Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Ein Sommertag

An jedem Sonntage pflegte Glöcklin herauszukommen. Diese Besuche waren Herrn Grandidier die liebsten; es kam jedesmal ein Gefühl der Sicherheit, ein Vertrauen über ihn, daß ihm nichts Böses begegnen könne, solange der Freund in seiner Nähe sei. Diesen Mann, das wußte er, täuschte nicht der Schein von Behagen und Zufriedenheit, welcher über sein äußeres Leben gebreitet war; er erkannte die Schwäche des Herzens, die sich unter Härte zu verbergen suchte. Was kein anderer sah, das sah er. Der Druck dieser arbeitgeprüften Hand sagte ihm: wir verstehen uns! Der Blick dieses treuen Auges, welches durch das Leben still und ernst geworden, sagte ihm: wir sind Leidensgenossen! Der Ausdruck dieses Antlitzes, welchem das Schicksal die ruhige 321 Zuversicht nicht geraubt hatte, sagte ihm: vielleicht, vielleicht gibt es noch ein Glück! . . . In keiner anderen Sprache, als in dieser, hatten die beiden Männer sich jemals über den Gegenstand unterhalten; doch brachte der Genosse seiner Jugend, wenn er kam, immer etwas mit sich, wie eine Verheißung – war es ein Erinnern an die Vergangenheit, war es ein Hinweis auf die Zukunft? Herr Grandidier dachte darüber nicht nach; aber er wußte, daß er sich auf diesen Mann verlassen könne, und das erleichterte sein Herz, welches immer mißtrauischer geworden war gegen alle anderen und zuletzt gegen sich selbst.

Seit einiger Zeit jedoch lagerten Wolken auf der Stirne Glöcklins, welche nichts mehr zu verscheuchen vermochte, nicht die Gewohnheit seines Tagewerks, nicht das Zusammensein mit dem Freunde, nicht einmal der Anblick seines Enkels, den er über alles liebte. Wie ein kleiner Kamerad war ihm der Junge, je mehr er heranwuchs; immer, an den Nachmittagen, wenn die Schularbeiten gemacht waren, kam er herüber zu Herrn Glöcklin in die Fabrik, deren wunderbares Treiben den Knaben außerordentlich fesselte. Dort zuzuschauen war für ihn ein größeres Vergnügen, als das beste Spiel; er fühlte sich bald heimisch zwischen den Arbeitern und Maschinen, und wenn Feierabend war, so ging er an der Hand des Großpapas mit einem Ausdruck von Wichtigkeit, als ob er auch dazu gehöre. Regelmäßig an jedem Sonntag, zuweilen schon vor Tisch, begaben sie sich zusammen nach der Jannowitzbrücke, wo die kleinen, schmucken Dampfer liegen, welche die Spree bis Köpenick und Grünau hinauf und herunter fahren. Auf diese Fahrten am Sonntag freute sich der Knabe die ganze Woche. Was gab es da nicht alles zu sehen! Zuerst die vielen Fabriken, die hier am Ufer stehen, bis weit über die letzte Brücke hinaus, wo die Stadt aufhört und der Wald anfängt, dann Stralau, Treptow, Eierhäuschen, Neuer Krug und endlich der Garten des Herrn Grandidier. Den größten Eindruck aber machten auf ihn allemal die Fabriken mit ihren zahllosen Fensterchen, ihren hohen Schornsteinen und ihrem Aussehen, welches selbst am Sonntag rußig war. Er hatte sich die Bestimmung einer jeden ganz genau gemerkt und konnte sie, vorwärts und rückwärts, der Reihe nach hersagen, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu irren. Herr Grandidier mußte wehmütig lächeln, wenn er den 322 hübschen Jungen noch zwischen den Blumenbeeten seines Gartens in diese Beschäftigung vertieft sah; und Herr Glöcklin war nicht wenig stolz darauf. Aber heut – es war am ersten Sonntag im Juli – vermochte selbst das unschuldige Geplauder des Kleinen ihn nicht aufzuheitern.

»Es sieht bös aus, drüben überm Rhein,« sagte er zu Herrn Grandidier, als dieser wohlgemut zu ihm auf den Altan trat, nachdem er sein Nachmittagsschläfchen absolviert hatte.

