst du zu mir? Von mir willst du Aufklärung? – O mein Gott!«

»Also auch hier verurteilt und verstoßen?« flüsterte Reinhardt heiser und stieß das Mädchen von sich. »Und noch immer weiß ich nicht, um was es sich handelt! Rede, Mädchen! wenn deine Liebe keine Lüge – sprich! Was es auch sein mag, ich will es wissen. Sprich, Anna! mache der Qual ein Ende! Diese Ungewißheit macht mich noch wahnsinnig.«

»Nein, Geliebter! – Alles, was ich bin und habe, ist dein; Blut und Leben gebe ich für dich mit Freuden – nur das eine kann ich nicht! Wie wollte ich dir jemals in die Augen sehen, würden diese bösen Worte meinen Lippen entfliehen? – Nein, mein Reinhardt, dringe nicht in mich, quäle mich nicht! Eher sterben als das aussprechen! Eile, Reinhardt, daheim wirst du Aufklärung finden, von mir verlange nicht das Unmögliche. Laß dir mein Schweigen gelten als ein Zeugnis meiner unwandelbaren Liebe, meines felsenfesten, unerschütterlichen Vertrauens auf dich. Wie dich auch die Welt verurteilt und beschimpft – ich glaube an dich! Und nun Fassung, Fritz! – Mut, Geliebter! Schwere Dinge harren deiner, aber nur Mut! ich weiß, es muß noch alles gut werden!«

Liebkosend strich sie ihm die verwirrten haare glatt, fest drückte sie ihn an ihr wild schlagendes Herz, mit Küssen bedeckte sie seinen Mund. »So, und nun gehe, daheim ist deine Anwesenheit nötig! Vergiß nicht, ich bin und bleibe dein, immer, unter allen Umständen! Gott segne dich, mein Einziger! Glaube, wir sehen uns fröhlicher wieder!«

Fritz stand einsam in der stillen Nacht. Von einer Sorge hatte ihn Anna befreit; mit feuchtem Auge hob er die Arme dankend zum Himmel. – Freilich hatte sie auch seine Ungewißheit vermehrt. Anna sprach von einem Geschehenen – damit konnte sie doch nicht ein bloßes Gerücht meinen! Daheim sollte er Aufklärung finden – wie aber die Ungeduld so lange ertragen? Sie war näher zu haben – Robert mußte Aufschluß geben! – Kaum gedacht, war er schon auf dem Weg zur Schule. Das Haus war öde und verlassen, wohl eine Viertelstunde pochte Reinhardt an Tür und Laden – keine Antwort. Endlich öffnete sich in dem Nachbarhaus ein Fenster, und eine Alte, die Reinhardt als Roberts Aufwärterin kannte, rief ihn mürrisch an: »Herr Jeses, was gibt's denn? So lärmt doch nicht so arg. Wer seid Ihr denn eigentlich?«

»Wo ist der Herr Lehrer?« fragte Reinhardt kurz.

»Ach, du lieb's Herrgottle im hohen Himmel droben, ist's denn möglich, seid Ihr's wirklich selber, Herr Schulmeister?« schrie die Alte im Ton tiefsten Entsetzens. »Ach du lieber Gott! mir zittern alle Glieder! Ha, sagt mir nur um alles in der Welt, Herr Schulmeister, ist's denn wahr, was Euch die Leute nachreden? Ach Jeses, Jeses – –«

»Wo ist Euer Herr Lehrer?« unterbrach Reinhardt den Wortschwall.

»Ach, du Herjedig! so laßt einen doch erst zu Atem kommen. Unser Herr Schulmeister? Daß sich Gott erbarm'! – und von dem Jammer wißt Ihr auch noch nichts? Der ist ja heut', kein Mensch denkt an was Unrecht's, auf einmal todsterbend krank geworden, hat sich auf'm Fleck auf die Eisenbahn fahren lassen und will nun heim zu seinen Eltern, da er in Sülzdorf doch niemand hat, der sich so recht seiner annehmen könnte. Aber so redet doch, ist' –«

»Ich danke!« entgegnete Reinhardt kurz und hatte längst das Dorf hinter sich, ehe die Alte sich von ihrem Erstaunen erholte.

