Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Auf Straßburgs Trümmern

Es war ein wunderschöner Herbstmorgen, als man sich zur Weiterfahrt nach Straßburg anschickte. Sommerfäden waren über das Feld gezogen und schimmerten feucht von Tau. Man vereinigte sich mit den übrigen Reisegenossen in Wendenheim. Herzlich war die Begrüßung, mit welcher Eduard empfangen wurde. Mit besonderer Zärtlichkeit und Rührung mußte er immer wieder Glöcklins Gesicht betrachten; denn es war ein Zug der Ähnlichkeit mit Bärbel in demselben, welchen er früher nicht bemerkt hatte. Als Fritz Scharf die beiden Grandidiers sah, wie sie nun einträchtiglich dahergingen, Eduard am Arme des Vaters, da rief er: 413 »Bravo! Bravo! Das ist ein Anblick, der mein Herz erfreut. Es ist eine weite Reise gewesen, alter Freund,« fügte er hinzu, indem er Herrn Grandidier gutmütig auf die Schulter klopfte. Er wollte mehr sagen, doch Eduard fiel ihm rasch ins Wort. »Jawohl,« sagte er, »weit genug war die Reise, doch wir sind uns auf halbem Wege begegnet.«

Der Bauer aus Wendenheim, welcher den Wagen gestellt hatte, kutschierte selbst, und Grandidier, Eduard, Glöcklin und Fritz Scharf saßen zusammen. Außerdem hatten sie noch drei junge Straßburger aufgenommen, welche bei der Nachricht von der Übergabe der Stadt aus einer Schweizer Stadt gekommen waren, in welcher sie konditionierten. Sehnsucht nach den Ihrigen, von denen sie seit der Belagerung kaum noch etwas gehört hatten, trieb sie herbei. Die jungen Leute sahen still vor sich nieder; sie kannten Glöcklin nicht, er aber kannte sie.

Die Landstraße war außerordentlich belebt. Seit die Kunde sich verbreitet, daß die Tore geöffnet und der Verkehr wieder freigegeben worden sei, drängte sich's von allen Seiten hinein und heraus. Hunderte von Wagen bewegten sich dorthin, und Hunderte kamen von dorther; viele von ihnen mit deutschem Militär besetzt, andere mit französischen Offizieren, welche auf Ehrenwort entlassen worden waren. Die Garnison war gestern schon nach einer anderen Richtung hin in die Kriegsgefangenschaft nach Deutschland abgeführt worden. Scharen von Mobilgardisten zogen vorüber, manche derselben kaum dem Knabenalter entwachsen. Eltern und Geschwister waren ihnen entgegengegangen, um sie in die Heimat zurückzuführen. Zerstampft zu beiden Seiten der Straße waren die Felder, die Wiesen zu Staub zerfahren, das Grün zerschnitten von den Rädern; die Hufe der Pferde hatten den Segen des Herbstes zermalmt. »Das ist mein Acker,« sagte der Bauer, indem er mit der Peitsche nach einem breiten Stück Landes wies, auf welchem Munitionswagen standen, »der Hanf und der Klee blühten dort zur Zeit des Plebiszits . . .« Zur Linken blauten im Mittagsduft die Höhen des Schwarzwalds, und zur Rechten war der Wald von Mundolsheim. Die Augen Fritz Scharfs feuchteten sich. Er gedachte des Tages, an welchem er zum letzten Male dort oben gestanden und sehnsuchtsvoll hinübergeschaut hatte nach dem Lande, in welchem er sich jetzt befand.

414 Je mehr man sich Straßburg näherte, desto mehr versank Glöcklin in seine Gedanken. Er hatte dies alles so gut gekannt, und es stand in seiner Erinnerung, wie er es vor einigen Jahren gesehen hatte, als er Abschied nahm. Diese Gärten waren voll von Rosen, diese Gelände voll von Wein und Obst gewesen. Hier hatten Landhäuser gestanden. Hier hatte sich damals eine prachtvolle Allee gewölbt von Platanen und Akazien und Linden, die, wenn sie blühten, einen balsamischen Duft verbreiteten und im Sommer den herrlichsten Schatten gaben. Wohin, wohin war das alles gekommen! Die Gärten waren wüst, die Landhäuser zertrümmert, die Bäume lagen gefällt, quer über den Weg gestreckt wie gewaltige Leichen. Er barg sein Gesicht in den Händen, als ob er nicht mehr gesehen sein oder selber nicht mehr sehen wolle. Die jungen Straßburger wurden aufmerksam. Sie blickten einander an, und einer von ihnen fragte bescheiden, ob er wohl auch Freunde oder Verwandte in der Stadt habe? Doch Scharf gab ihnen einen Wink, sie möchten nicht weiter forschen.

