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Zweiunddreißigstes Kapitel

»Genug! – Ich danke Ihnen, Reinhardt!« sagte der Justizrat und drückte dem Lehrer warm die Hand, als der Wagen langsam an den ersten, etwas entfernt vom Dorf gelegenen Häusern vorbeifuhr. »Vorläufig weiß ich genug und will nun versuchen, was sich machen läßt. Schlimm steht es um Ihren Schwiegervater – meine Hoffnung, die entehrende Strafe von ihm abzuwenden, ist sehr gering. Also die Brüder Florschütz, der Bergbauer, Veitenbauer, der Grundmüller sind Männer von Einfluß. – Bon, bon! Hoffentlich sind unsre Haidacher Zeugen schon heimgekehrt und haben vorgearbeitet, indem sie Ihre glänzende Rechtfertigung publik machten! – Hören Sie das Summen und Brausen, den dumpfen Lärm? O weh! in dem armen Dorf scheinen allerdings alle bösen Geister entfesselt zu sein! – Kopf in die Höhe, Reinhardt! Zuletzt muß sich jede Verwicklung lösen, so oder so. Mut, mein Freund! – Hier steigen Sie aus! Ich will vorläufig allein rekognoszieren und bei dem Wiedersehen, das Sie erwartet, ist ein dritter vollständig überflüssig!«

Ehe Reinhardt recht wußte, wie ihm geschah, stand er unfern der Schule mitten auf der Straße. Langsam schritt er endlich dem Herrnhof zu. Er mußte die Hände an die pochenden Schläfe pressen: wie hatte er diesen verlassen und wie sollte er ihn wieder betreten! Bei jedem Schritt klopfte sein Herz heftiger; nun in plötzlicher Hast eilige Schritte, nun ein Sprung um die Ecke und –

»Anna!« – »Mein Fritz!«

Wie lange sich die Liebenden umschlungen hielten – war es ein Augenblick oder eine Ewigkeit? – sie wußten es nicht.

Im Hausflur erwartete ihn der Schulbauer, schlang die Arme um seinen Hals und flüsterte: »Fritz – wie findest du mich wieder! Rache war mein Dichten und Trachten, Tag und Nacht! Nun habe ich erreicht, was mich im Wachen und Träumen verfolgte – und schaudernd stehe ich vor meinem Werk! Ich wollte retten – helfen! O, und droben im Kirchbauernhaus liegt ein Mädchen im Wahnsinn, der Aufruhr brüllt und tobt durch das Dorf, die Verzweiflung wandelt die Menschen in wilde Bestien – und all das ist mein Werk! Und damit noch nicht genug! – Komm, sieh, auch das habe ich getan!«

Er hatte die Stubentür geöffnet; ohne ihm einen Blick in sein Gesicht zu verstatten, zog er Reinhardt in die Stube: »Da sieh!«

Was er sah, war freilich so schrecklich, daß Reinhardt fühlte, wie auch ihn der Jammer zu überwältigen drohte. Im Lehnstuhl saß, lag, hing eine Gestalt, in der kaum der Herrnbauer wieder zu erkennen war. Das gedunsene Gesicht war wachsbleich, von blauen Adern durchzogen, die halbgeschlossenen Augen waren gebrochen, der Unterkiefer hing weit herab wie bei einem Toten, nur der keuchende Atem, dann und wann dumpf hervorgestoßene Worte zeugten, daß noch Leben in dem Körper war. Eben murmelte er: »Weg, du Teufel! – Weg die Urkunde! – Mein Recht – die Urkunde – weg, du Teufel, weg! – Kein Grenzverrücker, o, o! – Nicht ins Zuchthaus – ich nicht – der dort, der – der Teufel – o! –«

»Bauer, Bauer!« rief Reinhardt, dem dieser Jammer durch die Seele schnitt. »Erwacht, kommt zu Euch! Er ist ja fort, der Teufel, Ihr seid sicher vor ihm, und wir, Eure Kinder, Eure besten Freunde sind um Euch. Und wir schützen Euch! verlaßt Euch darauf, es darf Euch nichts geschehen! Kommt zu Euch, Vater! Ich habe den Justizrat Stein mitgebracht, der wird Euch schützen.«