Robert krank? So plötzlich? Und sogleich nach Hause abgereist, nach der Heimat, die er bis heute fast allzu auffällig gemieden? Was war hier geschehen? – Waren schlimme Nachrichten von der Hauptstadt eingelaufen? Hatte die Dirne, die Fesseln des Justizrats Stein durchbrechend, ihre Drohungen wahr gemacht, sich auf kürzestem Wege die Anerkennung ihrer Rechte erzwungen? Es war gar nicht denkbar, daß dieser Fall eintreten konnte; und wenn, dann hätte gewiß Justizrat Stein ihn von dem Scheitern seiner Verhandlungen in Kenntnis gesetzt. Nein, das war es nicht – aber was sonst? Und wenn nun seine Ahnung eintraf, wenn das Gerücht ihm die Schande auflegte, die er von Robert abwenden wollte, wie sollte er seine Ehre retten, ohne den Freund preiszugeben? –

Von einer wahren Todesangst gehetzt, jagte er, keines Hindernisses achtend, querfeldein Bergheim zu.

Das Dorf war finster und stille geworden, nur in der Schule war noch Licht. Die Haushälterin mußte ihn erwartet haben. Atemlos stürmte er in das Zimmer, auf dem Tisch lag ein großes amtliches Schreiben, zitternd riß er es auf und sank totenbleich auf das Sofa zurück – das hatte er nicht erwartet: er war seines Amtes entsetzt! – –

Das Weinen und Klagen seiner Haushälterin erweckte ihn aus seiner Betäubung. – Der Schlag kam eigentlich nicht unvorbereitet, schon lange hatte er diesen Ausgang erwartet – nun er aber Wirklichkeit geworden, traf er ihn doch wie ein gänzlich Unvorhergesehenes.

»Ja, ja, es ist so, Frau Kräußlich!« sagte Reinhardt träumerisch weich, »ich bin abgesetzt!«

Die Frau, die Reinhardt in letzter Zeit so oft gequält, haschte nach seiner Hand und drückte sie schluchzend an ihre Lippen. »O Herr, das ist ja nicht möglich, das kann ja nicht sein! Mögen die Leute sagen, was sie wollen, – nein, nein, so weit kann es nicht kommen! Der Lichtennikele hat's auch gesagt, und der glaubt auch nicht an die Sülzdorfer Geschichte, und im Grunde glaubt kein Mensch daran, und alle Nachbarn warten bloß darauf, daß Sie sagen: es ist nicht wahr! und dann sollen Sie sehen, wer Sie von Bergheim wegbringt!«

Reinhardt griff an den schmerzenden Kopf. Tonlos hauchte er: »Und wenn ich das nun nicht sagen könnte?«

Die Frau blickte erschrocken auf. »Aber Sie werden es sagen. Ich weiß es, und der Lichtennikele weiß es auch. Und wenn Sie es nicht sagen wollen, dann tu' ich's – gewiß und wahrhaftig! Was? – ich bin eine alte Frau und versteh' mich auf so was, und sollte fünf Jahre um Sie sein und das nicht sagen können? Und auch andere werden für Sie zeugen, zuerst einmal der Schulbauer und der Lichtennikele, und was weiß ich? Und das müßt' doch mit dem Teufel zugehen, wenn ehrliche Menschen mit dem Jockenhannes und dem Pfarrer – die beiden haben Ihnen doch bloß die Brühe eingebrockt – nicht sollten fertigwerden! Ach was da, Herr Lehrer, am Ende ist die Geschichte gar nicht einmal so schlimm, solchen Lärmens gar nicht wert. – Und jetzt tun Sie mir einmal den Gefallen und nehmen Sie den Zettel da einmal gründlich vor. Sie haben ihn ja kaum angesehen! Daß man doch auch endlich in Wahrheit erfährt, wie die Sachen eigentlich stehen!«