Der Wagen arbeitete sich mühsam durch trockene Gräben und über Lehmhaufen fort. Hier war die erste Parallele, und nur noch vereinzelt waren deutsche Wachtposten aufgestellt, die den Weg wiesen. Dieser führte jetzt über Grabhügel, welche zum Teil eingesunken, zum Teil aufgewühlt waren, an umgestürzten Leichensteinen und entwurzelten Trauerweiden vorüber. Es war der St. Helenen-Kirchhof, und hier schnitt die zweite Parallele durch. »Dies ist die Stelle,« flüsterte Eduard seinem Vater zu, »hier war der nächtliche Ausfall, hier bin ich Alfons Grandidier begegnet!« – »Und hier,« versetzte jener, indem er des Sohnes Rechte an sein Herz preßte, »bist du mir zum zweiten Male gegeben worden. Du mein und Straßburg unser – o Gott, hab' ich es denn wirklich noch erleben sollen? . . .

Hier gewahrte man auch die ersten Straßburger; arme Leute waren es, herausgekommen, um nach ihren Feldern zu sehen und den dürftigen Rest von Erdfrüchten einzusammeln, der ihnen geblieben sein mochte. Sie sahen bleich aus, wie betäubt, und taten ihre Arbeit wie Menschen, die stets zur Flucht bereit sein müssen vor irgendeiner großen Gefahr. Auf den Abhängen eines Hügels jenseits des Wassers, dicht unter den Mauern, saßen Gruppen von Frauen und 415 Kindern. Ihre Gesichter waren die von Kranken, und die Frauen trugen Trauer. Die milde Sonne wärmte sie, der blaue Himmel war über ihnen, und die weite Landschaft lag vor ihnen; aber das Erdreich, auf dem sie saßen, ehemals mit Rasen bewachsen, war von Kugeln zerrissen.

Die Zugbrücke war niedergelassen, und der Wagen fuhr durch das Tor. – »Kronenburger Tor,« sagte der Bauer; aber »Porte de Saverne« stand noch auf dem zerschossenen Gemäuer. Und jetzt war man in Straßburg. Der Wagen hielt. Man mußte Glöcklin wecken; er war wie ein Schlafender. Von Grandidier gestützt, stieg er aus, und an Grandidiers Arm begann er die schmerzvolle Wanderung. Sie sahen die Stadt, wie sie gestern dem Feinde sich ergeben hatte, wie das Bombardement, der Brand, der Schrecken und der hundertfältige Tod sie gemacht. Ein Atem der Verwesung wehte in den Straßen. Wie nach einer großen Feuersbrunst stieg bald da, bald dort Rauch und Asche auf, und Ruinen von Häusern ragten zu beiden Seiten.

Fritz Scharf und Eduard waren den beiden Alten gefolgt. Die Spuren der Zerstörung verringerten sich, indem man sich aus der Vorstadt entfernte, welche gänzlich in einen Steinhaufen verwandelt worden war. Im Innern der Stadt kam man durch Straßen, welche bis auf wenige Gebäude verschont geblieben. Doch waren auch hier die Häuser noch geschlossen; nur einzelne Gestalten stiegen aus den Kellern herauf und schlichen an den Wänden entlang.

Man bog jetzt aus einer der Hauptstraßen in ein engeres Seitengäßchen ab, und hier wurde plötzlich der Brandgeruch wieder stärker. Jeder Hauch des Windes trug halbverkohlte Reste von Papier umher, und mit jedem Schritte trat man auf Schutt, auf Geröll, auf verbrannte Fetzen, auf zerbrochenes Gerät, auf zerschlagene Waffen.

Glöcklin schauderte zurück.

»Ich weiß, welcher Anblick dich erwartet,« sagte Grandidier. »Aber Mut, Freund, Mut! Es ist die letzte Station.«

Vor ihnen lag ein herzzerreißender Anblick: die Neue Kirche, das protestantische Gymnasium, die Bibliothek. Die brandigen Mauerreste ragten in die blaue Herbstluft empor – einige Säulen standen noch, einige Bogen hielten noch, ein einziges großes Fenster leuchtete noch – aber traurig schien die Sonne hindurch, und alles drohte den Einsturz.

416 In der furchtbaren Nacht, in welcher diese ehrwürdigen Gebäude zugrunde gingen, waren auch ein paar Häuser der Nachbarschaft ein Raub der Flammen geworden. Eines derselben hielt sich noch aufrecht. Es war ein altes Haus mit vorspringendem Balkenwerk, jetzt vom Feuer noch mehr als vom Alter geschwärzt. Das Dach und der obere Stock waren herabgestürzt; es stand unsicher auf seinen Füßen, und man konnte, wenn man es ansah, den Tag vorausberechnen, an dem es überhaupt nicht mehr stehen würde. Doch schien es in seinen Kellerräumen noch bewohnt, und auf der obersten Stufe der Treppe, welche hinaufführte, saß ein Knabe. Müde hing ihm das Haupt herab, doch ein Sonnenstrahl hatte sich mitleidig zu ihm verirrt.

