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Neunzehntes Kapitel

In wolkenloser Bläue lachte der Himmel auf die Erde, lichte Nebel wallten aus Wäldern und Gründen empor, würziger Erdgeruch wehte durch die weit offenen Fenster aus dem Garten herein, golden glänzte die Sonne auf den Kreuzen und Denkmälern droben im Friedhof, einladend waren die Kirchtüren weit geöffnet; eben setzten sich die Glocken in Bewegung, und bald brauste volles Geläute über das stille Dorf hin, ganz so wie am Pfingstmorgen.

Aber doch wie so anders!

Der Garten lag verwildert und verödet; Beete und Wege verschwemmt und zerrissen, von den Gemüsen und Blumen waren kaum hie und da einige kahle Stengel übriggeblieben. Zerrissen und zerhackt waren die Hecken, die noch gestern als undurchdringliche grüne Wand den Garten umschirmt; geknickt lagen die Zweige am Boden, weite Lücken gähnten auf. Und erst die Bäume! Fritz schnitt es in das Herz, wie sie die entlaubten kahlen Zweige so traurig in die blaue Luft emporstreckten, wie in den Schrammen und Wunden, welche die scharfkantigen Eiskiesel geschlagen, der ausgetretene Saft im Sonnenstrahl glänzte. – Wie kahl und öde die prachtvollen Baumgruppen des Schloßgartens emporstarren! Verschwunden sind die Hunderte von blühenden Rosenbäumchen, die gestern noch jedes Herz entzückten. Und wie unheimlich die scheibenlosen Fenster, die abgedeckten Dächer auf die Straßen herabschauen!

Brausend klang das Geläute über das Dorf; allein heute folgten seinem Rufe keine festlich geschmückten fröhlichen Menschen zum Gotteshause. Nur in Trauergewänder gehüllte Gestalten schlichen gebeugt durch die Gassen; oft standen sie still, um auswärtige Kirchengänger zu begrüßen, und dann erhob sich lautes Weinen, denn statt der Blumen trugen die Fremden zerhackte, geknickte, entkörnte Ähren in den Händen! – Und wunderlich war es, daß aus vielen Häusern die Mannsleute in kurzen Sonntagsjacken, die brennenden Pfeifen im Munde, hervorkamen und ohne Gruß trotzig an den Kirchgängern vorbei ins Freie wanderten.

Tief seufzend raffte Fritz seine Choralbücher zusammen und eilte auf seinen Platz in der Kirche. Ein Blick überzeugte ihn, daß kaum die Hälfte der Gemeinde sich versammelt hatte. – Sollte die Scheidung eine dauernde sein?

Was er befürchtete, traf ein – Pfarrer Walter schien seine Predigt besonders darauf angelegt zu haben, die Kluft zwischen den feindlichen Parteien so zu erweitern, daß eine Überbrückung unmöglich wurde. Sein Text war das finstere Drohwort: »Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten, und was der Mensch säet, das wird er ernten.« Schon dieses Wort allein mußte wie eine Feuerflamme in die Seele fallen, und Fritz entging nicht, wie denn auch der Bergbauer, der Ungerskasper, vor allem aber der Herrnbauer, die in finsterem Sinnen vor sich niederstarrten, plötzlich die Köpfe hoben, sich mit grimmig leuchtenden Augen zunickten.

Und nun die Predigt! Es ist wahr, Walter redete nur von der Sündhaftigkeit der Menschen im allgemeinen, er hob stets die eigne Schwachheit und Torheit hervor, welche endlich das göttliche Zornmaß gefüllt und zum Überlaufen gebracht habe, aber gerade die versteckten Keulenschläge, die er gegen seine Gegner führte, wirkten um so vernichtender. Laut mahnte er zur Reue und Buße. Allein wie sollten seine Zuhörer sich so recht demütigen, wenn sie durch alle Selbstanklagen hindurch hörten: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt, wenn der Hagelschlag zuletzt in der Tat als ein Beweis der göttlichen Gnade, Langmut und Barmherzigkeit dargestellt wurde, da ja Dorf und Gemeinde längst für den Zorn Gottes reif sein müsse, weil sich der Teufel sogar an heiliger Stätte eingenistet? – Reinhardt zitterte vor Aufregung, als der Geistliche so fast mit Fingern auf ihn wies und in der Tat alle Augen nach ihm blickten.