»Und warum erfahre ich erst jetzt, welche Gerüchte über mich umgehen?« fragte er unmutig. »Das ganze Unglück konnte vermieden werden, wenn ich rechtzeitig gewarnt wurde!«

Die Frau trat erbleichend zurück: »Mein Gott, was sagen Sie? O, Herr Lehrer, wer hätte es übers Herz bringen können, Ihnen solche Dinge zu sagen? – Aber jetzt nehmen Sie das Schreiben vor – es steht gewiß nicht so schlimm, als wir fürchten!«

Fritz schüttelte den Kopf. Allerdings war von förmlicher Absetzung nicht die Rede; allein was an seine Stelle trat, war im Grunde wenig besser. Vieler und schwerer gegen ihn eingelaufener Klagen wegen war Reinhardt vorläufig von allen dienstlichen Verpflichtungen suspendiert und sogleich auf morgen nach Haidach vor das Kirchen- und Schulamt zur ersten Vernehmung geladen. Als die Haushälterin in Jubel ausbrach, schüttelte Reinhardt traurig den Kopf und sagte: »Gute Frau Kräußlich! – glauben Sie mir, mein Schicksal ist so gut wie besiegelt! Die Vernehmung ist nur noch eine Form – denn daß die Herren droben ihrer Sache sicher sind, das beweist zur Genüge die rücksichtslose Härte ihres Vorgehens!«

»Gott behüte uns vor solchem Unglück!« rief die Frau. »Nein, das kann ja nicht sein! Sie werden sich rechtfertigen – und was kann man Ihnen dann anhaben?«

Reinhardt war aufgesprungen. »Frau Kräußlich,« keuchte er, »wissen Sie es wirklich gewiß, daß – ob man wirklich als Grund meiner Absetzung die Geschichte –«

»O lieber Gott im Himmel, wie wäre daran zu zweifeln? Weiß ich es doch aus des Pfarrers eigenem Mund!«

»Wo trafen Sie mit dem zusammen?«

»Mein Gott, wo sonst als hier in dieser Stube?«

»Walter? – Und was hatte der hier zu suchen in meiner Abwesenheit?«

»Ei, eben in Ihrer Abwesenheit sehr viel, meine ich! Er verlangte durchaus die Schlüssel zum Lehrzimmer und zum Schulbücherschrank.«

»Ha!! – Und Sie?«

»Bin eine Lehrersfrau, Herr Reinhardt, konnte mir so ungefähr denken, was das bedeutete. Und so erklärte ich dem geistlichen Herrn kurz und rund, die Schlüssel kämen ein für allemal nicht aus meinen Händen. – Hu, prasselte der Herr auf, am liebsten hätte er mich wahrscheinlich zum Hause hinausgeworfen. Gut, schrie er, dann werde ich mir den Eingang gewaltsam verschaffen! Da sagte aber der Lichtennikele, der Lärm hatte ihn herbeigezogen: »Halt da, Herr Pfarrer! Was mit dem Herrn Lehrer vorgegangen ist, weiß ich nicht, frage auch nichts danach, meinetwegen soll er auch abgesetzt sein, Sie werden das ja wohl am besten wissen. Aber ich leid's nicht, daß Sie wie ein Dieb hinter seinem Rücken über Reinhardts Sachen herfallen. Hand von der Butter, Herr Pfarrer! In der Schule haben Sie jetzt nichts zu suchen, das machen Sie mit dem Herrn Reinhardt selbst ab.« Der Lärm hatte mehr Leute herbeigezogen; sie alle stimmten dem Lichtennikele so laut bei, daß der Pfarrer in aller Stille abzog. Aber – da, sehen Sie, welches Denkmal er sich gesetzt hat!«

Die Haushälterin hatte das Licht ergriffen und leuchtete in den Hausflur. Reinhardt traute seinen Augen kaum – die Tür des Lehrzimmers, der Schulschrank waren mit Walters Petschaft versiegelt. Mit den Zähnen knirschend, riß Reinhardt die Siegel ab und trat in das Lehrzimmer.