Glöcklin sah beides mit einem Blick: das zerstörte Gebäude und das kranke Kind. »Mein Haus und mein Enkel!« rief er jammernd. – »O George – George . . .«

Es konnte zweifelhaft sein, wen von beiden er mit diesem Ausruf gemeint habe – den Freund an seiner Seite oder den bleichen Knaben, der jetzt, als er seinen Namen hörte, die Augen aufschlug. Aber es waren nicht die hellen Kinderaugen mehr, es war etwas unsäglich Trauriges, oder vielleicht mehr noch Trauererweckendes, Stumpfes, fast Greisenhaftes darin. Sein Blick irrte zu den Männern hin, die vor ihm standen. Er duldete den Kuß, welchen Glöcklin auf seine kalte Stirne drückte. Nur einmal glitt ein schwaches Lächeln über sein Antlitz, als Herr Grandidier ihm die Hand auf das Haupt legte; und in einem kaum verständlichen Gemurmel kam es über seine Lippen wie »Bärbel«. Als Eduard ihm nahte, wandte er sich ab vor der preußischen Uniform.

Die Männer stiegen in den Keller hinab. Er war nur noch von zweien eingenommen: von einer Frau, die zu Füßen einer Leiche kauerte. Die Leiche war die von Alfons Grandidier, und die Frau war Helene.

Trübselig flimmerte noch das Lämpchen an der Decke, kaum so viel Licht verbreitend, um diese jammervolle Szene zu beleuchten. Helene gab kein Zeichen, weder der Überraschung noch des Schmerzes, als die Männer eintraten. Sie saß stumm und unbeweglich am Boden, die Hände über den heraufgezogenen Knien zusammengefügt, die Augen unablässig auf das Gesicht des Toten geheftet. Es war an der linken Schläfe und über der Stirn mit einem weißen Tuche 417 zusammengebunden, sonst wenig verändert und fast noch so wie Eduard Grandidier es zuerst am Rande der Wüste gesehen hatte – sein tiefes Braun, das Erbteil der südlichen Sonne, leicht angehaucht von der Farbe des Todes.

Ein unsagbares Weh überkam Eduard, als er sich der Leiche nahte. »Alfons,« rief er, »Alfons! Und so hörst du mich nicht mehr! Und so kann ich für das, was du mir im Leben gewesen, nur einem Toten die Hand drücken! . . .«

Alfons konnte noch nicht lange seinen letzten Atem ausgehaucht haben. Aber es war vergeblich, Helene zu befragen.

Draußen hörte man das dumpfe Rollen eines Karrens, und schwere Schritte nahten der Treppe. Fritz Scharf blickte hinaus und sagte dann zu Herrn Grandidier: »Wir sind rechtzeitig gekommen zum Leichenbegängnis von Alfons Grandidier.«

Drei Männer, in einer Art von Uniform, erschienen im Halbdunkel. Sie mochten zu einem jener mildtätigen Vereine gehören, die sich zurzeit der Bedrängnis in dieser Stadt gebildet hatten, oder von einem derselben gesandt worden sein. Sie trugen einen Sarg herein; ein jämmerliches Ding, selbst für einen Sarg: kaum, daß die rohen, hastig zusammengefügten Bretter übereinander festhielten.

Eduard trat zu einem der drei, während sie den Sarg niedersetzten. »Es ist, wie es ist, mein Herr,« sagte dieser, gleichsam entschuldigend; »wir haben mehr als einen, mehr als hundert, Mann und Weib, Greis und Kind, so hinausgebracht nach dem Botanischen Garten. Und wenn wir sie hinausbrachten, mußten wir noch achtgeben, daß uns nicht unterwegs eine Granate oder Bombe erwische. Dann hätten wir alle zusammen liegenbleiben können, die Toten und die Totengräber.«

Es war eine Art von grimmem Humor in diesen Worten. Aber Eduard gab dem Manne nicht Zeit, in dieser Weise fortzufahren. »Wie war es möglich, daß dieser brave Soldat fiel, als alles oder doch wenigstens das Schlimmste schon vorüber?«

»Das Schlimmste, mein Herr,« erwiderte der Mann, indem er sich offenbar Mühe gab, dem preußischen Offizier gegenüber in einem angemessenen Tone zu reden, »ach, sie haben uns nichts Schlimmes erspart bis zu dem allerletzten Augenblick. Freilich war schon alles vorüber; aber das hinderte 418 nicht, daß vorgestern nacht in ein Haus der Nationalvorstadt eine Bombe einschlug, ein kleines, krankes Mädchen in seinem Bette tötete, und einen alten Mann von siebzig Jahren, der an dem Bette wachte, so schwer verwundete, daß er nach einigen Stunden im Lazarett verstarb. Und das kleine kranke Mädchen, mein Herr, war mein Kind, und der alte Mann von siebzig Jahren, mein Herr, war mein Vater . . . Aber, angefaßt, Kameraden, angefaßt.« Und hiermit wandte er sich gegen seine beiden Begleiter, die neben dem niedergesetzten Sarge standen.

