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Neunundzwanzigstes Kapitel

»Herr Lehrer! Ach, um Gottes, Jesu Christi willen – so wachen Sie doch auf!«

»Ja, ja doch! Sind Sie's, Frau Kräußlich? Was ist los?«

»Herr Gott im hohen Himmel, erbarme dich unser! Hören Sie denn nichts? Allmächtiger Gott, das war wieder ein Stoß, das ganze Haus erzitterte! Stehen Sie auf, Herr Lehrer, in allen Häusern ist Licht! Solch ein Unwetter ist noch nicht erlebt worden! Gott sei uns gnädig und barmherzig! – der Jüngste Tag bricht an!«

Reinhardt war nun völlig munter geworden. Rasch fuhr er in die Kleider und ging zu Frau Kräußlich, die fassungslos auf dem Sofa in seiner Arbeitsstube die Hände rang, laut weinte und zähneklappernd Stoßgebete murmelte. Und freilich, ihre Angst war nur allzu begründet. Ein Orkan raste draußen mit einer in dieser Gegend ganz unerhörten Heftigkeit. Wie ein beutegieriges Raubtier umtobte der Sturm, Eingang suchend, das hohe, freiliegende Schulhaus, ein Gebrüll, Krachen und Donnern erfüllte die Luft, wie es Reinhardt nie gehört, es wurde nur übertönt von den furchtbaren Stößen, die das Haus in seinen Grundfesten erbeben machten. Reinhardt versuchte kaum, die Haushälterin zu trösten. Ohnedies hätte er sich doch kaum verständlich machen können, denn eben rasselte ein Schornstein über das Dach. Durch die zerschlagenen Ziegel fand der Wind Eingang in das Haus, und nun wurde das Heulen, Pfeifen, Rasseln und Klappern wahrhaft betäubend. Es war sechs Uhr morgens; wie lange der Orkan schon gewütet, wußte Reinhardt nicht; aber er empfand, daß dem Haus Gefahr drohte, wenn die Gewalt des Sturmes nur noch um ein geringes stieg.

Das war eine lange, bange Stunde, die er verlebte. Endlich, als die Nacht einer grauen Dämmerung wich, schienen die Elemente ihre Wut ausgetobt zu haben. Das Brüllen und Heulen verstummte, der Wind wurde schwächer, dem wildesten Aufruhr folgte eine verhängnisvolle Ruhe und Stille.

Langsam brach der Tag an, sein zunehmendes Licht enthüllte nach und nach die fürchterliche Verwüstung dieser einen Nacht. Viele Bäume lagen entwurzelt oder geknickt am Boden, die wenigen noch stehenden waren grausam mitgenommen. Im ganzen Dorf war fast kein Schornstein ganz geblieben, alle Dächer mehr oder minder beschädigt, das Kirchdach fast ganz abgedeckt. Fritz wischte sich die Augen – täuschte ihn das graue Licht oder lag ein Nebel auf dem Lindenberg? Wo war der prachtvolle Tannenwald geblieben? – Wo gestern noch der herrlichste Tannenwald gerauscht, da war heute Wildnis und Verwüstung.

Heute war es ihm fast lieb, daß seine Schüler ausblieben. Nachdem er dem Pfarrer Nachricht gegeben, daß und warum er den Unterricht ausfallen lassen müsse, knöpfte er sich in seinen Überrock und eilte durch den inzwischen wieder stärker gewordenen Sturm den Lindenberg hinan.

Er traf fast schon die ganze Gemeinde auf der Höhe. Alle standen stumm und starr vor dieser Verwüstung. Da lagen Tausende von schlanken, weißschimmernden Stämmen kraus durcheinander gewirrt, manche unverletzt in ihrer stolzen Schönheit, andere grauenvoll zersplittert. Da und dort ragten Stammstumpfen aus dem Chaos, aus dem Boden gerissene Wurzeln starrten gen Himmel, ja mancher Riese hatte bei seinem Fall die Erde klaftertief, klafterweit losgerissen und hielt sie jetzt mit seinen zähen Wurzeln hoch in die Luft, daß die Heidel- und Preißelbeersträucher über den Tannenzweigen wehten. Ein erschütternder Anblick!