»Was ficht's dich an?« erwiderte er, worauf er dem schon in einiger Entfernung wartenden Meister Knüppel – denn hier ging alles präzis nach der Minute – einen Wink gab, den Kaffee zu servieren, und sich selbst die Pfeife stopfte. »Du bist hier wohl aufgehoben, Glöcklin.« Und nun setzte er den Tabak in Brand und fing mit Bedacht an zu dampfen.

Aber Glöcklin verneinte mit dem Haupte. »Ich denke nicht an mich,« sprach er, »obwohl es mich und dich und uns alle sehr nahe berührt. Denn wer will sagen, wohin es führen kann? Aber es ist meine Tochter Helene, die mir Sorge macht. Sie ist eine ganz andere geworden, seitdem diese beunruhigenden Nachrichten herüberkommen. Ich muß sagen, daß sie mir oft Angst einflößt . . .«

»Sie ist deine Tochter, Glöcklin, und Gott soll mich bewahren, etwas gegen sie vorzubringen. Aber da du einmal davon sprichst, muß ich gestehen, daß ich ihr gegenüber immer, von der ersten Begegnung an, ein ähnliches Gefühl gehabt, ein unheimliches Gefühl, welches keine Annäherung zuließ, wiewohl ich es doch von meiner Seite gewiß an keiner Freundlichkeit habe fehlen lassen. Sie hat es niemals erwidert und ich glaube, daß sie's seit dem Morgen, an welchem sie mir den Auftritt machte, mit dem Gegenteil vergilt.«

»Du mußt Nachsicht mit ihr üben,« ergriff der Vater das Wort für sein Kind. »Du hast sie nicht gekannt in ihrer Jugend und ihrem Glück. Ihr feuriges Temperament, ihr groß und stark fühlendes Herz, ihre Willenskraft schienen sie für ein bedeutendes und glänzendes Los bestimmt zu haben. Alles gebrochen, lieber Freund – alles gebrochen und verschoben und verwirrt durch ein unseliges Geschick – aus der Bahn geworfen und vergeblich ringend, wieder hineinzulenken . . . ein verfehltes Dasein, niedergedrückt von diesem Bewußtsein und dennoch trotzig sich dagegen auflehnend. Unter all 323 ihren guten, ja großen Eigenschaften ermangelt sie dieser einen: das Unglück ertragen zu können. In glücklichen und geordneten Zuständen wie reich und schön und edel hätte sich diese Natur entfalten können, die so voll Liebe, so voll Hingebung, so voll Opferfähigkeit ist! Aber das Unrecht, welches ihr geschehen, hat sie bitter gemacht und stachelt sie beständig auf.«

»Doch hätte ich meinen sollen, daß der Aufenthalt hier, die Liebe, mit der du sie väterlich umgibst, das Wohlwollen, welches ihr von allen Seiten entgegengebracht wird, auch die Jahre, welche inzwischen verflossen sind, sie allmählich beruhigt haben müßten.«

»Das ist es eben,« versetzte Glöcklin, »was mich so hoffnungslos macht! Sie war hier nie heimisch; sie wird hier nie heimisch sein.«

»Freilich, freilich,« entgegnete Herr Grandidier, schon ein wenig verletzt, »sie möchte fort von hier; sie möchte hin zu dem Manne, der ihr und uns allen so wehe getan hat, und wir sind es ja, die sie davon zurückhalten!«

»Du bist ungerecht gegen sie,« sagte Glöcklin; »bedenke doch, sie ist sein Weib! Sie hörte nicht auf, es zu sein, als die Welt ihn für einen Verbrecher nahm – kannst du ihr vorwerfen, daß sie mit doppelter Liebe, mit doppelter Zärtlichkeit an ihm hängt, mit doppeltem Verlangen sich nach Wiedervereinigung mit ihm sehnt, seitdem sie weiß, seitdem wir alle wissen, daß er nur ein Unglücklicher ist?«

»Ah, bah,« erwiderte Herr Grandidier, »Wiedervereinigung! Wiedervereinigung mit einem Menschen, der vom Gesetz ergriffen wird, sobald er nur seinen Fuß auf europäischen Boden setzt! Das sind Hirngespinste und ich hoffe, Glöcklin, du denkst nicht daran!«

»Ich nicht daran denken?« versetzte Glöcklin in einiger Erregung. »So wahr mir Gott helfe, tausendmal hab' ich schon daran gedacht. Glaubst du denn, daß ich mein Kind leiden sehen könnte, ohne mich zu fragen, wie ich ihr zu helfen vermöchte? Dieser Gedanke verläßt mich gar nicht mehr; er quält mich Tag und Nacht, und das allein ist es, was mich so tief betrübt, daß ich kein Mittel finden kann!«