Der eigentümliche Schulgeruch, der ihm entgegenwehte, die langen Reihen leerer Bänke, von denen ihm täglich so viel frische Kinderaugen voll Liebe entgegenleuchteten, das Lehrpult, das er jeden Morgen mit größerer Freude betrat, die Wandtafel und Wandkarten, Lese- und Rechenmaschinen, selbst Schwamm und Kreide – wie mutete ihn alles so wundersam an! Jetzt erst empfand er, wie fest er mit seinem Berufe verwachsen war, wie die Schule seine wahre Heimat geworden. Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen – von diesem Ort sollte er ausgetrieben werden wie ein Verbrecher, mit Schmach und Schande bedeckt! Ein heißer Zorn quoll in ihm auf, aber dieser Zorn wurde für ihn befreiend. Die Gegner mußten es eilig haben, ihn gänzlich loszuwerden; vielleicht auch hofften sie ihn zu überraschen, da sie ihn von heute auf morgen zur Verteidigung vorforderten und obendrein die Anklagepunkte verschwiegen – sollte er sich im ersten Anlauf niederwerfen lassen? Nein, nicht allein seinetwegen, auch der Kinder wegen mußte er feststehen. Allein auf sich die Entscheidung zu nehmen, durfte er nicht wagen – der Schulbauer aber war verreist, und wem sollte er sich sonst anvertrauen? Da kam es über ihn wie eine Erleuchtung; zu Justizrat Stein! Wer konnte besser raten und helfen als der edle Mann, der ihm in letzter Zeit mit solch wahrhaft väterlicher Vertraulichkeit entgegengekommen war? Ja, Stein mußte einen Ausweg finden, seine Ehre zu retten, ohne Robert dem Verderben preiszugeben!

Frau Kräußlich schüttelte verwundert den Kopf, als Reinhardt mit einer Ruhe und Bedachtsamkeit, die grell gegen seine eben noch gezeigte Aufregung abstach, seine Präparationshefte, Pläne und sonstigen Schriften zusammenpackte, sodann Pult und Bücherschrank sorgfältig verschloß, die Schlüssel zu sich steckte und dann in das Wohnzimmer zurückkehrte.

Nachdem er die Hefte weggeschlossen, sagte er tiefaufatmend: »So – nun mag Walter suchen! Ihnen, Frau Kräußlich, danke ich. Ihre Treue soll Ihnen unvergessen sein. Ich aber muß noch heute in die Hauptstadt – lassen Sie nur, hier hilft kein Bitten! Ängstigen Sie sich nicht zu sehr um mich, vielleicht kommt es doch anders, als Pfarrer Walter hofft.«

Ehe sich die Alte von ihrem Staunen erholte, hatte Reinhardt das Haus verlassen; zu spät fiel ihr ein, daß er wahrscheinlich nicht zu Abend gegessen – sie konnte ihn nicht mehr zurückrufen.

Fritz wanderte einsam durch die schweigende Nacht. Justizrat Stein war sein Trost – der Mann konnte helfen, er mußte es tun! Eine Abweisung fürchtete er nicht – wie aber, wenn der Mann vielleicht verreist war? Unwillkürlich beschleunigten sich Reinhardts Schritte, die alte Unruhe und Angst kam über ihn, der klare Schweiß perlte auf seiner Stirn. Bald wurde Reinhardt von einem wilden Heer der Sorgen, Befürchtungen und Einbildungen durch die Nacht gehetzt. Wie? – Wenn ihm Stein nicht helfen konnte, ohne Roberts Existenz auf das Spiel zu setzen! – Dann war der schändende Verdacht immer erst ein Klagegrund, in dem Schreiben aber stand ausdrücklich: »wegen vieler schweren Anklagen und Beschwerden!« Was konnten das für Klagen und Beschwerden sein? – Was sollte werden, wenn er sich verblüffen ließ? Wenn er sich im ersten Augenblick nicht zu helfen wußte, nicht die rechten Worte fand, sich verwickelte, widersprach? – Ein schmerzlicher Druck auf die Brust erschwerte das Atmen, und diese körperliche Pein vermehrte wieder seine Seelennot. Er sah sich schon verloren, seine Angst wurde zur Verzweiflung! Wie von Furien gehetzt, jagte er durch rauschende, brausende Wälder, aus deren Tiefe ihn höhnende, gellende Stimmen anriefen.