Auch der Jockenhannes und Herrnbauer keuchten schwerfällig die Höhe heran, sichtbar beide in großer Aufregung. Ihr Gespräch, wenn auch leise geführt, war heftig und schien nach dem oftmaligen Stehenbleiben, den leidenschaftlichen Gestikulationen zu urteilen, fast in einen Zank auszuarten. Flüchtig nahmen sie die Verwüstung in Augenschein, zogen dann den Schulzen und Ungerskasper beiseite; mit verstärkter Heftigkeit wurden die Verhandlungen fortgesetzt.

Fritz konnte kein Auge von dem Jockenhannes verwenden, so sehr hatte ihn sein Aussehen erschreckt. Der Mann war furchtbar gealtert, seine Gestalt gebrochen, seine Züge welk. Was war mit dem Mann vorgegangen?

Reinhardt hatte nicht Zeit, darüber nachzugrübeln, Lärmen und Schreien der Nachbarn riß ihn aus seinem Sinnen.

Trotz der Warnung vorsichtiger Männer kletterten übermütige Waghälse zwischen die noch knarrenden, sich dann und wann verschiebenden Stämme hinein. Ganz unerwartet kehrten sie zurück und berichteten, die gestürzten Stämme hätten Lagsteine bloßgelegt, die, wenn auch verwittert und ganz bemoost, die Grenzstriche merkwürdig deutlich zeigten und den Wald in ziemlich gleiche Teile teilen müßten, wenn man die dazugehörigen Steine auffinden könne. Begreiflich rief diese Nachricht große Aufregung hervor: der ganze Lindenberg war von jeher Gemeindeeigentum gewesen, niemals geteilt oder auch nur vermessen worden – was sollten die Grenzsteine in seiner Mitte bedeuten, wie sollten sie dahin gekommen sein? – »Das ist ein dummer Unsinn!« schrie der alte Grundmüller. »Ich hab' seinerzeit den ganzen Lindenberg mit niedergeschlagen und wieder angepflanzt. Damals blieb kein Zoll Boden, der nicht umgewühlt worden wäre, aber von Grenzsteinen war nichts zu spüren! Unsinn, dummer, wo sollten die Lagsteine herkommen?«

Allein die Entdecker blieben hartnäckig auf ihrer Behauptung. Schließlich kletterte alles, was nur konnte, hinein in die Verwüstung. Voran der Beckenkarl und sein Bruder; sie waren auch die ersten, die zurückkehrend den Fund bestätigten. Die auf dem bloßgelegten Grenzstein angedeutete Linie verlor sich bergab im Wirrsal des Waldbruches, dort war vorläufig nichts zu machen; weiter hinauf wies sie jedoch in minder beschädigte Waldesteile, und dorthin machte sich sofort die ganze Versammlung auf den Weg, um womöglich sogleich der rätselhaften Geschichte auf den Grund zu kommen. Reinhardt hätte sich gerne angeschlossen, doch mußte der Wald im allzu großen Bogen umgangen werden, um an die bezeichneten Stellen zu gelangen; der erweichte Boden war aber grundlos. So beschloß er, lieber heimzugehen.

Den Jockenhannes, Herrnbauer, Ungerskasper und Schulzen hatte er ganz vergessen, jetzt sah er sie vor sich, wie es schien in größter Eintracht, dem Dorfe zustreben. Ehe er sie einholen konnte, verschwanden sie im Gemeindehaus. In der Haustüre lehnte Lina; obgleich ihre Augen auf die Gasse gerichtet waren, schien sie ihn doch nicht zu bemerken, wenigstens erwiderte sie seinen Gruß nicht. Fritz prallte unwillkürlich zurück, so hatte sich das stolze, selbstbewußte Mädchen verändert. Fast nicht wieder zu erkennen war sie, so schmerzlich war der Mund zusammengepreßt, so bleich waren die Wangen, solch wilder Schmerz sprach aus den matten, verschleierten Augen, den Falten der sonst so klaren Stirn.