Wunderbar! Bei dem Worte Vater ging ein merkwürdiges Jucken durch das Gesicht des Leidenden, der Mund schloß sich, die Augen irrten wie staunend umher, um endlich auf Reinhardt haften zu bleiben. Und nun bekamen sie allmählich Glanz, das Gesicht belebte sich, hastig stieß der Bauer die Worte hervor: »Fritz, Fritz, bist du's? Bist du da? – Näher, näher! gib mir deine Hand!« Und die Hand des Lehrers ergreifend, führte er sie mühsam nach seinem Kopf und legte sie über seine Stirn. »O! wie das gut tut!« flüsterte er leise, in eine schlafartige Betäubung zurücksinkend. »O – tut das gut! Wie das löscht, das Feuer in meinem Hirn, und wie das wärmt! – Fritz, verlaß mich nicht, hilf, hilf mir, du kannst es, ich weiß! – Verzeih mir, Fritz, und nimm die Hand nicht weg, sie ist so sanft und warm! Ich war schlecht, ich verdiene nicht Mitleid und Barmherzigkeit, aber mit den Grenzsteinen bin ich unschuldig, durch die Urkunde hat mich der Hannes betrogen, ja, betrogen! – Ach, Fritz, ich bin hart gestraft – hart, hart! Wie das Unglück über mich hereinbrach, da wollte ich verzweifeln. Die Schande, die Schande ist allzu groß. Wer weiß, was geschehen wäre? ich sah immer nur das Zuchthaus vor mir, hohe Mauern, vergitterte Fenster, eiserne Türen. Und die Mauern rückten enger zusammen, drückten mich auf Brust und Hirn; ein Teufel – er hatte das Gesicht des Hannes – rasselte mit einer Kette und schrie mir ins Ohr: »Zuchthaus, Zuchthaus!« und andere Teufel rollten und rasselten mit Kugeln, wie sie den Züchtlingen angeschmiedet werden, und alle heulten, lachten und brüllten: ›Der Herrnbauer im Zuchthaus, ha, ha, der Herrnbauer im Zuchthaus!‹ – Ach, Fritz, das war fürchterlich – die Angst, o, die Angst und Qual!«

Der Bauer seufzte tief auf und drückte Reinhardts Hand fester auf seine Stirn. Anna kniete neben dem Lehrer und dem Vater; sie hatte Reinhardts noch freie Hand in die des Vaters geschoben und bedeckte beide mit Küssen und Tränen. Der Schulbauer lehnte mit gekreuzten Armen, tiefgesenktem Kopf, bleich und stumm am Tisch, die drei Frauen hatten sich fest umschlungen und blickten in tränenloser, angstvoller Erwartung auf den Vater und Reinhardt.

Reinhardt war viel zu bewegt, als daß er hätte sprechen können. Tief seufzend, noch immer ohne die Augen zu öffnen, nahm der Bauer endlich seine Erzählung wieder auf: »Das war eine große, große Not, und ich verloren darin, wenn nicht der unbarmherzige Gott zu rechter Zeit Hilfe gesendet. Als die Angst mir schier das Hirn verbrennen wollte, da legte sich eine weiche, warme Hand auf meine Stirn – genau da, wo jetzt deine liegt – und meine Anna flüsterte mir ins Ohr: ›hoffet und vertrauet auf den allgütigen Gott, Vater, er wird uns Hilfe senden! Mein Fritz, Vater, wird Euch retten.‹ Nimmer, nimmer werde ich diese Worte vergessen, sie klangen wie Engelsgesang! Wie eine Erleuchtung vom Himmel kam es über mich: ja, der Reinhardt, der wird mich retten. Verlaß mich nicht, Reinhardt, daß nicht die alte Verzweiflung wieder über mich kommt!«

»Was sind das für Reden!« rief Reinhardt tieferschüttert. »Laßt ab, Ihr wißt nicht, wie Ihr mich beschämt! Nicht nur mir habt Ihr den Trost und die Beruhigung zu danken; Euer Kind, Eure Anna war es, deren reine Seele die Teufel von Euch scheuchte! Danket Gott, daß er Euch mit solchem Kinde beglückt! Nun aber erwacht und ermannt Euch! Treue Freunde umgeben Euch; was geschehen kann, das Unglück abzuwenden, geschieht!«

Der Bauer öffnete nun endlich die Augen, blickte hell und klar um sich, zog Anna und Fritz näher und flüsterte: »Ja, Gott ist barmherzig und gnädig! Meine Kinder, meine guten Kinder, euch gab er mir zur Rettung!«