»Sie sind mir noch die Antwort auf meine Frage schuldig,« drängte Eduard. Denn er sah, daß die Männer Eile hatten.

Die Tränen standen dem Unglücklichen in den Augen. »Ich habe gemeint,« sagte er, »daß man sich an alles gewöhnen würde. Sechsundvierzig Nächte und sechsundvierzig Tage lang nichts als Tote, nichts als Tote . . . Sehen Sie, mein Herr,« und er wies nach Helene hinüber und sprach dies mit einer leiseren Stimme, »der da hat sich der Verstand verwirrt, und ihr ist am wohlsten dabei . . . Haben Sie den Knaben gesehen, der draußen so jammervoll auf der Treppe sitzt? Der Tote, der dort hingestreckt liegt, war sein Vater, und an jedem Morgen, wenn er von den Wällen zurückkam, ging er aus, um Milch für sein krankes Kind zu holen. Und nun sehen Sie, das Kind lebt, und der Mann ist tot.« Dabei fuhr er sich, wie wenn er etwas vergessen wolle, mit der Hand über die Stirne. »Er, der vor dem Feinde nicht gebebt hatte, holte sich den Tod für sein Kind. Es war ebenfalls vorgestern früh, und es war im Morgengrauen, der Kanonendonner wurde schwächer – nur noch vereinzelt flogen die Granaten; aber eine derselben flog dicht vor ihm in der Straße nieder und zerplatzte, und ein Splitter zerriß ihm die linke Schläfe . . . Da hatte er genug. Sie trugen ihn, zusammen mit dem Milchfläschchen, das er noch unter seiner Jacke barg, hier hinunter. Er lebte noch ein paar Stunden, aber ohne Bewußtsein, und nachmittags um fünf Uhr, als es hieß, Straßburg habe kapituliert, da gab er den Geist auf. Ja, ja, mein Herr, das Schlimmste war vorüber; aber da haben sie jenem Kinde noch den Vater und mir haben sie mein Kind geraubt . . . Angefaßt, Kameraden, angefaßt.« Er preßte, um seiner selbst Herr zu bleiben, beide Hände zusammen und knirschte mit den Zähnen.

419 Die beiden anderen hatten sich inzwischen der Leiche genähert, um sie emporzuheben.

Jetzt aber sprang Helene vom Boden auf, und ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit. Ihre bleichen Wangen röteten sich, und ihre blonden Haare hingen aufgelöst über den Nacken herunter. Mit einer Leidenschaft ohnegleichen warf sie sich über den Toten, umschlang ihn und drückte Kuß nach Kuß auf seine kalten Lippen.

Nicht früher hatte der Vater, niedergeschmettert von den Eindrücken, welche hier auf ihn einstürmten, so viel Kraft und Besinnung gesammelt, um seine Tochter anzureden. Er nahte sich ihr, und indem er sie sanft berührte, sprach er: »Helene, du siehst, daß ich in dieser schweren Stunde bei dir bin.

Sie schien ihn nicht zu hören.

»Ich bin gekommen, liebe Tochter, um dich wieder zu mir zu nehmen,« fuhr er fort.

Sie richtete sich auf, und es schauderte den Vater vor ihrem wild unheimlichen Aussehen. »Rühre mich nicht an,« rief sie. Sie kannte ihn wohl, aber sie wich vor ihm zurück. Er streckte die Hand noch einmal nach ihr aus. Aber sie sagte in einem flehenden Tone: »Laß mich, o laß mich! Ich wußt' es wohl, daß du mit den Preußen kommen und mich holen würdest – aber ich beschwöre dich, laß mich! Versuche nicht ein zweites Mal, mich von ihm zu trennen! . . .«

»Er ist tot, meine Tochter,« sagte Glöcklin.

»Tot?« sagte Helene, das Haupt schüttelnd, und mit einem Lächeln, welches dem Vater durch das Herz schnitt. »Tot, sagst du? O nein! Er ist nicht tot – er ist so wenig tot, als Frankreich tot ist. Aber ihr seid gekommen, um ihn mir zu entreißen.«

Die drei Männer, vielleicht aus Ehrfurcht vor dem Schmerze der Wahnsinnigen oder aus Mitleid mit ihr, zögerten noch immer, bis der eine von ihnen sagte, daß sie keine Zeit mehr zu verlieren hätten. Order sei bereits am Morgen gegeben worden, dieses Haus und mehrere andere Häuser in der Nachbarschaft und an vielen anderen Stellen der Stadt ihrer Gefährlichkeit wegen zu verlassen. Es sei besser zu gehen, ehe man vertrieben werde. Kaum jedoch, daß sie Miene machten, Helene zu entfernen, als auch der Irrsinn ihrem gebrechlichen Körper noch einmal unerhörte 420 Kräfte lieh. Sie setzte sich zur Wehr; die Männer gaben Herrn Glöcklin einen Wink, zurückzutreten. Der Mut versagte ihnen fast; doch sie mußten ihr Werk tun, und sie taten es. Ohnmächtig taumelte das arme Weib zurück; aber der Vater fing sie diesmal mit den Armen auf und hielt jetzt zuerst die Tochter wieder an seinem Herzen.