Daheim traf Fritz eine neue Schreckenskunde. Mehrere Mädchen, Reinhardts beste, bravste Schülerinnen, hatten sich weinend geweigert, fernerhin die Pfarrschule zu besuchen. Auf heftiges Drängen der Mütter gestanden sie endlich, der Pfarrer habe bei Erklärung des sechsten Gebotes solch schreckliche Sachen vorgebracht, daß sie vor Scham nicht zu bleiben gewußt. Nun bringe er die Sachen bei jeder Gelegenheit aufs neue: die Buben hatten sich das gemerkt und quälten die Mädchen, wo sie sich nur blicken ließen. Dazu wiesen sie Bibelsprüche vor, die sie auswendig lernen sollten, die den ehrlichen Weibern das Blut ins Gesicht jagten. Dabei kamen leider noch mehr Dinge an den Tag. So sollte Pfarrer Walter wöchentlich mindestens einmal den Bibelspruch: Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen! zum Thema einer eingehenden Besprechung wählen, in welcher das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern in eigentümlicher Weise beleuchtet wurde. Im wesentlichen lief die Sache stets auf die Ermahnung hinaus, die Kinder sollten alle Ermahnungen und Befehle ihrer Eltern mit der größten Vorsicht aufnehmen, ernstlich mit ihrem Gewissen darüber zu Rate gehen und in allen zweifelhaften Fällen, auch bei anscheinenden Kleinigkeiten, den Rat des Seelsorgers darüber einholen.

Zu einer andern Zeit würden solche Vorgänge höchstens eine stille Entrüstung gegen den Pfarrer hervorgerufen haben; bei der ohnedies schon herrschenden religiösen Aufregung unter den Frauen war ihre Wirkung gefährlich, zumal seit einiger Zeit das Gerücht ging, der Jockenhannes schleiche heimlich des Nachts in das Pfarrhaus. Ohne sich darüber Rechenschaft geben zu können, empfanden alle Frauen, daß ihr heiligstes ernstlich bedroht sei. Reinhardt erschauerte, als er sie mit aufgelösten Haaren, schreiend und dem Pfarrer drohend durch das Dorf ziehen sah.

Aufgeregt durch ein langes, mühsames, vergebliches Suchen nach den Grenzsteinen, von deren Vorhandensein sich nunmehr alle durch den Augenschein überzeugt hatten, kehrten die Männer in das Dorf zurück. Heulend empfingen sie die Weiber, die Beschuldigungen gegen den Pfarrer, die sie ihnen zuschrien, riefen im Nu eine neue Aufregung hervor. Und diesmal war die Erbitterung gleich stark unter den Wilden wie unter den Frommen! Man war einig: solcher Unfug war nicht zu dulden.

Es war nicht anders, als ob heute sich alles Unwetter über Bergheim entladen sollte. Ehe die Männer dazu kamen, dem Pfarrer ins Haus zu rücken, brach ein neuer Sturm herein, der wenigstens vorläufig diese Absicht vereitelte.

Während noch die Männer auf der Gasse zusammenstanden, begann das Gemeindeglöckchen vom Turme zu wimmern. Erstaunt blickten sich die Nachbarn an, dann eilten die Besitzer des Gemeindevermögens, welche allein die politische Gemeinde bildeten, in die Gemeindestube.

Auch Reinhardt war bei dem unerwarteten Klingen des Gemeindeglöckchens aufgefahren und fragte sich erschrocken: was bedeutet das? – Lange sollte er nicht im unklaren bleiben, nach wenigen Minuten schon sah er die Versammlung wieder auseinanderstäuben. Bleich und verstört rannten die Männer durch die Gassen nach ihren Wohnungen: wo sich eine Gruppe bildete, ertönte wüster Lärm: die Weiber, die noch da und dort zusammenstanden, stoben nach kurzem Bericht heulend und schreiend auseinander.