Endlich erreichte er das freie Feld, ein dunklerer Streif in der Ferne verkündete das Ziel seiner Wanderung – allein plötzlich fühlte er sich so schwach, ein Zittern ging durch seine Glieder, er mußte sich setzen. Ein wütender Heißhunger peinigte ihn, und jetzt erinnerte er sich, daß er seit Mittag nichts gegessen. Mühsam schleppte er sich fort, kalter Schweiß bedeckte seine Stirne – nur mit Aufbietung seiner ganzen Willenskraft zwang er sich vorwärts.

Zitternd schwankte er durch die Straßen der Stadt. Feurige Kreise rollten vor ihm durch die Luft, die Häuser begannen sich im Wirbeltanz zu drehen. Dennoch empfand er kaum die wütenden Hungerschmerzen, so groß war seine Aufregung – mußten nun doch die nächsten Minuten Entscheidung bringen, ob er auf Stein rechnen durfte oder nicht.

So schnell ging das nun wohl nicht mit der Entscheidung. Wohl eine Viertelstunde mußte Reinhardt läuten, ehe ein verschlafener Hausgeist erschien, um ihn zum Teufel gehen zu heißen, »hier sei weder ein Doktor noch 'ne Apotheke!« Nach viertelstündigem Verhandeln ließ endlich der Hausgeist Reinhardt ein, hieß ihn im Vorzimmer warten und ging ihn dem Herrn melden. Diesmal kam er überraschend schnell zurück: Reinhardt solle sich aufs Ohr legen und zu geeigneter Zeit wiederkommen, nachts gebe der Herr Justizrat keine Sprechstunden.

»Und ich muß ihn sprechen, sagen Sie ihm das, ich muß, und jetzt gleich, verstanden? Was zögern Sie noch, sehe ich aus wie einer, der die Leute zum Vergnügen aus dem Schlaf stört? Meinen Sie, ich sei drei Stunden zum Spaß durch die Nacht gerannt? Melden Sie mich auf jede Gefahr – ich muß den Herrn sprechen.«

Der Diener kraute sich verlegen die Haare, die Entschiedenheit Reinhardts wirkte aber doch: knurrend machte er sich abermals auf den Weg. Reinhardt, der das Sprechzimmer des Justizrats schon kannte, folgte ihm sogleich in den zweiten Stock. Fast unerträglich wurden die körperlichen und geistigen Qualen, die ihn peinigten: er fühlte, wie es mit seiner Kraft zu Ende ging.

Diesmal mußte Reinhardt wieder länger warten. Endlich öffnete sich die Tür des Sprechzimmers, der Justizrat, in einen dicken Schlafrock gehüllt, leuchtete mit hocherhobenem Licht hinaus in den Vorfall! und schrie Reinhardt gereizt an: »Plagt Sie der Teufel, Herr, oder sind Sie von Sinnen, daß Sie einen geplagten Menschen –« hier brach er plötzlich ab. kam rasch näher, sah Reinhardt forschend ins Gesicht, faßte ihn unter den Arm, führte ihn sorgsam wie eine Mutter in sein Privatkabinett, drückte ihn in den weichsten Sessel und fragte weich: »Mein armer, lieber Freund, was ist geschehen?«

Reinhardt konnte nicht reden, er zog das Regierungsdekret aus der Tasche und gab es dem Justizrat.