Fritz Scharf und Eduard Grandidier allein gaben dem toten Freunde das Geleite nach dem Botanischen Garten, nicht weit vom Fischerstaden jenseits der Ill. Dort hatte man während der Belagerung, als sämtliche Kirchhöfe der Stadt dem feindlichen Feuer ausgesetzt waren, die Toten begraben. Da lagen sie, die Opfer dieses fürchterlichen Kampfes, die meisten von ihnen nicht einmal Kämpfer, sondern Greise, Weiber und Kinder, die roh gezimmerten Särge, einer über den andern geschichtet, mit nicht mehr als einer Handvoll Erde bedeckt und mit einem hölzernen Kreuzlein besteckt, auf welchem mit schwarzer Farbe der Name des Toten und das Datum des Todestages geschrieben war. Viele Hunderte ruhten hier unter den Gebüschen an der Mauer; und die Nachmittagssonne schien traurig durch das herbstlich gilbende Laub, als man auch Alfons Grandidier hierhertrug. –

Glöcklin war derweil bei seiner Tochter geblieben, und Herr Grandidier hatte sich in einem nicht weit entfernten Gasthaus nach Quartier umgesehen. Dieses Haus hatte sich, so gut es gehen wollte, den Fremden geöffnet, obwohl auch es von der Belagerung hart mitgenommen war. Eine dumpfe Luft war in den Gängen. Glassplitter und abgebröckelter Kalk lagen hoch in den Korridoren. In einigen Zimmern waren die Wände zerstört, in anderen die Decken, in fast allen die Fenster. Nicht ohne Schwierigkeit gelang es, zwei Gemächer nebeneinander zu finden, in denen man einigermaßen geschützt war. Man richtete ein Lager her, und Helene, die sich jetzt führen ließ wie ein Kind, sank erschöpft darauf zusammen. Der Knabe wurde neben ihr gebettet. Als beide schliefen, machten die zwei Alten sich auf den Weg nach der Begräbnisstätte, wo der Sarg Alfons Grandidiers schon in der Reihe der andern stand. Fritz Scharf sprach einige Worte an seinem Grabe. »Schlafe wohl, Alfons Grandidier,« sagte er, »schlafe wohl! Du bist es wert, daß wir dein Gedächtnis in Ehren halten. Deine Schuld war die Schuld Frankreichs, 421 und du hast sie gezahlt. Aber du, Frankreich – unglückliches Land, durch wieviel Blut wirst du noch wandern müssen, bis du am Ziele bist! . . .«

Der Nachmittag rückte vor. Immer neue Bataillone marschierten in die eroberte Stadt ein. Landwehrsoldaten bezogen die Posten. Als die Leidtragenden von ihrem traurigen Gange zurückkehrten, waren verschiedene Gegenden der Stadt, ganze Straßen, das heißt, wo früher einmal Straßen gewesen, und einzelne Häusergruppen militärisch abgesperrt; so das Trümmerfeld der Steinstraße, so auch dieser Platz am Neuen Tempel. Hier stand ein preußischer Landwehrmann. Eine Menge von Menschen hatte sich um ihn gesammelt. Er hatte sein Gewehr quer vor einem engen Gang ausgestreckt, welcher, mit geschwärztem Mauerwerk bedeckt, zu einer der gefährdeten Hausruinen führte. Vor ihm stand händeringend ein Weib, vergeblich um Einlaß flehend, und ein Knabe hielt sich an ihrem Kleide fest.

Glöcklin erkannte sogleich sein unglückliches Kind.

»Wir dürfen sie keinen Augenblick mehr allein lassen,« sagte Fritz Scharf.

Der Posten, als er Eduard teilnehmend herantreten sah, machte vor seinem Offizier die militärischen Honneurs und suchte sich zu entschuldigen, daß er so hart gegen die Frau verfahren, welche noch immer nicht zum Gehen zu bewegen war. Jetzt ergriff Fritz Scharf ihre Hand, und wie ein blasser Strahl irrte es über ihre verstörten Züge.

»Sie hier?« rief sie mit einem schwachen Erinnern. »Oh, Sie waren immer ein guter und gerechter Mann, Sie haben niemals böse von ihm, niemals böse von Frankreich geredet. Helfen Sie mir jetzt! Man will mir ihn zum zweiten Male rauben. Man sagt mir, er sei tot. Aber dort liegt er – dort in dem Hause. Lassen Sie mich zu ihm!« Und schmerzlich bittend, fügte sie beide Hände ineinander und sah ihn mit feuchten Augen an.