Fritz verließ nach dem Gottesdienst hastig die Kirche; ihm ward eng in dem Gemäuer, als rückten die Wände zusammen, ihn zu ersticken.

In dichten Gruppen standen die Kirchgänger auf der Gasse und unter der Planlinde zusammen, heftige Reden wurden gewechselt, zahlreiche Arme, noch mit den Gesangbüchern bewaffnet, durchfuchtelten die Luft. Hinter den Vorhängen der oberen Stube lauschten der Jockenhannes, Wagnerspaule und der Simesschuster. Sie schienen, während sie die Vorgänge auf der Gasse beobachteten, zugleich dem Vortrag eines vierten zu lauschen, denn sie nickten oft in das Zimmer zurück, und Fritz bemerkte deutlich, wie sich Hannes und Paule vergnügt die Hände rieben. Sein Weg führte ihn an der dichtesten Gruppe vorüber; kaum wurde er bemerkt, so stießen sich die Nachbarn hastig an, dem heftigsten Lärm folgte plötzlich eine Totenstille. Mit wutfunkelnden Augen starrten ihm die Bauern nach, manche Faust wurde heimlich drohend gegen ihn erhoben. Fritz entging das nicht; aber wenn auch eine dunkle Glut ihm ins Gesicht schoß, er hielt an sich; mit kurzem Gruß eilte er vorüber.

»Das ist auch einer von den Gottesleugnern, die das Elend übers Dorf brachten, und nicht der geringste!« schrie ihm eine wutzitternde Stimme nach. »Fluch und Verdammnis über den keinnützen Schulmeister! Das ist er – der ist's, von dem der Pfarrer predigte: der Teufel habe sich in Bergheim sogar an heiliger Stätte eingenistet!«

Wie von einem elektrischen Schlag getroffen, war Fritz schon bei dem ersten Wort zusammengezuckt; er wußte, das galt ihm!

Ganz unerwartet für seine Gegner, deren Hohngelächter plötzlich verstummte, kehrte er um und eilte mit weiten Schritten auf den Plan. Seinen Beleidiger, es war der Herrnbauernhausmann, packte er bei der Brust, schüttelte ihn heftig und rief: »Wenn ich nicht – trotz Ihrer Frömmigkeit! – den Frieden des Sonntags heiliger achtete als Sie, würde ich Sie hier vor all den Männern für Ihre Gemeinheit züchtigen, wie Sie's verdient! Sie werden sich vor Gericht demnächst zu verantworten haben. Ich ruhe nicht, bis meine Ehre wiederhergestellt ist, und sollte darüber Pfarrer Walter öffentlich vor Gericht erklären müssen, ob er in seiner heutigen Predigt beabsichtigte, mich zu verdächtigen oder nicht!«

Das drohende Murren war gleich nach den ersten Worten des Lehrers verstummt; der Schluß seiner Rede rief offenbare Bestürzung hervor. Ratlos blickten sich die Männer an, der Bedrohte jedoch hielt Reinhardt zurück, als er sich rasch entfernen wollte, und bat kleinlaut: »Ach, um Gottes willen, Herr Schulmeister, Sie werden mir doch das nicht antun und mich verklagen? Sie werden mich doch nicht ins Unglück bringen?«

»Nichts da, ein jeder sehe zu, was er redet und tut; so braucht er die Verantwortung nicht zu scheuen!«

»Herr Schulmeister, so seien Sie doch nicht gleich zum Häusle 'naus! 's war ja gar nicht so schlimm gemeint!« mischte sich der Herrnbauer ein.

»Pfui, Herrnbauer!« rief Fritz aufflammend. »Schämen Sie sich! Glauben Sie selbst an Ihre Worte?« Blaurot im Gesicht wendete sich der Herrnbauer ab, alle Nachbarn schlugen die Augen zu Boden, keiner wagte ein Wort zu entgegnen.