Die Frauen schlossen sich schluchzend in die Arme, der Schulbauer zog Reinhardt stürmisch an seine Brust und rief: »Die Anna hat's getroffen, du bist in Wahrheit uns zum Trost gesendet!«

»Darf ich kommen?« fragte der Justizrat durch die halb geöffnete Tür. »Da all mein Klopfen unbeachtet blieb, muß ich wohl zu dieser Art Anmeldung meine Zuflucht nehmen. Also – darf ich kommen?«

Anna sprang auf und flüchtete sich zu der Mutter, der Bauer selbst machte einen Versuch sich zu erheben, der Schulbauer aber eilte dem Justizrat entgegen, schüttelte ihm kräftig die Hand und rief tiefaufatmend: »Nur herein – kommen gerade recht! Die erste Verwirrung ist durch den da, den Sie ja auch schon als Vermittler kennen, glücklich gelöst. Kommen Sie, wir wollen Ihren Befehlen willig gehorchen und nichts versäumen, was zu unserer Rettung beitragen kann.«

Der Justizrat blitzte mit seinen scharfen Augen durch das ganze Zimmer, besonders auf Anna und dem Schulbauer ließ er seine Blicke prüfend ruhen. Kaum merkbar mit dem Kopfe nickend, schüttelte er nun ebenfalls dem Schulbauer herzhaft die Hand. »Freue mich in der Tat aufrichtig, Sie so gefaßt und geistesklar zu finden; nach dem, was ich gehört, war ich auf einen andern Empfang gefaßt. Und Sie haben ja auch an Reinhardt solch wackeren Beistand, wie Sie ihn nur immer wünschen können. Ohne Einleitung lassen Sie uns rasch an die Klarlegung der allerdings ziemlich schwierigen Verhältnisse gehen, meine Zeit ist gemessen, und es gilt auch rasch handeln, wollen wir dem Unglück zuvorkommen. – Aber, Reinhardt, wollen Sie mir nicht Ihre Braut vorstellen, daß ich ihr sagen kann, wie ich sie schätze und hochachte? – Ei, ei! Sie sind doch nicht etwa gar eifersüchtig auf mich?«

Dieser Scherz erreichte vollkommen seine Absicht, die ängstliche Spannung der Gemüter legte sich; als sie die Männer so ruhig und zuversichtlich sahen, atmeten auch die Frauen freier auf, die aufrichtige Hochachtung und Teilnahme, die der Justizrat so ungezwungen für das erglühende Mädchen an den Tag legte, gewann ihm vollends alle Herzen. Ruhiger setzte man sich zur traurigen Beratung.

Der Justizrat war bereits sehr tätig gewesen, freilich ohne rechten Erfolg, er war doch auf größere Hindernisse gestoßen, als er erwartet. Der Staatsanwalt wie die Herren vom Kreisgericht waren erbittert über den Herrnbauer, der durch seinen gedankenlosen Anschluß an den Jockenhannes so viele neue Verwicklungen geschaffen und die Verwirrung im Dorf ins Maßlose gesteigert hatte. Wohl hatten die Aussagen der beiden Hauptverbrecher, die der Fund der echten Urkunde im Kirchbauernhaus bestätigte, zur Genüge dargetan, daß der Herrnbauer und der Ungerskasper – das wahre Verhältnis des Schultheißen zur Tat war noch nicht aufgeklärt – durch die gefälschte Urkunde schändlich betrogen worden waren. Allein das wollten die Herren vom Gericht durchaus nicht als Entschuldigung gelten lassen; die eigenmächtige Abgrenzung des Waldes blieb unter allen Umständen ein höchst strafbares Vergehen, um so mehr, da beide als geschworene Märker verpflichtet waren, jede ungesetzliche Grenzveränderung zu verhüten. Das Toben des wilderregten Volkes vor den Fenstern, das laut nach Gerechtigkeit schreie und strenge Bestrafung der Schuldigen fordere, mache eine Vertuschung völlig unmöglich, selbst wenn man von oben her dazu geneigt wäre.