Reinhardt sah den Lichtennikele das Dorf herabwanken und winkte ihn zu sich. Keuchend trat der Alte ins Zimmer und sank ächzend auf einen Stuhl; es dauerte lange, bis er reden konnte. »Hättet nicht zu winken brauchen, war ohnedem auf dem Weg zu Euch! – O mein Gott! Herr Schulmeister! daß ich auf meine alten Tage solche Dinge erleben muß! – Ist's denn möglich? – Herr Schulmeister, paßt auf, das ist der Anfang vom End'; wer fallen soll, wird blind und übermütig! – Ach, Ihr werdet nicht klug aus meinem Geschwätz! Habt nur Geduld mit meinem alten Kopf; was ich erlebt, kann auch einen jungen aus Rand und Band bringen. Denkt, wir haben kaum Platz genommen in der Gemeindestube, so hält der Schulz einen langen Vortrag des Inhalts: Die Ungerechtigkeit habe lange genug in Bergheim regiert; es sei Zeit, daß endlich das Recht zur Geltung komme. In der Gemeindelade liege die Urkunde über den einstmaligen Schäfereiankauf. Daraus geht klar hervor, daß das Lindenholz zur guten Hälfte nicht der Gemeinde, sondern den Schäfereibesitzern gehöre. Sie, der Hannes, Herrnbauer und Ungerskasper, seien schon lange damit umgegangen, ihr besonderes Recht an den Wald in Anspruch zu nehmen; jetzt, da durch den Waldbruch die alten Grenzsteine bloßgelegt, dadurch ihr Recht sonnenklar an den Tag 'kommen sei, legten sie die Hand auf den Waldbruch. Nur was über die aufgefundene Grenze hinausgehe, gehöre der Gemeinde, das übrige verbleibe den ehemaligen Besitzern der Schäferei und werde nach der in der Urkunde vorgemerkten Anteilschaft der einzelnen verteilt. Als dann der Schulz die Anteilschaft der ehemaligen Schäfereibesitzer auseinandersetzt und es sich zeigt, daß nach der neuen Teilungsart der Jockenhannes, Herrnbauer, Schulz und Ungerskasper fast alles allein bekämen, für die andern nur ein elender Rest verbleibe, wir Armen und Geringen aber völlig leer ausgingen, da brach der Sturm los. Der Bergbauer schrie: die Urkunde kenne er ganz genau von der Zeit her, da sein Vater Schulz gewesen! Von Waldhutungen möge darin wohl die Rede sein, nimmermehr sei jedoch solcher Rechtsanspruch, wie ihn der Schulz soeben erhoben, daraus herzuleiten. Die Alten wären auch keine Strohmänner gewesen und hätten ihre Rechte wahrgenommen. Man solle die Urkunde auflegen, dann müsse ja sogleich offenbar werden, ob hier ein Narrenstreich oder ein Betrug vorliege, hu! – begehrten da der Herrnbauer und der Ungerskasper auf, aber der Grundmüller trat dicht vor sie hin und schrie ihnen ins Gesicht: ›Daß dich der Hund beißt! meint ihr, ihr jagt uns ins Bockshorn? Holla, dasmal habt ihr euren Kram nicht fein genug angefangen. Die Grenzsteine sind da, niemand leugnet's, ich habe den einen selber gesehen! Aber ins Holz geflogen sind die Steine nicht, irgendwer muß sie gesetzt haben; und kommen wir dahinter, wer euch den Gefallen getan hat, Gott sei ihm gnädig! Alt und verwittert sind die Steine freilich – aber der Herrnbauer hat allein genug vermooste Grenzsteine, um damit den ganzen Gemeindewald wegzulagen. Nehmt euch in acht, ihr vier! denkt nicht, wir hatten vergessen, wie ihr in den letzten Wochen tagelang im Flur herumgestrichen seid!‹ Da hätte freilich nicht viel gefehlt, wären der Herrnbauer und der Ungerskasper dem Grundmüller an die Gurgel gefahren, nun legten sich aber auch die Beckenbrüder, der Veitenbauer dazwischen, es kam zu einem Lärm und Aufruhr, daß man sein eigen' Wort nicht verstand. Der Herrnbauer und Ungerskasper wehrten sich mit Händen und Füßen, aber sie waren doch arg erschrocken über die Worte des Grundmüllers, der Schulz war weiß geworden wie die Wand, und der Hannes ließ den Kopf hängen, leckte mit der Zunge und fingerte durch die leere Luft. Einmal hatte es beinahe das Aussehen, als wollte er in seiner alten Weise losbrechen; er kam aber nicht über den Anfang hinaus. O Herr, ich habe schon mancherlei gesehen – den Anblick vergesse ich nicht, weil ich lebe. Auf einmal springt der Beckenkarl auf und schreit: ›He, Hannes, Ihr seid doch der Anstifter! – ich frag' Euch: wollt Ihr allsogleich die Urkunde aufzeigen und Euer Wort geben, daß ihr nichts davon wißt, wie die Grenzsteine in den Wald gekommen sind?‹ – Ich sage, Herr, totenstill war's auf einmal in der Stube, nur der Herrnbauer blies und schnaubte, fing auch an nach Fliegen zu haschen, der Ungerskasper wischte sich den Schweiß ab, und der Schulz schmatzte und leckte, wie er nur tut in höchster Angst. Da er keine Antwort kriegt, der Hannes an ihm vorbei in die leere Luft guckt, als gehe ihn die Geschichte gar nichts an, bricht der Karl in ein greuliches Lachen aus. ›Steht es so? Nun, keine Antwort ist auch eine Antwort! – und ich Tölpel habe mich so lange von euch an der Nase herumführen lassen! O, ich könnte gleich! Aber hier vor öffentlicher Gemeinde erkläre ich, daß ich nicht der Schwiegersohn eines Mannes werden kann, auf dem ein so schändlicher Verdacht liegt. Die Freierei zwischen mir und der Jockenline ist null und nichtig! Da!‹ schrie er und warf dem Hannes einen goldenen Ring vor die Füße. ›Da habt Ihr das verfluchte Fangeisen zurück! Aber wir treffen uns weiter, Hannes, ich rechne mit Euch ab!‹ Damit rannte er hinaus! Der Herrnbauer wird blau und braun und wieder totenbleich. Er wollte auffahren, aber konnte nicht, ein Stöhnen rang sich aus seiner Brust los – mein Gott im Himmel! – die Haare stiegen mir darüber zu Berge!«