Fritz stand einige Sekunden unentschlossen, endlich sagte er: »Um einen Beweis meiner Versöhnlichkeit zu geben, erkläre ich mich bereit, von einer Klage abzustehen, wenn der Herrnbauernhausmann, in Gegenwart des Herrnbauern, Bergbauern und Ungersbauern, die sich als Zeugen zu unterschreiben haben, vor dem Friedensrichter die Erklärung zu Protokoll gibt – merkt auf: daß er die eben gegen mich ausgestoßenen Beleidigungen zurücknimmt und Abbitte leistet; daß endlich die drei genannten Bauern sich verbürgen, daß die heutigen Vorfälle nicht weiterverbreitet und zu Schaden meiner Ehre ausgebeutet werden!«

»Ha, Schwenselens auch, weiter nichts?« schrie der Ungersbauer, kirschbraun vor Wut. »Ist so was erhört? Können wir den Leuten die Mäuler verbieten? Was gehen uns Ihre Händel an?« »Ganz wie es Ihnen beliebt!« sagte Reinhardt kalt. »Ist heute abend nicht eine gerichtlich beglaubigte Abschrift des Protokolls in meinen Händen, klage ich morgen.«

Wie prasselte das Zornfeuer auf, als Reinhardt aus Hörweite war. »Ist's möglich?« knurrte der Schneidersnickel. »So wird uns aufgebrummt? Uns, den Bauern? Und von wem? vom Schulmeister? Was? nicht einmal der Schulmeister will sich mehr was gefallen lassen? Was? – auch so'n Hungerleider verlangt Ehr' und Respekt von uns, den Bauern? Nä – da tu' ich nimmer mit, das paßt mir gar nicht!« Damit schlich er davon.

»Hungerleider?« schrie der Ottensott. »Hungerleider? – ja 's beißt mich was! Sonstens hat's 'troffen, freilich! waren auch andere Zeiten damals. Um 'ne Faltenwurst oder gar um ein Viertel Weizen haben sie sich zum Pudelhund hergegeben, bis nach Bautzen sind sie um ein Maß Bier oder einen Schnaps gelaufen. – O, du lieber Herrgott, ja, das waren eben andre Zeiten!«

»Gott's ein Donner auch!« fiel ihm der Bergbauer ärgerlich ins Wort. »Wenn einem zuletzt die Gall' überläuft, zu verwundern ist's nicht. Auf den Feldern liegt das Unglück zu Haufen; statt zu beraten, wie der Schaden zu mindern ist, steht ihr da und schwätzt wie alte Weiber. Ich bin kein Stürmer, aber das sag' ich frei öffentlich, der Pfarrer hätte heut' was anders tun können, als die Gemüter noch mehr zu verhetzen. Dir, Michelslanger, gehört schon eins aufs Maul, daß du mit deinem Unsinn da auf öffentlicher Straße losplatzest. Und der Lehrer hat ganz recht, wenn er sich solchen Schimpf nicht gefallen läßt; an uns liegt's, ihm sein Recht zu verschaffen. Ist ein wackerer Mann, der Reinhardt, kein Untädele hängt an seinem Namen. Und jetzt redet: wann treffen wir uns beim Friedensrichter?«

»Auf mich brauchst nicht zu warten, ich komm' nicht!« gurgelte der Herrnbauer und wendete sich zum Gehen.

»Holla! so laufen die Franzosen?« rief ihm der Bergbauer nach. »Halt da, ich hab' noch ein Wort mit dir zu reden! Das Verlangen des Lehrers ist billig und gerecht. Schimpf und Schande über dich, kannst du's übers Herz bringen, einem Menschen, der dir nichts zuleid getan hat, die Ehre abzuschneiden!«

»Nichts zuleid getan?« fuhr der Herrnbauer herum. »Hat er mich nicht verwichen im Wirtshaus und jetzt wieder auf den Tod 'kränkt?«

»Und hast du's etwa nicht an ihn 'bracht? – Schwenselens auch, Herrnbauer, ich kenn' dich nicht mehr gegen früher und müßt lügen, wollt' ich sagen, du gefielst mir! Ein für allemal: Schlag sechs bin ich beim Friedensrichter; bleibt einer von euch aus, bin ich der erste, der im Amt für den Lehrer und gegen euch wie gegen den Pfarrer zeugt – richtet euch danach!«