»Helene,« sagte Fritz Scharf und beugte sich dann flüsternd an ihr Ohr, als ob er ihr etwas sagen wolle, was niemand außer ihr hören dürfe: »Sie haben recht, Helene! Doch Sie sehen, wir müssen der Gewalt weichen. Was vermögen wir zwei gegen diese Masse? Warten Sie, wir werden eine bessere Gelegenheit finden, wenn der Haufen sich zerstreut hat.«

Freudevoll leuchtete das Gesicht der Irrsinnigen auf, und 422 vertrauensvoll folgte sie dem Manne, der die verzeihliche List gebraucht hatte, ihrem Wahn zu schmeicheln. Sie ging mit ihm in das Wirtshaus zurück, und geduldig saß sie da, ihre Zeit erwartend.

Und der Abend kam. Durch eine Lücke in den gegenüberliegenden Häusern sah man das Münster; groß und hehr über alle Dächer ragte es empor, und jetzt, von seiner halben Höhe bis zu der letzten Spitze des Turmes, war es ganz in Abendsonne getaucht. Träumend und nachdenklich stand Eduard an dem Fenster, den Wunderbau betrachtend, wie er jetzt in aller Herrlichkeit glühte und an einer seiner Zacken, hoch in der stillen Abendluft, die weiße Fahne trug – die Fahne des Friedens. Das Herz ging Eduard über von Trauer bei diesem Anblick. Er dachte nicht mehr an Bärbel, er dachte nur an Helene, welche nicht weit von ihm zusammengebrochen saß, und an Alfons, welchen sie begraben hatten. »Und dieses das Ende von so viel Liebe, von so viel Treue! Wo, wo gibt es eine Gerechtigkeit für die Leidenden? Was bedeutet den Toten dieses Friedenszeichen dort oben? Kann es sie erwecken? Ach, wohl hat der Lebende recht! Doch was war die Schuld der Toten, und was ist das Verdienst der Lebenden? Wenn Alfons schuldig war, wer könnte dann noch sagen, ich bin rein? Hingebung an einen Freund und die edelste Selbstlosigkeit hatten ihn fortgerissen zu einer Tat, vor welcher Egoismus und Berechnung ihn behütet haben würden. Sind Egoismus und Berechnung besser als Hingebung und Selbstlosigkeit? Und wenn – wenn eine dunkle Macht es so angeordnet, konnten die Jahre der Buße, der bitteren Entbehrung den Schuldigen nicht retten? Opfer versöhnten die Götter des Heidentums, und wir, wir . . .«

Er wollte nicht weiter denken. Immer höher an der Kathedrale und dem Turm empor stieg der Abendschein, als wolle er nun nach oben entschwinden, von wannen er gekommen – immer grauer färbte sich die Masse von Stein, immer dämmeriger ward es ringsum, und nur die weiße Fahne, hoch und einsam, wie wenn sie aus dem Himmel selber herabwehe, glühte noch von dem Abschiedsblick der Sonne.

Und nun begannen auch die Glocken des Doms ihr Nachtgeläute – es waren noch die alten Glocken, sie hatten während der unheilvollen Zeit geschwiegen, und sie läuteten heute 423 zum erstenmal wieder tief und voll, und Helene erkannte sie, es waren die Glocken ihrer Jugend. »Wir kommen,« rief Helene, aus ihren Träumen erwachend, »wir kommen!«

Es waren die Glocken, welche die Kinder einst heimriefen, wenn sie vielleicht draußen bei ihren Spielen sich verspätet. Und während Eduard mit einer Art von Ehrerbietung zurückwich, trat Helene an das Fenster und sah hinüber nach der Stelle, wo das alte Giebelhaus einst gestanden und wo jetzt nur noch schwankende, halb ausgebrannte Ruinen standen. Sie breitete die Arme aus, als ob sie den schwindenden Tag umfangen wolle, und sein letztes Licht fiel auf ihr Antlitz. Es war ganz ruhig geworden. Nichts von Gestörtheit war mehr darin zu bemerken, nur von einem tiefen, wehmütigen Verlangen wie Heimweh schien es zu leuchten, als ihre Lippen sich wieder bewegten und leiser als zuvor murmelten: »Wir kommen, wir kommen! . . .« Ganz in Dunkel versanken die Trümmer gegenüber; aber ihr Blick suchte sie noch in der Nacht, bei dem Schimmer des Abendsterns, der jetzt groß und flimmernd darüber aufging.

So nahe stand Eduard ihr, und so gerne hätte er ihre Hand ergriffen; doch er scheute sich, sie, selbst durch ein Zeichen des Mitgefühls, zu der harten Wirklichkeit zurückzuführen.

Da schallten unten von der Straße herauf Pfeifen und Trommeln – es war Feldmusik und ein Bataillon Gardelandwehr, von seinem eigenen Regiment, welches in Straßburg einzog. Mit einem gellen Aufschrei, als sie die kriegerischen Klänge vernahm, stürzte Helene zu Boden, bevor Eduard noch Zeit fand, sie zu unterstützen. Doch sah er wohl, daß sie nicht mehr zu heilen sei; daß sie Heimweh hatte nach etwas, was verschwunden war von der Erde.