Der Bauer legte sein Gesicht auf die Arme, die Frauen weinten laut, Reinhardt und der Schulbauer waren sehr bleich geworden und sahen starr vor sich nieder. »Ja, es stand sehr schlimm, trotz aller Vorstellungen beharrte der Staatsanwalt auf den härtesten Maßregeln!« sagte der Justizrat. »In der höchsten Not – es galt die Verhaftung der drei Schuldigen wenigstens vorläufig abzuwenden – nahm ich meine Zuflucht zu einem – allerdings gewagten – Mittel, und das Mittel half: ich berichtete dem Staatsanwalt genau den Stand der Dinge in Haidach. Natürlich war ihm sofort ebenso klar als mir selbst, in welche bedenkliche Lage der Superintendent und Landrat kommen müßten, machten Sie von dem gesetzlich zustehenden Recht des Rekurses bei höchster Staatsbehörde Gebrauch. Ich erlaubte mir der Phantasie des Staatsanwaltes ein wenig zu Hilfe zu kommen, schilderte ziemlich lebhaft die unzähligen Verdrießlichkeiten, die der Regierung unausbleiblich erwachsen müßten, beharrte er auf dem Rechtsstandpunkt. Der Mann verstand natürlich sofort, wo ich hinauswollte, es bedurfte kaum noch einer leisen Andeutung meiner intimen Beziehungen zu den leitenden Regierungskreisen, um ihn sehr nachdenklich zu machen. ›Sie stellen mich vor eine schlimme Alternative, die unter Umständen sogar gefährlich werden kann,‹ meinte er achselzuckend, ›und doch ist Ihr Vorschlag nicht unbillig. Wenn der Lehrer Reinhardt, um öffentliches Ärgernis zu verhüten, den starren Rechtsstandpunkt verlassen wollte, warum sollten wir als Gegenleistung nicht ebenfalls eine mildernde Beurteilung der Sachlage eintreten lassen? – Gut denn, bringen Sie mir die bündige Versicherung, daß sich Reinhardt mit der Wiederherstellung seiner Ehre begnügen will – die ja bereits tatsächlich erfolgt ist – so will auch ich, wenigstens vorläufig, von strengen Maßregeln absehen und auch fernerhin einer versöhnlichen Beilegung der beklagenswerten Verirrung sonst höchst achtbarer Männer nicht im Wege sein.‹ – So stehen die Sachen. In Ihrer Hand, Reinhardt, liegt die Entscheidung. Sie können mich desavouieren, denn ich handelte ohne Instruktion. Dann muß ich freilich gestehen, daß meine Mittel völlig erschöpft sind; akzeptieren Sie jedoch meine Idee, wollen Sie sich mit der moralischen Niederlage Ihrer Gegner begnügen, mit der erkämpften glänzenden Rechtfertigung vor Zeugen zufrieden sein, so steht Ihrem Schwiegervater meine ganze Kraft auch fernerhin zur Verfügung, und ich glaube wohl versichern zu dürfen, daß meine Bemühungen nicht ohne Erfolg sein werden. Entscheiden Sie nun, Reinhardt, die Zeit drängt!«

Aller Augen richteten sich erwartungsvoll auf Reinhardt, dessen Wangen zu glühen begannen. »Bedarf es hier einer Entscheidung? O, edler Mann, wie sollen wir Ihnen danken?«

»Still, still!« wehrte der Justizrat ab. »Noch sind wir nicht am Ziel! Ich eile in die Stadt, um noch heute weitere Schritte in unserer Sache zu tun, die um so mehr Aussicht auf Erfolg haben, je früher sie geschehen. Halten Sie sich bereit, Reinhardt, mir zu Hilfe zu kommen, wenn ich Ihres Beistandes bedarf; seien Sie wachsam und vorsichtig, denn noch ist unser Sieg mehr als zweifelhaft. Behalten Sie auch die Bewegung im Dorf im Auge, die Erregung ist groß; was mich besonders erschreckt, ist die Wildheit der Frauen. Seien Sie wachsam, bieten Sie alles auf, die erhitzten Massen von gewaltsamen Handlungen abzuhalten! Nicht verzagen, Herrnbauer! die Gefahr wird vorübergehen, und vergessen Sie nie, daß es Ihr Schwiegersohn ist, der Ihnen Hilfe brachte. Nochmals: ich hoffe auf glückliche Lösung der Verwirrung; sobald etwas Entscheidendes geschieht, gebe ich Nachricht.«

Reinhardt und der Schulbauer gaben dem Justizrat das Geleit bis an den Wagen. Lange blickten sie dem Scheidenden nach. Der Lärm droben im Dorf wurde indes immer bedrohlicher: was mochte da vorgehen? Einen Augenblick schwankte Reinhardt, ob er nicht nachsehen solle, was es gebe? – doch nur einen Augenblick, dann flog er die Treppe hinan. So schnell ging das, daß der Schulbauer verwundert den Kopf schüttelte, als er sich so unerwartet allein im Hofe fand.