Der Herrnbauer griff wieder mit den Händen in die Luft, als wolle er ersticken, der Ungerskasper kraute sich die Haare und blickte verlegen dem Bergbauer nach. »Gevatter,« wendete er sich an den Herrnbauer, »da ist nichts zu machen, um Sechs hol' ich dich ab ins Friedensgericht!«

Die Versammlung verlief sich sehr still. Mit großem Interesse hatten die heimlichen Beobachter in der Kirchbauernstube den Verlauf dieser Vorfälle beobachtet. »Zum Henker auch, ein verfluchter Kerl!« rief der Jockenhannes, als es unter der Linde still und leer geworden war. »Hätt' ihm nimmer zugetraut, daß er sich so ganz allein unter die wütigen Brummochsen werfen würde!«

»Das Drunterwerfen ist noch nichts!« lachte der Wagnerspaule. »Ist einer in der Hitz', gehört dazu nicht einmal besondere Courage! Aber daß er mit den wütigen Narren fertig wurde, daß er sie im Handumdrehen mit ein paar Worten zusammenschmiß – das ist eine Tat!«

»Freilich, freilich!« knurrte Hannes, nicht eben geschmeichelt. »'s ist zu dumm, daß wir den verrückten Querkopf nicht auf unsre Seite brachten!«

»Dagegen meine ich, da wäre der Schaden ebenso groß nicht. Solch ein verdrehter, halsstarriger Querkopf könnt' uns im eignen Haus schlimmes Spiel anrichten. Laß ihn doch! Solang er – wie heute – für uns arbeitet, mag er's forttreiben; stellt er sich aber ernstlich gegen uns, dann – pffft! fort mit ihm! – Holla, Hannes, wir haben Glück! – heidenmäßiges Glück! – Nicht nur gelingt die Dummheit am Freitag über alles Erwarten – muß noch lachen, denk' ich dran, wie sich die Brummochsen erhitzten, so für nichts und wieder nichts! – und dann der Schrecken im Dorf, und drauf das Hagelwetter, die Predigt – 's ist nicht anders, als wenn alles zusammen berechnet worden wär'!«

»Na, na – der Hagelschlag hätte nicht sein müssen! Meinst, 's ist 'ne Kleinigkeit, eine ganze Ernte verlieren?«

»Oh, stell' dich nicht dumm! weißt so gut als ich, daß dir das hundertfältig wiederkommt! – Hm! – hat sich der ärgste Aufruhr gelegt, wird's nun Zeit, so leise bei dem Herrnbauer und Ungerskasper anzuklopfen. Ist mir nicht leid, daß dir's bei ihnen gelingt, du hast Glück, heidenmäßiges Glück. Nur auf den Beckenkarl hab' acht, der Bursch gefällt mir nicht, nimmt die Sache gar zu ernstlich; und er war vorher so dick mit dem Schulmeister befreundet – deswegen allein schon mißtrau' ich ihm!«

»Oho! den Beckenkarl hab' ich! Wären mir alle so sicher wie der, hätte ich gewonnen' Spiel!«

»Nu, nu – Vorsicht ist zu allen Dingen nütze! – Muß dich auch loben, daß du den Uhrmacherle auf deine Seite bringst – nur sieh dich vor, der Uhrmacherle ist ein falscher Hund!«

Hannes war jach aufgefahren, seine Augen quollen aus den Höhlen, den Stierkopf halb vorgebeugt, die geballten Fäuste halb gehoben, stand er sekundenlang wortlos vor dem Paule, der sich an seinem Entsetzen weidete, tückisch unter den Brauen hervorblinzte, sonst aber nicht tat, als bemerke er den Schrecken des Hannes. »Was – was willst du damit sagen?« knirschte dieser endlich.