Licht wurde gebracht, und man trug die Leidende in einem Zustand der Besinnungslosigkeit auf ihr Lager in dem anstoßenden Gemach. Der kleine George blieb bei den Männern, für welche man Matratzen auf dem Boden ausgebreitet hatte. Die verbindende Türe zwischen den beiden Zimmern ward nur leicht angelehnt, und Glöcklin nahm vor derselben Platz, um über seine Tochter zu wachen . . . Sie atmete ruhig, sie schlief. Ruhig ward es auch in dem Hause, der Straße, der Stadt – ruhig allmählich in der Stube. Die Natur forderte ihr Recht. Nur Glöcklin wachte noch, und trübe brannte die Lampe. Die Stunden der Nacht 424 wandelten ihren gemessenen Gang, und mit mächtigem Dröhnen verkündete sie die Turmuhr vom Münster. Eins, zwei, drei, vier – dann zwölf Schläge – Mitternacht. O wie langsam, wie langsam, und wie ferne noch der Morgen! . . . Glöcklin erhob sich unhörbar von seinem Lager und blickte durch die Tür. Da lag seine Tochter, unverändert, wie man sie dorthin getragen – sie hätte eine Leiche sein können! Eine Leiche! Der Gedanke durchschauerte ihn. Es ergriff ihn ein Weh, herber als alles, was er in diesen Tagen empfunden, wie er sie so vor sich liegen sah in dem unsicheren Lampenlicht – es war ihm, als ob er sie festhalten solle, als ob unter ihnen ein dunkler, reißender Strom sei, der sie hinwegtragen werde . . . »Helene!« rief er, seiner selbst fast unbewußt, aus beklommener Seele; und sich ihr nahend, beugte er sich über die Schlafende. War es ein Traum, oder hatte sein Ruf sie für einen Augenblick geweckt? »Mein Vater,« sagte sie, die Arme sanft erhebend – dann sanken sie zurück, und sie war wieder stumm.

Aber dem Vater hatte es unaussprechlich wohlgetan, dieses Wort von ihr gehört zu haben. »Vielleicht,« sagte er, indem er zu seinem Platze wieder zurückkehrte, »vielleicht!« . . . Und sein Herz gab sich der süßen Täuschung hin, wie nach den Stürmen des Lebens nun auch Ruhe kommen werde für sie – wie diese Stadt unter den Segnungen des Friedens sich neu aus ihrem Schutt erheben und seine Tochter noch einmal Freude erleben werde an ihrem Kinde . . . Dies alles hatte das eine Wort getan – »Mein Vater!« . . . Er hoffte wieder für sich, und das machte, daß er auch wieder für sie hoffte. Schmeichlerische Zukunftsgebilde nahten auf den schweren Schwingen der Nacht – ferner, immer ferner schien die Glocke zu hallen, welche den Weg derselben bezeichnete – zuletzt war es wie die schönste Musik, und dann war alles stumm, alles. Glöcklin war eingeschlafen.

Aber nicht lange – so weckte ihn ein furchtbares Getöse, das wie Donner, ganz in der Nähe, rollte – als ob das Haus über ihm zusammengebrochen wäre oder die Erde unter ihm gezittert hätte. Noch meinte er zu träumen. Kaum konnte er ja eingeschlafen sein – aber das Morgengrauen kam schon durch die Fenster. Da noch einmal der Donner, noch einmal das Beben . . . »Der dunkle Strom reißt sie fort,« rief er, und jetzt erst war er ganz wach. »Meine 425 Tochter! Meine Tochter!« schrie er und riß die Türe zu dem Zimmer derselben auf. Ihr Lager war leer, und die zweite Tür, die nach dem Korridor und der Treppe führte, stand offen.

»Grandidier!« rief nun der Verzweifelnde, zu dem anderen Gemach zurückkehrend. Doch hier hatten die Männer sich auch schon erhoben und waren bestürzt an das Fenster geeilt. Welch ein Anblick, der sich ihnen hier bot! Das Haus gegenüber, das Haus Glöcklins, war zusammengestürzt – und nichts als eine qualmende Masse von zerrissenem Gestein, aus welchem schwarze Balken und Sparren nach allen Seiten hervorragten, war davon übriggeblieben. »Meine Tochter! Meine Tochter!« rief Glöcklin wehklagend – immer und immer denselben Wehruf wiederholend, ohne daß seine Freunde die Deutung wußten.

Man begab sich hinunter. Der Posten hatte schon alarmiert, und von der nächsten Wache zog ein Trupp Landwehrmänner heran, welche die Unglücksstätte rasch umzingelten.

»Was hat sich hier ereignet?« sprach Eduard, indem er, Leichenblässe auf dem Gesicht und den Arm in der Binde, zuckend vor Schmerz, an den Posten herantrat.