»Aah! – so, so!« machte der Justizrat. »Das erklärt freilich alles! Und haben Sie eine Ahnung – aber mein Gott! was ist Ihnen? Sind Sie krank?«

»Mir ist in der Tat sehr übel«, flüsterte Reinhardt, dem eine Ohnmacht zuging. »Ich glaube, ich habe seit vorigen Mittag nichts gegessen.«

Dunkel erinnerte sich Reinhardt, wie der lange Schlafrock des Justizrats in lächerlichen Sprüngen durch das Zimmer hüpfte, und wie sich der alte Joseph vergeblich bemühte, die wild gewordenen Schlippen einzusaugen. Dann stieg ihm ein köstlicher Braten- und Weinduft in die Nase: später stellte er tiefsinnige Betrachtungen darüber an, warum man nicht mit jeder Hand zugleich Messer und Gabel handhaben könne. Allmählich teilte sich der Nebel, der seine Umgebung verhüllte; die Gegenstände traten klar und bestimmt hervor. Er sah Joseph eilfertig Teller und Flaschen herbeischleppen, zuletzt sah er auch den Justizrat sich gegenübersitzen und ihn lächelnd beobachten. Beschämt legte Reinhardt Messer und Gabel nieder und stotterte: »Herr Justizrat, ich weiß nicht – ich muß wohl –«

»Einen schauderhaften Hunger gehabt haben! ha, ha, ha!« schrie der Justizrat, dem die Lachtränen über die Backen rollten. »So habe ich lange nicht einhauen sehen! beneide Sie wahrlich um Ihren Appetit! Stoßen Sie an, Reinhardt! der Wein wird Sie völlig restaurieren. Auf Ihr Wohl! – Und nun tun Sie mir den Gefallen und genieren Sie sich nicht; Sie sehen, die Vorräte reichen! Wenn Sie Ihre inneren Angelegenheiten geordnet, dann nehmen Sie eine Zigarre, und dann lassen Sie uns über Ihre äußerlichen Angelegenheiten plaudern. Vor allem aber, weder Dank noch Entschuldigung. Sie wissen, ich kann beides nicht leiden. – Noch eine Flasche Rüdesheimer, Joseph! – ah, da ist sie schon! Geh jetzt zu Bett, Alter; wir werden uns später schon allein zurechtfinden. – So, nun trinken Sie und lassen Sie hören. Die Suspension danken Sie Ihrem Pfarrer, natürlich! Und haben Sie eine Ahnung, welcher Art die dieser Suspension zugrunde liegenden Klagen sein könnten? – Echauffieren Sie sich nicht, ich verstehe Sie vollkommen, Ihre Verbindung mit mir ist aufgefallen, man hat unsern Verhandlungen nachgespürt und daraus bestimmte Urteile und Schlüsse gezogen. So so, hm hm! Die Sache ist vollständig klar. – Haben Sie vielleicht Anhaltspunkte, welche geeignet wären, möglicherweise ein Licht auch über die übrigen Anklagen zu verbreiten? – Keine? – nun das schadet nicht, wir werden ja sehen! – Mein lieber junger Freund, es freut mich von Herzen, daß ich in der Lage bin, Ihnen nützlich zu werden. Ich bin auf morgen ebenfalls nach Haidach ins Justizamt vorgeladen; ist es Ihnen recht, fahren wir zusammen nach dem Städtchen, und da mein Termin erst auf elf Uhr angesetzt ist, Sie aber schon um neun Uhr vorgeladen sind, so werde ich Sie vor das Kirchen- und Schulamt begleiten und Ihre Sache führen. Ich glaube,« setzte er lächelnd hinzu, »daß meine Gegenwart hinreichen wird, Ihre Angelegenheit in ein anderes Stadium zu heben. – Nur keinen Dank, keine Explikationen, ich kann dergleichen nicht leiden! Und nun kommen Sie, hier ist Ihr Zimmer, rauchen Sie gemächlich Ihre Zigarre zu Ende und dann schlafen Sie getrost, Ihre Angelegenheiten stehen gut! Die Hauptfrage ist schon zu Ihren Gunsten erledigt – eben heute habe ich den Vergleich mit dem bewußten Frauenzimmer abgeschlossen und ihr die Abfindungssumme ausgezahlt! Schlafen Sie ruhig, Reinhardt, wie es dem guten Gewissen zukommt, Ihre Ehre steht über jeder Anfechtung!«

Der Justizrat drückte die Tür leise ins Schloß.


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