»Nichts weiter, als daß ihr nicht so schreien sollt, kommt ihr wieder einmal im Backhäusle zusammen!«

»Und was hast gehört? – was?«

»So tu' doch nicht so dumm – was werd' ich gehört haben? Kam an jenem Abend zufällig – nehm' öfter diesen Weg ins Wirtshaus! – die Gärten 'runter und hör', wie der Uhrmacherle Geld verlangt, und du ihn zur Ruhe setzest, weil er seine Sache nicht richtig macht!«

»Und weiter nichts?« keuchte Hannes, dem große Tropfen auf der Stirn perlten; einlenkend setzte er sofort hinzu: »Ich meine, ob du nicht am Ende dummes Zeug 'rausgehört hast, wie das leicht möglich ist!«

»Dummheiten genug!« lachte Paule vergnügt. »Und das bringt mich auf mein Anliegen. Ein Gewissen habe ich zwar nicht, wie der Uhrmacherle, aber mein Vergnügen mache ich mir doch gern – mit einem Wort: ich brauch' Geld, Hannes! – und sei kein Knicker! Damit dir's nicht zu sehr in den Beutel greift, komm' ich allein – aber sei kein Knicker, Hannes, daß sich nicht am Ende auch in mir ein Gewissen regt!«

Hannes lehnte am Fenster, den Sturm zu verbergen, der in ihm tobte. Was wußte Paule? und wie war er dazu gekommen, ihn zu belauschen? Hatte ihn ein Verdacht zum Lauschen getrieben?

»Hast dich nun bald besonnen?« sagte Paule drängend. »Hole Geld – das Warten ist langweilig!«

»Ja, ja – ich will's tun!« sagte Hannes, sich gewaltsam bezwingend. »Ist es recht, mich so zu plagen, nachdem mir eine ganze Ernte zerschlagen ist? Sei still – da ist Geld! Sei nun aber auch vernünftig in deinen Forderungen, es könnte sonst der Fall eintreten, daß ich die Wirtschaft satt bekäm'. Zehnmal mehr hast du mich gekostet, als was du mir genützt hast!«

»Laß gut sein, Bruderherz!« lachte Paule und strich vergnügt das Geld ein. »Die Zukunft bringt alles wieder ein!«

»Die Schraube hätte gleich ihre richtige Mutter gefunden!« lachte Paule, als er die Treppe hinabstieg. »Und nun ist's aus mit der Herrlichkeit! mein bist du und mein bleibst du! – Reizen darf ich ihn nicht; zwar ist er ein Furchthase, aber in der Verzweiflung, was tut ein Mensch nicht? und die Doppelflinte steht seinem Bett gar zu nahe. Ja – so muß es sein! Ruhe muß er haben, daß er noch einmal sicher wird; hat er sich dann vollgesaugt, preß ich's ihm mit einmal ab. Gequält ist er genug, die Stunde wird er so bald nicht vergessen! – Nun gilt's, den Uhrmacherle in die Schraube nehmen, denn gewiß sein muß ich meiner Sache und dann –!«

Unterdes ging Hannes in seiner Stube auf und ab, preßte beide Hände auf den kahlen Schädel und knirschte mit den Zähnen. Vergessen war der Erfolg über seine Gegner, vergessen ihre schimpfliche Niederlage durch den Lehrer, vergessen der Hagelschlag – nur ein Gedanke ringelte sich wie eine endlose Feuerschlange durch sein Hirn: Aus ist's mir dir! Das Glück hat dich verlassen! Das Geheimnis ist zerrissen, die Vergangenheit erwacht! – Die Rache kommt! – Wie? Sollte es doch wahr sein? sollte es eine ewige Gerechtigkeit geben? – sollte – sollte im Grab noch Leben sein? – dennoch ein Gott über der Welt stehen? – – »Verflucht!« knirschte er. »Nein, nein!« es soll – es kann nicht sein, ich will nicht! Ich will kein ewiges Leben! – Und wenn doch? wenn doch? was nützte mir dann die Doppelflinte? – Unsinn, Unsinn! Steh' ich etwa mit meinem Unglauben allein? Sind nicht alle Klugen seit undenklichen Zeiten einig, daß die Unsterblichkeit eine Narrheit ist? Und was kümmert mich das? steht mir nicht das Messer am Hals? – Verflucht, verflucht! Was weiß der Paule? – was ahnt er?« Wieder rieselten die klaren Tropfen von seiner eisigkalten Stirn nieder, heftiger und wilder wurde sein Gang durchs Zimmer, mechanisch spielten seine Hände mit den Hähnen des Gewehrs. Plötzlich lachte er wild auf, klirrend stellte er die Flinte in die Ecke zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Daß man doch immer wieder zum Narren wird, trotz seiner Jahre und weißen Haare! Soll ich beim ersten Schuß gleich die Flinte ins Korn werfen? – Unsinn! Hannes, wo waren deine Gedanken? – Und wenn er alles weiß, – was schadet's? Ist er mir doch schon lange überlästig durch seinen Spott und – seine Gescheitigkeit? Mit Geld ist nichts ausgerichtet, er ist ohnedies unersättlich! – Gibt's nicht Mittel, die sicher und gründlich helfen? Nur unverzagt, dem Klugen gehört die Welt! – Schon wieder der dumme Schauder! – Sieht denn ein Mensch das Blut an meinen Händen? Was quäl' ich mich? Kein Mensch denkt mehr an den dummen Schäfer! ha – freilich doch! Eben die zwei, die sind's, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen! hätte ich die vom Hals – mir wäre geholfen, ganz, für immer! Aber allein müßt ich's vollbringen, ganz allein und sicher müßt' ich gehen, ganz sicher! – Huuu! – Torheit! Einmal ins Blut getaucht, werden die Hände nimmer rein, auf ein wenig mehr oder minder kommt's nimmer an! – Ruhig, Hannes! Fort müssen die beiden Quälgeister – ich will freie Bahn haben! Erst sollen sie mir helfen, meine Ansicht durchführen, dann darf kein Teufel ihr Schicksal aufhalten!«