»Herr Leutnant, zu Befehl,« erwiderte der Mann – und mit tiefer Bewegung erkannte Eduard ihn in dem Zwielicht –es war Karl, Karl aus des Vaters Fabrik und sein treuer Kamerad, sein Retter in jener verhängnisvollen Sturmnacht, »Herr Leutnant, es war die Tochter des Herrn Glöcklin . . .«

»Unglückseliger!« fuhr Eduard ihn an, »und du hast sie hier durchgelassen, trotz des strengen Verbotes?«

»Nein, Herr Leutnant, ich habe sie nicht durchgelassen. Hier stand ich auf meinem Posten, und es schlug gerade vier. Es war fast noch dunkel, da kommt etwas Weißes heran – es schwebt so über die Straße herüber, scheu, wie ein Nachtgespenst. Ich mache mein Gewehr fertig und lasse den Hahn knacken – da bleibt es drüben stehen, und nun erkenne ich, daß es ein weibliches Wesen ist, die Haare über dem Nacken herunterhängend und in einem Nachtgewande. »Wer da?« ruf' ich – hierauf naht es sich schüchtern wieder und sagt: »Ein armes, armes Weib, das ihren Gatten sucht!« . . . Da wird mir weich ums Herz, Herr Leutnant – ich denke an mein eigen Weib und wenn die mich suchen würde . . . Doch ich halte ihr noch mein Bajonett entgegen und sage: »Ja, 426 liebe Frau,« sag' ich, »wo soll denn der nun sein?« – Indem kommt sie ganz an mich heran und deutet auf das baufällige Haus, und jetzt erst kann ich ihr Gesicht unterscheiden und sehe, daß sie die Frau ist, die ich in Berlin zu Neu-Kölln am Wasser dicht bei der Fabrik so manchmal gesehen und immer bedauert habe, wenn sie so traurig mit ihrem Jungen an der Hand daherging. »Aber, liebe Frau,« sag' ich, »Ihr Mann kann doch unmöglich in dem Hause da sein – das ist ja gar kein Haus mehr und keine Menschenseele darin.« – »Doch, doch,« gibt sie zur Antwort, »sie wollen ihn dort sterben lassen, weil sie seine Feinde sind – er ist krank, sehr krank, ein Granatsplitter hat ihn an der Stirne getroffen; aber ich kann ihn noch retten, wenn Sie mich nur zu ihm lassen wollen . . .« Und nun, Herr Leutnant, nun merk' ich wohl, daß es da oben – und er deutete mit dem Finger an seine Stirn – nicht ganz richtig mit ihr ist. Die Ärmste! denk' ich – sie hat vor Kummer den Verstand verloren. »Nein, liebe Frau,« sag' ich, »da geht kein Weg mehr durch – das darf nicht sein.« – »So lassen Sie mich wenigstens hier einen Augenblick sitzen,« sagt sie, »ich bin so müde!« – »Das kann gern geschehen,« geb' ich zur Antwort – denn sie brauchte mir's nicht erst zu sagen, so hätte ich es ihr wohl angesehen, wie todmüde sie war – und so setzt sie sich dorten hin auf den großen Stein und ist ganz still, und ich gehe hier auf und ab. Auf einmal fängt etwas an zu poltern . . . »Was ist das?« ruf' ich erschreckt und weiche unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Denn vor mir das Haus fängt an, sich zu rühren – ich sehe, wie es sich senkt, wie es sich auf die Seite neigt – ich habe gerade noch Zeit, auf die Frau zuzuspringen – ich will sie beim Arm ergreifen – aber in dem Augenblick hör' ich, wie sie aufschreit: »Ich komme!« – und in dem nächsten hat das zusammenbrechende Haus sie begraben.«

Der bejammernswerte Vater rief nach seinem Kind, als ob sie ihn noch hören könne. »Helene!« schluchzte er, so daß seine ganze mächtige Gestalt davon erschüttert ward, »warum hast du mir das getan? – Aber noch ist Hilfe möglich! Rettet sie, rettet sie!«

Doch ihr konnte niemand mehr helfen, sie konnte niemand mehr retten. Als man nach mehreren Stunden mühseliger Arbeit bis zu ihr vorgedrungen war, da fand man sie mitten 427 unter den Trümmern des Vaterhauses, tot, doch nicht entstellt. Sie lag unter einem Balken, der sie im Falle sogleich erschlagen, aber auch gegen jede Verstümmelung geschützt hatte. Sie mußte leicht und schmerzlos gestorben sein. Kein Zug ihres Gesichts verriet mehr, was sie im Leben gelitten. Es war ein Friede darüber ausgebreitet wie in den Kindertagen, von denen sie zuletzt geträumt, und ein Lächeln schwebte um ihren Mund, als ob das letzte Wort, welches sie gesprochen, »Alfons« gewesen wäre.

 


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