»Und Hannes?«

»Der Hannes? O, Herr Schulmeister, was da auf dem Stuhle saß, das war nicht mehr der Jockenhannes, das war ein zerschmissenes, zerschlagenes Menschenkind! Der Hannes saß da, leckte und fingerte und rührte sich nicht. Ich war so ziemlich der letzte in der Gemeindestube, ich sah noch, wie seine drei Genossen auf ihn losfuhren; er sagte auch jetzt nichts, ächzend stand er auf, wie ein Mann von siebzig Jahren klammerte er sich an Tisch und Stuhllehne. Ich konnte den Anblick nicht ertragen, ich machte, daß ich hinauskam. O, Herr Schulmeister! was soll werden? Ein Betrug liegt vor, ein schändlicher Betrug, kein Mensch zweifelt daran! Ob der Herrnbauer und der Ungerskasper selber vom Hannes hintergangen wurden, was ich zu ihrer Ehre glauben will, ob sie wissentlich mithandelten, das macht, wie die Sachen liegen, gar keinen Unterschied. Daß sich der Herrnbauer überhaupt so mit dem Hannes einlassen konnte, das ist das Unglück! Sein guter Name ist dahin, den Flecken löscht nichts aus! – So traurig das sein mag, muß ich doch sagen: wenn's nur das wäre! Aber denkt doch: die Wilden wüten wider den Hannes, der sie belogen und betrogen, der sie in den Unglauben hineinhetzte, um sie nachher an den Pfaffen, an die Katholischen, an die Jesuiten – was weiß ich? – zu verraten. Die Frommen wieder speien Feuer und Flamme gegen den Herrnbauer und Pfarrer, die beide um schnöden Gewinstes willen die Religion verleugnen, ihre eignen Lehren so niederträchtig zuschanden machen! Schon schreien die Leichtfertigen von beiden Parteien: da sehe man klar, wie Religion, Tugend und Rechtschaffenheit überhaupt nichts anders wäre als ein Hafenklapper für die Dummen. ›Lustig gelebt und selig gestorben, heißt dem Teufel die Rechnung verdorben!‹ singen sie dem Holsteiner nach. Fressen und Saufen, dabei an sich reißen, was zu erlangen – das sei die allein wahre Lehre. Wer nichts mehr habe, müsse eben zugreifen, wo der Haufen zu groß. Der Hannes habe es sein Lebtag so gemacht und sei ein großer Mann dabei geworden! Nur pfiffig müsse man es anfangen, dürfte sich nicht erwischen lassen! – Denkt, wohin das führen soll? Die Ernsten wieder schreien, die Religion sei in Gefahr! Mit Gewalt ziehe man Gottes Strafgericht über Bergheim herab, wenn man dem gottlosen Treiben nicht schleunigst ein Ende mache. Das ist nun besonders den Weibern nach der unglückseligen Geschichte in der Pfarrschule in die Köpfe gestiegen, viele gebürdeten sich wie toll! Überall eine Wut gegen den Hannes, den Herrnbauer und den Pfarrer, es ist nicht auszusagen! – Herr Schulmeister! was soll geschehen, das Unglück abzuwenden? Ach, mein Gott, und grade jetzt muß der Schulbauer verreist sein! Was soll geschehen?«