Noch etwas bleich und verstört, sonst aber ruhig ging er hinab in die Wohnstube. Er traf Lina in sehr schlechter Laune, rücksichtslos warf sie die Notenhefte umher, dazwischen schlug sie so heftig auf die Tasten, daß eben eine Saite klirrend sprang. »Nu, nu – was ist das? – hast einmal wieder deinen Rappel?«

»Und warum soll ich ihn nicht haben?« schrie sie. »Einen dummen Streich macht Ihr auf den andern, legt's mit Absicht darauf an, daß alle Leute mit Fingern auf Euch deuten –«

»Holla – wo willst 'naus?«

»Gehört kein übermäßiger Verstand dazu, um es zu erraten! Soweit der Schimpf Euch allein betrifft, könnt Ihr's halten, wie Ihr mögt. Aber ich will nicht darunter leiden – habt Ihr's verstanden?« Lina stand dicht vor dem Vater und stampfte heftig mit dem Fuße. »Merkt's Euch, Eurer Narrheit willen mag ich nicht zur alten Jungfer werden!«

Hannes mußte sich auf das Kanapee werfen, so schüttelte ihn das Lachen. »Dumme Trine, merkst denn nicht, daß dein Weizen bereits blüht?« rief er endlich. »Ist nicht der Beckenkarl los und ledig? Fang' ihn dir, 's ist ein Goldfisch! – das Angeln ist deine Sach'!«

»Was Ihr wieder schwätzt! Der Karl ist ja wie toll und verrückt!«

»Desto leichteres Spiel hast du!« sagte Hannes, griff nach seinem Stock und verließ die Stube. –

Fritz wanderte sinnend durch die Flur. Welch anderes Gesicht zeigte heute die Welt! Wo noch gestern ein Ährenmeer schwankte und wallte, da dehnten sich heute öde, wild zerhackte, von Wasserfluten durchwühlte, leere Stoppelfelder. Und wie? – ist das der alte prächtige Holzbirnbaum auf dem Königsbühel? Er ist fast nicht wiederzuerkennen. Kahl starren die nackten Aste empor, nur hie und da noch zittert ein einzelnes Blättchen im Winde. Das Laub hat der Hagel in den Boden geschlagen, nur zerrissene Zweige, zerknickte Aste sind umhergestreut und wohl zollhoch decken die grünen, halbentwickelten Früchte den Boden.

Ein heißer Schmerz zuckte Reinhardt durch das Herz, eine unsägliche Trauer erfüllte sein Gemüt beim Anblick dieser Zerstörung inmitten des vollsten Lebens. – Allmählich füllte sich die Flur; Greise und Kinder, Männer und Frauen zogen klagend durch die öden Felder; und Reinhardt feuchtete sich das Auge, als er sah, mit welcher Sorgfalt alt und jung die wenigen verschonten Ähren sammelten, wie die barfüßigen Mädchen und Knaben weinend die halbverdorbenen Fruchtkörner aus dem Schmutz lasen.