»Danke doch deinem Schöpfer, daß dir die Möglichkeit abgeschnitten ist! – Wahrhaftig!« rief Herr Grandidier mit einem leisen Anfluge von Spott, »du bist noch ganz der 324 leichtblütige Mann deiner Jugend, der eine Torheit begehen könnte!«

»Bei Gott! – das könnt' ich, wenn du das eine Torheit nennst, ein Herz zu haben und zu lieben!«

»Doch du bist älter geworden, Glöcklin, vergiß das nicht! Du hast dir in schweren Kämpfen, nach harten Stürmen deine Ruhe gewonnen. Möchtest du denn alles noch einmal durchmachen?«

»Was ist mir meine Ruhe, ja – was ist mir mein Leben, wenn es das Leben meines Kindes gilt? Grandidier – sie ist meine Tochter und Rose hat sie mir geschenkt, und auf diesen Armen hab' ich sie gehalten . . . ich ertrüg' es nicht, sie zu verlieren durch meine Schuld oder meine Ohnmacht – und das ist es, was mich unaufhörlich verfolgt, die Vorstellung, daß die Liebe, die Verzweiflung und . . . wer weiß? – der Wahnsinn sie zu etwas hinreißen könnte . . . wovor mir schaudert.«

»Und dem willst du wehren? Armer Mann!« sprach Herr Grandidier. »Was erwartest du denn noch von der Welt und von den Menschen? Ich sage dir, man ist nur sicher vor der Welt, indem man sich aus ihr zurückzieht, und sicher vor den Menschen nur in der Einsamkeit. Es gibt noch ein Glück, ein letztes Glück. Aber es ist in der Einsamkeit. Ich habe von außen her nichts mehr zu hoffen. Ich will von außen her auch nichts mehr zu fürchten haben. Allein mit mir bin ich glücklich.«

»Wie!« rief Glöcklin, »das sagst du – du, Grandidier – einst der warmherzige Freund der Menschheit, der heitere Gefährte bei der Arbeit, der treue Helfer in der Not? Nein – es kann dein Ernst nicht sein! Lange bin ich gleichsam schweigend neben dir hergewandelt – habe dich in Schutz genommen gegen andere, fast gegen mich selbst, indem ich mir einredete, daß du das, was du zu stolz seiest, uns sehen zu lassen, in deinem Herzen verbergest. Nun aber zu glauben, daß in diesem Herzen nichts mehr sei – nichts mehr!«

»Ich habe genug gelitten,« sagte Herr Grandidier, »es ist besser so.«

»Dann möcht' ich in all deiner neuen Glückseligkeit nicht mit dir tauschen,« fuhr Glöcklin auf; »dann beleidigt es mich, Wohltaten von dir angenommen zu haben, und dann bin ich bereit, hier meine Stellung niederzulegen und mit meinen 325 beiden Töchtern und meinem Enkel fortzuziehen wie ich gekommen bin.«

»Ja,« sagte Herr Grandidier, »so gehe auch du hin und verrate mich. Den Anfang hast du gemacht. Auch du hast mir den Frieden nicht gegönnt, dessen ich hier stille genoß – still und vergessen, zwischen meinen Blumen und meinen Bäumen – auf diesem Platz meiner Jugend, den ich mir so teuer erkauft habe.«

»Verschließe dich doch vor der bewegten Luft, welche heraufweht vom Wasser und über dem Walde! Versperre ihr doch den Eingang mit den Mauern und Gittern deines Gartens! O Grandidier, Grandidier – es steigt etwas herauf von Westen – und ich fürchte, das wird auch den Weg finden zu dir . . . Es wäre sonst gar zu leicht, ein Egoist zu sein!«

»Was!« brauste nun Herr Grandidier auf, betäubt fast von dem Klange des Wortes, welches aus dem Munde des Freundes zu hören er lang gefürchtet, aber auch lang erwartet hatte.

»Laß uns dies Spiel zwischen uns endlich aufgeben, Grandidier,« sagte Glöcklin. »Die Zeit ist ernst, und sie duldet keine falsche Rücksicht mehr. Ich bin so weit gegangen; ich muß weiter gehen. Ich muß einen Namen nennen, welcher zwischen uns nicht mehr genannt worden ist seit unserem ersten Wiederbegegnen.«

»Schweig!« herrschte Herr Grandidier den Freund an, indem der Zorn ihm ins Gesicht stieg.