Fritz hatte das letzte offenbar nur halb gehört. Während er in die Stiefeln fuhr, fragte er: »Ist sonst nichts beschlossen worden?«

»Beim Bergbauer sollen wir zusammenkommen – es soll ja unverzüglich eine gerichtliche Klage anhängig gemacht werden. – Ja, und jetzt fällt mir ein, warum ich bei Euch sitze: geht mit zum Bergbauer, Herr Schulmeister, vielleicht könnt Ihr etwas tun!«

»Habt Ihr Auftrag, mich zu bestellen?«

»Das nicht, wozu bedarf's das? – Macht keine Umstände!«

Reinhardts Lippen zuckten. »Geht nur, Nikel, wenn man mich braucht, weiß man mich zu finden, aufdrängen werde ich mich nicht. Überdem bin ich vielleicht an andern Orten nötiger!«

Nikel ließ einen Augenblick, wie im Zweifel mit sich selbst, den Kopf sinken. Plötzlich nickte er, stand auf. »Ihr mögt recht haben, Herr Schulmeister! Nichts für ungut, und wenn's Euch paßt, will ich weiter berichten!«

Als er die Tür hinter sich geschlossen, murmelte er: »Nein, ich glaub's nicht, und wenn die ganze Welt gegen ihn aufsteht. Und ich kann's ihm nicht sagen, und wenn's Unrecht ist – ich kann nicht!«

Reinhardt sah dem Alten lange mit starrem Auge nach. »Also doch!« seufzte er aus tiefer Brust. »Welches dunkle Geheimnis entfremdet mir die kaum gewonnenen Herzen?

Warum bin ich geächtet, ausgestoßen? – und jetzt, wo jeder Blutstropfen drängt, helfend einzuschreiten? – Soll ich mich aufdrängen? Kann ich nicht verlangen, daß mir Freunde Aufrichtigkeit beweisen? Ist es nicht ihre Pflicht, mich zu warnen, wenn Verleumdung meine Ehre antastet? O – daß mich der Beckenjörg und der Bergbauer heute vergessen können! Doch sei's drum! Ich werde nicht um das bitten, was ich fordern könnte!«

Er eilte in das Herrnbauernhaus. Der Bauer saß mit tiefgesenktem Kopf blasend und schnaubend am Tisch. Bei Reinhardts Anblick färbte sich sein Gesicht dunkelrot, seine Fäuste ballten sich. Schwerfällig richtete er sich auf, als koste es ihm Mühe, das Gleichgewicht zu behaupten, breitspurig schritt er aus dem Zimmer; draußen hob er drohend die Fäuste gegen das Zimmer und knirschte: »O – und wenn alles fehlschlägt, du Halunke wirst mich bald zum letztenmal aus meiner Stube verdrängt haben.«