Die Zerstörung war furchtbar, der Schaden für den Augenblick gar nicht zu übersehen, nur ein schmaler Streifen der Flur, an der Sülzdorfer Grenze, war verschont geblieben. Was sollte für den Winter werden? – wie war bei der Zerklüftung im Dorf zu helfen?

Fritz gedachte den Schulbauer aufzusuchen, da sah er unter einem entblätterten Dornstrauch den Lichtennikele sitzen, zwischen den Knien sein Enkelkind. Die gefalteten Hände, aus denen wenige geknickte Ähren herabhingen, ruhten auf dem Flachskopf des Kindes.

Nikel stand auf, gab Fritz die Hand und sagte: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen – der Name des Herrn sei gelobt! – Aber hart ist's, Herr Schulmeister, hart – hart! Da seht, meine ganze Ernte halte ich in den Händen – und daheim hat bei dem Schrecken meine Alte ein neuer Anfall getroffen und ihr nun auch die Sprache genommen.«

»Ist's möglich?« rief Fritz erschüttert.

»Ja, der Herr prüft hart! Ihr wißt, es ist nicht meine Art, zu jammern, aber diesmal will doch mein Glaube schwach werden, so sehr ich mich dagegen wehre. Die ganze Ernte hin! – Herr, wißt Ihr, was das besagen will? Mein Gott im Himmel! woher Futter nehmen fürs Vieh und Nahrung für die Kinder? wie die Kapitalzinsen aufbringen? Und bleib' ich mit dem Zins in Rückstand, ist Haus und Hof verloren, in meinen alten Tagen werde ich zum Bettler! Ach, und was wird mit meiner Alten? was mit den Würmern, den Kindern? – Mein Gott, mein Gott, verlaß mich nicht!«

»Seid getrost, er wird nicht!« sagte Reinhardt tief bewegt. Unbesehen drückte er dem Alten seine Barschaft in die Hand mit den Worten: »Vertrauet nur dem Herrn, er wird euch milde Herzen erwecken. Zwar ich kann nur wenig tun, aber heute noch rede ich mit dem Schulbauer – verlaßt Euch darauf, es wird Rat geschafft. – Nehmt doch die Kleinigkeit, besorgt Eurer armen Frau und den Kindern eine Erquickung. Bald komme ich zu Euch ins Haus; da wird sich zeigen, was sich tun läßt. Nur den Kopf oben, Nikele! – Ihr wißt ja: wer nur dem lieben Gott vertraut, der hat auf keinen Sand gebaut!«

Ehe Nikel sich sammeln konnte, war Reinhardt weit weg. Nur unartikulierte Laute, nur Seufzer entrangen sich der Brust des Alten. So versunken war Nikel, daß er näher kommende Schritte überhörte: erschrocken fuhr er herum, als ihn Pfarrer Walter anredete.

»Guten Tag, Nikel! Ei, ei – so fassungslos? so wenig Ergebung in den Ratschluß des Höchsten? Fürwahr, grade von Euch erwartete ich etwas ganz anderes! Wie oft habt Ihr mich erfreut durch die Stärke Eures Glaubens. Ei, ei – habt Ihr schon wieder vergessen, daß wir grade für die Leiden Gott nicht inbrünstig genug danken können ...?«

Die Tränen des Alten waren bei dieser heftigen Rede versiegt: groß sah er den Geistlichen an, schüttelte langsam den Kopf und sagte: »Herr Pfarrer, lügen müßt' ich, wollt' ich sagen, daß ich solche Lehre verstehe. – Nein, so weit hab' ich's noch nicht gebracht, den Herrgott um Leiden zu bitten, gar zu beten, daß er mir mein Liebstes, – meine Alte, meine Kinder und Tichterle – nehmen solle. Sonst aber, Herr Pfarrer, acht' ich, es hat eben alles sein Maß und Ziel, auch das Ertragen, und eh' man einem Menschen schwachen Glauben und Kleinmut vorwirft, sollt' man doch auch erst nachsehen, was alles auf ihm liegt.«