Anna hatte ihn erwartet, zog ihn an ihr Herz, fuhr liebkosend mit den Fingern durch sein Haar, flüsterte ihm die süßesten Liebesworte und Schmeichelnamen ins Ohr.

»Mir ist, als läge eine Ewigkeit dazwischen, seit ich dich zum letztenmal in meinen Armen gehalten!« flüsterte Reinhardt.

»Und ist es nicht eine Ewigkeit, die zwischen jetzt und unserem letzten glücklichen Zusammensein liegt?« sagte Anna sanft weinend und zog Reinhardt fester an sich, als fürchte sie ihn zu verlieren.

»Komm, Geliebte, ruhe dich aus an meiner Brust. Und nun berichte mir die dunkeln Vorgänge der furchtbaren Nacht. Was hattet ihr über mich erfahren? Wie war euch so plötzlich die schreckliche Kunde geworden?«

»Du verlangst Schweres von mir!« flüsterte Anna leise zitternd. Doch höre: Gestern nachmittag kam der Jockenhannes zum Vater, machte ein trübseliges Gesicht, sprach viel von seiner Teilnahme und daß er gekommen sei zu trösten. Die Mutter meinte erst, der Hannes sei verrückt geworden, aber nur zu bald sollte ihr der wahre Grund seines Kommens klar werden. Er stellte sich verwundert, daß die Eltern noch nichts wußten, da doch schon seit Wochen das Dorf voll sei von deiner Schande. Und nun berichtete er Sachen über dich, die man nicht nacherzählen kann, und zuletzt kam denn die Nachricht, daß dir soeben der Pfarrer das Absetzungsdekret zugeschickt habe, du aber seist nirgends zu finden, wahrscheinlich habest du Lunte gerochen und das Weite gesucht. – Diesmal drängte die Mutter selbst, der Vater mußte zum Pfarrer. Der bestätigte nicht nur alles, er machte die Sache noch viel schlimmer. Der Vater kam heim, toll und rasend, und der Jockenhannes sorgte dafür, daß der Zorn nicht geringer wurde. Natürlich wurde sogleich ein Bote nach Sülzdorf geschickt, und das Ende seines Berichtes war: die Verlobung sei null und nichtig, bei Fluch und Enterbung sei mir verboten, noch ein Wort mit dir zu wechseln.

Mir wurde schwarz vor den Augen – die Base war ohnmächtig geworden. Ich ging halb betäubt herum, ein Berg lag auf meinem Hirn, und mein Herz war wie von eisernen Reifen zusammengepreßt. Das Haus wurde nicht mehr leer von heulenden Weibern, und eine erzählte immer schauderhaftere Geschichten als die andere. Es war noch nicht das Schlimmste, du seiest aus dem Rottensteiner Wasser aufgefischt worden, vor Schrecken sei der arme Lehrer Robert Schulz übergeschnappt und werde – deinetwegen! – von Gendarmen zu seinen Eltern geführt!

Daß ich nicht zusammenbrach, ist mir jetzt selbst unverständlich – und doch auch nicht! Je schlimmer die Nachrichten kamen, desto gewisser wurde mir: das ist ja alles nicht wahr! Und nun kam es über mich, daß du, von der ganzen Welt verachtet und angefeindet, ganz allein auf mich angewiesen seist. Daß ich deinetwillen stark und gefaßt sein müsse: und bei allem Leid quoll es in mir auf wie Freude!«

»O du treue, tapfere Seele!«

»Nein, nein, Fritz, du mußt mich nicht loben; es kamen auch Augenblicke, da die Angst mich überwältigen wollte. Das böse: wenn es aber doch so wäre, was dann? brachte ich nicht zum Schweigen, und die Verzweiflung war mir oft nur allzu nahe. – Ich wußte, daß du kommen würdest. Solange ich dich erwarte, war das Leid noch erträglich, ich hatte doch die Hoffnung, dich zu sehen – ein Wort von dir konnte ja all das Unglück enden. Wie du aber in Angst und Verzweiflung zu mir kamst – o Reinhardt, da wurde die Hölle in meinem Herzen lebendig! Und als du von mir gingst, von Zweifeln zerrissen, von Sorgen zu Boden gedrückt, Reinhardt, da kniete ich am Bett der Base nieder und biß in die Kissen! und die Nacht war so ruhig und still – so fürchterlich still! Kein Stern schimmerte, kein Licht leuchtete, kein Laut traf mein Ohr, als das einsame Ticktack der Uhr, das Brausen des Windes, das Murmeln des Baches. – Da habe ich verstehen lernen, was es heißt: und führe uns nicht in Versuchung! Meine Not war groß; oft lockte es mit unwiderstehlicher Gewalt hinaus in die Nacht. Wohin? Das wußte ich nicht, was lag auch daran? Nur fort – weg aus diesem Jammer, weg aus dem furchtbaren Sinnen und Grübeln!«