Die Bäuerin und Margaret traf Reinhardt in der oberen Stube. Bleich, tränenlos und still hielten sie sich umschlungen. Reinhardt wußte wenig zu sagen, vorläufig galt es geduldig das Unvermeidliche tragen. So sehr er die Fassung und Ruhe der Frauen bewunderte, konnte er doch eine schmerzliche Empfindung nicht unterdrücken. Aus ihrem ganzen Wesen wehte ihm Eiseskälte entgegen. Mit bitterem Schmerz fragte sich Reinhardt, ob diese plötzliche Kälte mit der scheuen Zurückhaltung seiner übrigen Freunde in Verbindung stehe? – Wie es aber auch in seinem Herzen zuckte, er blieb fest, selbst da, als die Bäuerin plötzlich mit hervorbrechendem Weinen ihn bat, doch lieber jetzt das Haus zu verlassen und einige Zeit zu meiden. Er kenne ja den Zorn des Bauern; bei seiner jetzigen Wildheit müsse man das Schlimmste befürchten, und helfen könne er ja doch nicht.

Schweigend griff Reinhardt nach Hut und Stock, leise verließ er Stube und Haus, langsam, den Kopf tief gesenkt, schritt er durch den blätterlosen Heckengang, Sülzdorf zu. »Ausgestoßen!« klang es in seiner Seele. »Wie bald werde ich völlig heimatlos durch die Welt irren!« Tiefe Schwermut drückte seinen Geist nieder. In einer Art traumhafter Versunkenheit sah er auch Anna sich weinend von ihm abwenden, sah sie in weiter Ferne verschwinden. –

In den Armen seiner Anna kam er zu sich selber. Der Schmerz war hier größer als in Bergheim, und sein Trost kam um so mehr zur rechten Zeit, als die Abwesenheit des Schulbauern, der in das Unterland nach Samengetreide gefahren war, die Frauen völlig rat- und hilflos machte. Tiefatmend genoß Reinhardt das Glück seiner Liebe. Noch war er hier daheim, diese Herzen gehörten ihm noch ungeteilt, aber wie lange noch? Gewiß, Anna war treu, schwere Proben würden ihre Liebe nicht erschüttert haben, aber ob sie auch dem Wetter, das gegen ihn heraufzog, widerstehen würde, wer konnte es sagen? Mit dem Versprechen, oft wiederzukehren, noch heute an den Schulbauer zu schreiben, nahm er bald Abschied; im dämmernden Abend kehrte er heim.