»Wie? – was? Redet das der Lichtennikele? – redet er so zu seinem Seelsorger und Beichtvater? – Wehe über Euch, der Ihr noch im Alter Euch betören lasset von Trug und Wahn der sündhaften Welt! – Aber sah ich es nicht so kommen? habe ich Euch nicht gewarnt, abzulassen von dem verirrten Mann, dem Schulbauer? – Und habe ich Euch nicht ernstlich vermahnt, den Irr- und Schwarmgeist, den Lehrer Reinhardt zu meiden? – Und sah ich nicht diesen Verworfenen soeben noch von Euch gehen?«

Das Geld, das er noch immer in der Hand hielt, begann plötzlich zu glühen, ein Feuerstrom schoß dem Alten nach Kopf und Herz. »Herr Pfarrer,« sagte er atmend, »was Ihr über mich saget, trage ich still, Gott Lob und Preis! Anders ist es, redet Ihr über Leute, die sich nicht entschuldigen können. – Ich laß kein Unrecht auf den Lehrer und den Schulbauer kommen. Bessere, bravere, rechtschaffenere Männer kenne ich nicht! Und ja, ich muß Euch auch das sagen; hätten der Schulbauer und der Schulmeister mich nicht alsfort in meinem Glauben bestärkt, Ihr, Herr Pfarrer, Ihr hättet mich so weit gebracht, daß ich jetzt sagen müßte: die zwei Männer haben den allein rechten Glauben, und ich nehm' ihn auch an!«

Pfarrer Walter prallte zurück. Heftig atmend senkte er den Kopf und drückte die gefalteten Hände gegen die Brust. »Wie? – höre ich auch recht? – Der alte Lichtennikel ist ein Abgefallener? wagt seinen Beichtvater und Seelsorger ins Gesicht zu beschimpfen? wagt es, den heiligsten Glauben zu lästern und zu schänden?«

»Herr Pfarrer, nichts für ungut! all' Ding hat sein Maß und Ziel, Ihr aber achtet das nicht! Wer gibt Euch das Recht, mich einen Abtrünnigen zu schelten? – Nein, Herr Pfarrer, ich halte fest am Glauben meiner Väter und hoffe damit vor Gottes Thron zu bestehen. Von Eurer Lehre aber kann ich nur wenig halten. Statt die Gebeugten aufzurichten und die Traurigen zu trösten, fallt Ihr mit harten Worten auf sie ein und erschreckt sie vollends; statt Frieden zu stiften, mehrt Ihr die Feindschaft; statt zu löschen, blast Ihr in das Feuer durch Euer übermäßiges Eifern!«

»Wie? Was untersteht Ihr Euch? soll ich mich vor Euch verantworten? – Wohl denn! Ja, ich eifere um den Herrn; sein Reich zu mehren, ist mir Lebensaufgabe. Wer der Milde und dem Eifer widersteht, der ist für mich ein Verlorner und Verdammter? und wie der Herr nicht säumte, den Feigenbaum, der nicht Frucht brachte, zu verfluchen, also zögere auch ich nicht, den faulen Bäumen, die den edeln Reben im Weinberg des Herrn Licht und Nahrung entziehen, die Axt an die Wurzel zu legen!«

»Und Ihr rechnet den Schulbauer und den Schulmeister zu den faulen Bäumen? – An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen! Ist nicht der Schulbauer der Trost und die Hoffnung aller Armen weit und breit? Und der Schulmeister! Wer kann einen Tadel an seinem Wandel finden? Und seht! – Als ich ihm meine Not klagte, gab er mir unbesehen, was er an Geld bei sich hatte; mit linden Worten vertröstete er mich auf Gottes Hilfe und versprach, daß er für mich tun werde, was er könne. Und einen solchen Menschen wollt Ihr einen Gezeichneten schelten? – Wer war mir in meiner großen Not der Nächste, Ihr oder er? – Eifert Ihr für Euren Glauben, Herr Pfarrer – mein Glaube ist das nicht, ich spür's! – Nein, wie Ihr auch eifern mögt, ich getröste mich der Worte: ich will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe! und wiederum: kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken! – Adjes, Herr Pfarrer!«


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