»Ich war schwach, Fritz – sehr schwach! – Und doch, wie unwahrscheinlich das klingen mag – an deiner Treue, deiner Rechtschaffenheit habe ich nicht einen Augenblick gezweifelt – mein Gott, das wäre ja mein Tod gewesen! Wunderlich! Das lag wie ein dumpfer Trost in mir: es ist dein Tod, bestätigt sich Reinhardts Untreue!«

»Die Nacht war lang – o, so unendlich lang! Zuletzt kam doch der Morgen; aber wie verändert war die Welt, wie so öde, so farblos, selbst die Sonne war bleich und glanzlos. – Dann kam Roberts Brief! Ach, Fritz! dem Leid hatte ich widerstanden, der Freude widerstand ich nicht. In den Armen der Base erwachte ich wieder – und nun wußten wir beide nichts anderes zu tun als zu weinen. – Freilich auch dies Glück war von kurzer Dauer; ein Bote rief uns nach Bergheim, und nun kam Schlag auf Schlag, das Unglück erst recht zu Haufen! – Ach, Fritz, mir ist's noch immer wie im Traum, daß ich dich in meinen Armen halte; immer ist es, als müsse ich mich umsehen, als stehe hinter mir ein neues Unheil! – Fritz, sage: hast du mich lieb? Denkst du nicht geringer von mir, daß ich so schwach und klein war?«

»Armes Kind!« flüsterte Reinhardt und drückte einen Kuß auf die Stirn des Mädchens, das sich wie ein Kind in seine Arme schmiegte. Wie kannst du so fragen? Ach, Herzlieb, wie soll ich dir jemals deine Liebe und Treue vergelten?«

»Nicht so, Reinhardt! Aber lieben mußt du mich allezeit – ich habe es empfunden, wie ich ohne deine Liebe nicht mehr leben kann. – Und nun berichte du! Ja, sage mir, was führte dich gestern nachts noch ins Herrnbauernhaus?«

Reinhardt strich sich über die Stirne, blickte eine Weile starr vor sich nieder, dann fuhr er auf: »Großer Gott, das weißt du nicht? Und die Margaret auch nicht? Mein Gott, wie konnte ich das vergessen! Rufe deine Schwester, Mädchen! Deine Schwester, Mutter und Base, die Männer – eile dich, Anna, eine frohe Botschaft erwartet euch.«

Anna blickte verwirrt zu dem Geliebten auf; wie von einer plötzlichen Ahnung ergriffen, eilte sie hinaus. Bald drängte sie die staunenden Eltern und Verwandten ins Zimmer; Margaret hing an Annas Halse, diese mußte das sonst so starke, frische Mädchen mehr tragen als führen.

Reinhardt sagte weich: »Fasse dich, Margaret, der Beckenkarl liebt dich noch, im Herzen blieb er dir treu, was auch geschehen sein mag; und er ist auch deiner Liebe und Treue nicht unwürdig geworden.«

Margaret schlang ihre Arme um den Hals der Schwester und verbarg ihr Gesicht. Die Frauen und der Schulbauer standen erschüttert, der Herrnbauer sank seufzend in einen Stuhl, stützte die Arme auf den Tisch und legte das Gesicht in die Hände.

»Gestern abend wartete der Beckenkarl meine Rückkunft von Dammsbrück ab, zog mich in die Steinbrüche, teilte mir ein Gespräch zwischen dem Jockenhannes und Schulzen mit, das die Schulzenmarie zufällig mit angehört und ihm vertraut hatte, und das den schändlichen Betrug mit der Urkunde vollständig enthüllte: Freue dich, Margaret! Der Beckenkarl trug mir auf, deinen Vater zu warnen, ihn zu einem schleunigen Vergleich mit seinen Gegnern zu bewegen, ehe die Grenzverletzung offenkundig werde. Deshalb kam ich gestern – du weißt, was mich hinderte, meinen Auftrag zu erfüllen.«

»Gott im Himmel! was bin ich für ein elender, erbärmlicher Mensch!« stöhnte der Herrnbauer.