Die Freunde hatten seiner nicht begehrt, selbst der Lichtennikele war nicht zurückgekehrt, um, wie er versprochen, mindestens Bericht zu erstatten. Er war vergessen, vielleicht schlimmer als das: als unwürdig verworfen, ausgeschlossen! Fritz hatte Mühe, die aufquellende Bitterkeit gegen sein unseliges Geschick niederzukämpfen. Der Entscheidungskampf war da! Finster ins Licht starrend, hatte Reinhardt nur mit halbem Ohr gehört, was ihm die Haushälterin berichtete, daß die Nachbarn in hellen Haufen dem Pfarrer ins Haus gerückt und sich arg mit ihm gezankt, wie aber der Pfarrer fest geblieben und vom Nachgeben nichts habe wissen wollen, ferner, wie am selben Nachmittag der Bergbauer mit dem Veitenbauer und Beckenjörg in die Hauptstadt gefahren, um durch den Justizrat Stein den Hannes, Schulzen, Herrnbauer und Ungerskasper zu verklagen. Er wurde erst aufmerksam, als sie vom Hannes zu berichten begann. »Ja, der Hannes,« erzählte die Alte, »ist freilich gar bald wieder in seine Wildheit verfallen, und die Nachbarn, die schon gemeint, sie könnten ihn zwischen den Fingern zerkrümeln, haben sich garstig verrechnet. Er hat die allzu Vorwitzigen ablaufen lassen, daß sie wohl zum zweitenmal nicht an ihn kommen. Aber der Alte ist er doch nimmer, wie hart er sich auch stellt, er ist zerbrochen – ja, ja, und sein schlechtes Gewissen guckt ihm ja aus den Augen heraus! Hu! – möchte nicht um alles Geld in der Welt in seiner Haut stecken; alle Leute sind einstimmig, er habe den Einzelberger Schäfer und mehr als einen falschen Eid auf dem Gewissen – daß sich Gott erbarm'! Ja, und der Teufel ist ja auch in allen Ecken bei ihm los. Der Beckenkarl hat die Freierei zerrissen! – Wie das der Hannes seiner Line erzählt, ist das Mädle morsch zusammengebrochen, und jetzt liegt sie zu Bett, red't nicht und deutet nicht! Niemand leidet sie um sich als ihre alte Base, ihren Pater kann sie nicht ersehen, wenn er nur die Kammer betritt, schreit sie und gebärdet sich wie toll und wird erst wieder ruhig, wenn er geht. Alle Leute sagen, das wär' nicht bloß wegen dem Beckenkarl, dahinter stecke mehr; der Line Art sei nie gewesen, sich um etwas zu kümmern, da müsse es schon dick gekommen sein, bis es das Mädle so niedergeworfen! Auch mit dem Wagnerspaule hat sich der Hannes gezankt, die Leute sind auf der Gasse stehengeblieben, so haben sie gebrüllt. Zuletzt müssen sie sich doch geeinigt haben, denn sie gingen zusammen zum Schulzen, der auch schon ganz zusammengefallen ist und herumgeht, wie das bittere Leiden! Ach, Herr Schulmeister, was werden wir erleben?«

»Und nun gar das Unheil im Dorf! – Viele sind schon zum Altenhäuser Fuchsmüller gelaufen, dort Belehrung zu suchen: die alte Drechslerkäther dagegen behauptet, der Teufel sei ihr leibhaftig erschienen und habe gesagt, der dritte Teil aller Bergheimer gehöre ihm, und nächstens würde er sie holen. Das hat sich die tolle Schmiedsev in den Kopf gesetzt; sie will sich nun absolut die Kleider vom Leibe reißen, weil sie in Sack und Asche Buße tun müsse, daneben hüpft und springt sie wie besessen herum, schreit sinnloses Zeug in die Welt und behauptet, das wären geistliche, liebliche Lieder und Psalmen! Mit Gewalt mußte sie eingefangen werden, drei Männer vermögen sie kaum zu halten, dabei hält sie Predigten und weissagt, der Jüngste Tag breche herein, daß den Leuten die Haare zu Berge steigen. – Ach, es ist eine Angst und Verzweiflung im Dorf, es ist nicht auszusagen – wenn das nicht bald anders wird, gibt es noch viel Unglück! – Ich selber weiß nimmer, wo mir der Kopf steht; das Singen und Beten in allen Häusern, das Fluchen und Lästern dazwischen, das Predigen und Weissagen auf den Gassen, die Zeichen und Wunder, die wie Pilze aus der Erde schießen – dabei die Geschichte mit dem Hannes und dem Herrnbauer, der Prozeß, von dem niemand weiß, was er noch Schlimmes bringen kam – es ist, als ob es einen mit Gewalt dazu treibe, unter die Leute zu laufen und einzustimmen in das Heulen und Beten. Ach, Herr Schulmeister! – und Sie sitzen auch so stumm und starr! Wissen Sie keinen Trost? Haben Sie nichts, daß man sich daran aufrichten kann?«

»Schickt Euch in die Zeit, denn es ist böse Zeit! – Weiter kann ich nichts sagen, Frau Kräußlich. – Gute Nacht!«

Noch lange saß Reinhardt unbeweglich und starrte hinein in das flackernde, zuckende Licht. Eintönig klang es in seinem Herzen: »Denn es ist böse Zeit!«


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