»Wenn ich dir gesagt, was ich dir zu sagen habe, dann werd' ich schweigen und dann gehen. Denn ich habe bis jetzt geglaubt, daß du dich nur gegen deinen Sohn setzest. Jetzt aber sehe ich wohl, daß du dich auch gegen Gott setzen willst!«

In diesem Augenblick schallte vom nahen Walde her Chorgesang.

»Kennst du das Lied?« fragte Glöcklin, indem er sich erhob.

Das Lied, bis dahin nur in den Liedertafeln der Männergesangvereine bekannt, von Turnern oder Schülern zuweilen gesungen, hatte sich zu dieser Zeit allgemein verbreitet. Niemand wußte recht, woher es gekommen; aber jedem schien es auf einmal bekannt zu sein. Es war das schöne, rührende Lied von der »Wacht am Rhein«, in welchem sich 326 damals die Zuversicht des ganzen deutschen Volkes aussprach und welches bald, auf Schlachtfeldern gesungen, das Kampf- und Siegeslied der deutschen Heere werden sollte.

»Kennst du das Lied?« wiederholte Glöcklin.

Herr Grandidier war, während das Lied zu ihnen herüberklang, ruhiger geworden. Die Röte seines Antlitzes verflog, und er sah nun auf einmal blaß, müde, ja fast krank aus. »Komm,« sagte er zu Glöcklin, »laß uns in den Wald gehen.«

Die beiden gingen. Vor ihnen lag der Kiefernwald, von Abendsonne besprengt seine schlanken Baumsäulen und vom Rot durchglüht die dunklen Kronen. Links war Kornfeld und Heu, von rechts herauf glitzerte die Spree. Dort war das Wirtshaus und vor demselben, im Sande, stand dicht ineinander geschoben die bunteste Wagenmenge, Stellwagen, Torwagen, offene Wagen, geschlossene Wagen, Droschken und feine Equipagen. Die Pferde hatten nicht alle Platz im Stalle; truppweise waren sie draußen noch angebunden an Pflöcken und Pfählen. Es sah aus wie ein Lager. Überall durch das sommerliche Grün funkelte das Blau des Wassers, auf welchem sich fern und nah Kähne schaukelten. Zahlreiche Familien saßen um lange Holztische, auf welchem ungeheure Kaffeekannen Platz hatten. Ein Mann in einem braunen Samtrock, ein Künstler, der seinen ganzen Apparat, Papier und Schere, bei sich trug, ging von Gruppe zu Gruppe, seine Dienste anbietend. Er schnitt Silhouetten und porträtierte ganze Gesellschaften in weniger als fünf Minuten. Aus dem Walde tönte die Trommel und die Drehorgel. Da ging es lustig her; ein lachender Mädchenschwarm und fröhliche junge Männer tummelten sich, einander fliehend und haschend, hin und her. Ganz in Sonne getaucht, zwischen den Stämmen schimmerten die weißen, die roten und die blauen Kleider. Ein junger Ulan in voller Uniform stand betrachtend an einen Baum gelehnt, während einige seiner Freunde vom Zivil in Hemdärmeln umhergingen. Kinder pflückten im Moose Blumen und Erdbeeren, Liebespaare wandelten fernhin durch den Wald. Jetzt erklang an einer anderen Stelle Tanzmusik, welche den jungen Reitersmann so sehr ergriff, daß er sich einsam und gravitätisch um seinen Baum zu drehen begann. Zu Füßen einer wuchtigen Kiefer, auf dem weichen, mit braunen Nadeln bestreuten Boden, lagerte eine Schar von Turnern in weißem Leinenzeug. Sie hatten eben einen 327 neuen Gesang beendet und labten sich nun an den mitgebrachten Vorräten. Sie waren es auch, die das Lied gesungen, welches vorhin Herr Grandidier und Glöcklin gehört. Kaum wurden die Lagernden der beiden Männer ansichtig, so erhob sich einer von ihnen, eine schlanke, geschmeidige Gestalt, und kam ihnen mit einem gefüllten Bierglase entgegen.

»Auf Ihr Wohl, Herr Grandidier!« sagte er; »wie lang ist's her, seit wir unseren Herrn Grandidier nicht mehr gesehen haben!« Und mit einem Zuge leerte er das Glas.