»Und sonst trug er dir nichts auf?« hauchte Margaret kaum hörbar.

»Wohl – aber du mußt nicht erschrecken, Margaret! Karl ist nur verwirrt und verdüstert im Gemüt – kann es anders sein? Er trug mir auf, dir zu sagen, daß er dich nie vergessen habe und dich nie vergessen werde! Jetzt sähe er seine Torheiten ein, freilich komme alle Reue zu spät. Er habe seine Ehre verloren, seines Bleibens könne nicht länger in Bergheim sein, er wandere aus. Aber dein Bild würde er auch in Amerika treu im Herzen tragen; da er dich nicht zum Weibe bekommen könne, bleibe er ledig. Er hofft, daß du manchmal in Freundlichkeit seiner gedenken werdest. – Dies sein Auftrag, den ich dir nicht vorenthalten darf. Aber nun nicht so kleinmütig, nicht so ängstlich, Margaret. Begreifst du nicht, daß diese Worte nur ein Ausdruck seines Kummers, seiner Reue sind? Kann er jetzt anders sprechen? – Fasse dich, Schwester!«

»Hab' Dank, Fritz! Laßt mich jetzt allein, ich brauche Ruhe. Ja, jetzt glaube und hoffe ich selber – Karl war gestern nacht dreimal an meinem Fenster! Sag ihm, Fritz, ich gehörte ihm an mit Leib und Leben, jetzt und immer.«

Anna ließ sich's nicht nehmen, die Schwester zu begleiten. Eine Weile war es still im Zimmer. Reinhardt unterbrach das Sinnen. »Wir werden heute einmal die schmerzlichen Bilder aus der Vergangenheit doch nicht los, so laßt uns auch gleich gründlich damit aufräumen. Wie im Traume ist mir, als hätte ich gehört, du, Schulbauer, habest die furchtbare Entscheidung herbeigeführt. Ist dem so? Und wenn, wie war das möglich?«

»Lange fürchtete ich diese Frage. Aber du hast recht, ausweichen können wir der Vergangenheit nicht; wir werden alle freier atmen, wenn sich auch das letzte Dunkel lichtet«, entgegnete der Schulbauer. »Ich werde mich kurz fassen.

Weiß nicht, wie das kam, Haß und Rachsucht liegt doch sonst gar nicht in meiner Natur; aber in der letzten Zeit ließ mir der Gedanke an den Hannes nicht Rast, nicht Ruhe. Tag und Nacht verfolgte mich sein Bild, der Gedanke wurde fast zur fixen Idee in mir: du mußt noch seine Schlechtigkeit aufdecken, ihn der Gerechtigkeit überliefern. Schlimm war, daß ich diesmal meine Not allein tragen mußte; was in mir vorging, konnte ich niemand klagen – auch dir nicht, Fritz!

So sorgte und quälte ich mich allein. Und es war auch wirklich nicht anders, als sei das Schicksal selbst mit dem Hannes im Bunde. Ein undurchdringlicher Nebel verhüllte die Schreckenstat in Einzelberg, ich konnte dem Hannes nicht beikommen. Und doch, wenn ich nun in halber Verzweiflung die Hetze aufgab – dann blitzte gewiß irgendwo ein Licht auf, das endlich Klarheit versprach, und von neuem begann die Aufregung und Qual.

Um nur auf andere Gedanken zu kommen, machte ich mich auf die Fahrt ins Unterland, Samengetreide für die Sommersaat einzukaufen. Ich hatte in Bergheim darüber gesprochen und wunderte mich nicht besonders, als am Tage der Abfahrt der Simesschuster völlig zur Reise gerüstet in Schottendorf an meinen Wagen tritt und sagt, er müsse auch hinab ins Unterland, ob ich ihn nicht mitnehmen wolle. War mir freilich keine Freude, allein abweisen mochte ich den armen Kerl nicht, und so stieg er denn auf. Fiel mir bald sein verstörtes Wesen auf; hatte aber selbst den Kopf zu voll, mich viel um andere zu kümmern, obendrein war mir der Gefährte lästig. Ich atmete auf, als wir endlich M. erreichten, wo sich, wie der Schuster sagte, unsre Wege trennten. Kamen spät und hundemüde in M. an, ich freute mich zum erstenmal seit langem auf mein Bett und auf die einsame Weiterfahrt.