Es war der fröhliche Karl, der Hutmachergesell, der überall, wo er war, die Ehre des Metiers hochhielt und unter seinen Genossen den Ton angab.

Ihm folgte der alte Justus Haberecht, und es dauerte nicht lange, so war Herr Grandidier von den erlesensten Arbeitern seiner Fabrik umringt. Ihm ward seltsam zumute. Auf dieses Wiedersehen hatte er nicht gerechnet; und doch hatte er beinahe ein Gefühl, als ob er wieder unter den Seinen wäre in der guten alten Zeit.

»Kinder,« redete er sie an, »es freut mich, daß ihr so vergnügt seid.«

»Ja, ja,« versetzte der fröhliche Karl, wie immer der Wortführer der Gesellschaft, »das soll wohl sein, Herr Grandidier. Wer weiß, wie lange es uns noch vergönnt ist? Heute rot, morgen tot. Es geht los, Herr Grandidier. Es wird Ernst mit der Sache. Wir sind darauf gefaßt, daß die Reserven einberufen werden und dann ›lebe wohl, du schöner Wald – lebe wohl, lebe wohl . . .‹« Und er stimmte das Mendelssohnsche Lied an und alle fielen ein, daß es weithin nachhallte.

Herr Grandidier schwieg. Aber der fröhliche Karl war um die Rede nicht verlegen. »Was mich am meisten freut, Herr Grandidier,« sagte er, »das ist die große Einigkeit, die jetzt zwischen uns herrscht. Da, sehen Sie den Hannoveraner und den Sachsen und den Bayern« – und indem er auf sie zeigte, reckten sich die muskulösen Figuren aus dem Baumschatten in die Höhe – »wenn wir sonst vom deutschen Vaterlande diskutierten, so gab's immer Streit und manchmal Prügel. Aber jetzt sind wir allesamt ein Herz und eine Seele. Denn wenn's gegen den Franzosen geht, dann gibt's keinen Preußen und keinen Sachsen, keinen Hannoveraner 328 und keinen Bayern mehr: dann gibt's nur noch Deutsche! Vielleicht gehen wir bald auseinander, aber dann treffen wir im Felde wieder zusammen, und da wollen wir gute Kameraden sein,« sagte er, indem er sich zu den Bezeichneten wandte, und ihre Gläser klangen einträchtiglich aneinander und gaben einen guten Klang.

»Und Ihr Herr Sohn, der Maler, der muß ja wohl auch mit, wenn's dazu kommt,« begann der fröhliche Karl wieder, nachdem er getrunken; »er hat ja wohl auch bei der Garde gedient und ist jetzt Reservist . . .«

Justus Haberecht stieß seinen Freund an. Aber es war zu spät, das Wort war heraus. »Jaso, jaso; wer kann aber auch gerade daran denken?« murmelte er vor sich hin und biß sich in die Lippen.

Herr Grandidier erschrak heftig, und Glöcklin, welcher ihm sogleich den Arm gab, fühlte, wie er am ganzen Leibe bebte und schwankte. »Er ist kaum von seiner Krankheit genesen,« erklärte er den Männern, die betroffen zurücktraten, »und das Sprechen greift ihn noch an. Entschuldigt daher, daß ich mich mit ihm entferne.«

Um die vielen Menschen zu vermeiden, die sich im Vordergrunde bewegten, und sonst noch möglichen Begegnungen auszuweichen, führte er ihn tiefer in den Wald hinein. Es ging auf den Abend. Hier war es still, und die Sonne neigte sich zum Untergange. Schmetterlinge gaukelten über den Boden hin, und Purpurlichter spielten durch den Wald. Der Wind streifte durch die Baumkronen mit einem tiefen, wundersamen Tone gleich dem einer Harfe. Der Wald erschauerte leis, und der Mond stieg auf, groß und silbern durch Nebel und Gewölk. Auf einem Baumstumpf, am Rande des Gehölzes, saß Herr Grandidier noch immer, der Villa zugewandt, welche sich weiß und geisterhaft aus dem dunklen Laube hob.

»Und du wirst mich nicht verlassen?« sagte er zuletzt, indem er den Freund schmerzlich anblickte, welcher neben ihm stand.

»Nein, gewiß nicht,« gab dieser bewegt zurück, »denn ich sehe nun wohl, was kommen wird.«

Und er half dem Freunde vom Boden aufstehen, und dann gingen sie langsam heim. Tiefer, holder Friede war in der Sommernacht, aber Unruhe war in den Herzen. 329

 


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