Eben wollte ich mein Licht löschen, als der Schuster in mein Zimmer schlich. ›Zieh dich an, hab' mit dir zu reden‹ sagt er, setzt sich aufs Kanapee, starrt ins Licht und hat auf mein Drängen nur die eine Antwort: ›Zieh dich an, es ist kalt!‹

Als ich ihm endlich gegenübersitze, zieht er ein Arzneifläschchen und einen Brief aus der Tasche. ›Schulbauer, hört mich ruhig an. Ich ertrage die Angst und Qual nimmer, die mich Tag und Nacht umtreibt. Ich dacht' schon oft dran, meinem Leben ein Ende zu machen – aber – weiß nicht warum – mir graut vor dem Selbstmord. Ich hab' lang gegrübelt, ob es für mich nicht einen Ausweg gebe, das zu umgehen und der Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen, ohne deswegen im Zuchthaus zu verkommen. – Bleibt sitzen, Bauer! Seht, in dem Glas ist Gift, genug, ein Regiment umzubringen. Macht Ihr Miene aufzustehen oder sonstwie Leute beizuziehen, bin ich eine Leiche. Drum hört mich vernünftig an. Ihr sucht an den Jockenhannes zu kommen – in dem Papier habt Ihr die Beweise für den Einzelberger Mord und andere Geschichten, die Euch sehr nahe angehen. Halt da, Bauer – noch ist das Papier mein! Ihr seht, ich hab' das Papier in ein Kuvert gesteckt und gleich adressiert – und nun merkt auf. – Mein jetziges Leben ist mir ganz unerträglich. Offen gestanden sterbe ich aber nicht gern, ich möchte lieber in der Welt draußen probieren, ob ich nicht das Unrecht vergangner Tage gut oder wenigstens vergessen machen kann. Ich bin aber arm, und mit leeren Händen fängt sich ein neues Leben schlecht an. Drum dachte ich an Euch! Ich habe Euch und den Herrnbauer schwer gekränkt durch jenen falschen Schwur, der mich zum elenden Menschen machte – vergeht das Gift nicht, Bauer! – Wenn Ihr mir sagt, Ihr wollt sehen, ob Ihr mir mit der Zeit vergeben könnt, was ich an Euch verbrochen, und versprecht, beim Herrnbauer ein versöhnlich' Wort für mich zu reden – wenn Ihr mir auch ein kleines Reisegeld und was für den Anfang drüben über dem Wasser zukommen lassen wollt – dann ist das Papier Euer. Im andern Fall bleibt mir eben nichts als das Gift, und Ihr tut mir dann wohl den letzten Gefallen und gebt den Brief auf die Post oder besorgt ihn gleich selber an den rechten Ort.‹«

Der Schulbauer war aufgesprungen und ging heftig auf und ab. »Will nicht sagen, wie mir zumute war – zum zweitenmal möcht' ich solches nicht erleben. Natürlich gab es für mich kein Besinnen. Das Versprechen von wegen der Verzeihung kam mir schwer an, doch brachte ich's fertig; am Geld lag mir nichts, ich gab ihm, was ich entbehren konnte, und versprach ihm nachzuschicken, daß er zufrieden sein solle, nachdem ich mich überzeugt, daß er mich mit dem Papier nicht angelogen. Nachdem ich ihm noch drei Tage Vorsprung versprochen, schieden wir – der Schuster reiste mit dem nächsten Zug ab über Köln nach Havre, um sich dort einzuschiffen.

Nun begann erst meine Not. Mit dem Urteil des Hannes in der Tasche mußte ich mich drei lange Tage in der Fremde umhertreiben – was das heißen will, kann niemand begreifen, der es nicht erfahren. Endlich kam eine Depesche, der Schuster hatte sich eingeschifft und schwamm Amerika entgegen; nun war kein Halten mehr. Pferde und Wagen ließ ich in M., mit dem Nachtzug eilte ich in die Hauptstadt unseres Ländchens – noch in der Nacht brachte mein Papier das Kreisgericht in Bewegung, mit grauendem Morgen waren wir in Bergheim – was weiter geschah, ist bekannt!«


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