Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Kleiner Krieg, nebst der Beschreibung derjenigen, die ihn führen

Um dieselbe Zeit – die große Fabrikuhr hatte eben sieben geschlagen und eine mächtige Glocke das Signal zum Feierabend gegeben – stand der fröhliche Karl vor einem kleinen Spiegel, oder, um es genauer zu sagen, vor dem Stücke eines kleinen Spiegels, welches er in einer verborgenen Ecke des Arbeitszimmers zu seinem eigenen Gebrauch und Nutzen angebracht hatte, um seiner Toilette die letzte Vollendung zu geben. Die weiten Räume der Fabrik hatten sich geleert; nur Justus Haberecht, mit einer leeren Weißbierflasche unter dem Arm, stand noch am Eingang, um auf den jugendlichen Kollegen zu warten.

»Also um acht Uhr bei Philipp Krohn?« fragte Justus, als er den Gegenstand seiner vollkommenen Sympathie die Treppe herunterkommen und auf den langen dunklen Flur treten sah.

»Det stimmt. Um acht Uhr fängt die Sitzung an.« Und damit wandte er sich kurz ab und der entgegengesetzten Richtung zu.

Der fröhliche Karl hatte nämlich in Erfahrung gebracht, daß Schnellpfeffer mit der Herrschaft ausgefahren sei, was während des letzten Jahres viel seltener geschehen war, als dem hübschen Gesellen lieb gewesen wäre. Denn zwischen ihm und dem Kutscher bestand offene Feindschaft mit einem starken Beisatz von Eifersucht, und der Grund war eine gewisse junge Dame in den Souterrains des Grandidierschen Hauses, deren flüchtige Bekanntschaft wir schon bei einer früheren Gelegenheit gemacht haben. Es ist kein Anlaß zu zweifeln, daß – wenn ehrliches Spiel möglich gewesen wäre – die höheren Ansprüche des Hutmachergesellen auf Jugend, Eleganz, gesellschaftlichen Rang und allgemeine Bildung ihres Eindrucks nicht verfehlt haben würden, aber der Pfad treuer Liebe, wie man aus dem Sprüchwort weiß, läuft selten glatt. Wenn Schnellpfeffer im Hofe war – und das war seit den inneren Zerwürfnissen des Hauses bedauerlich oft der Fall – wagte sein Rival sich nicht hinein. Nicht als ob er furchtsam gewesen; wir haben ihn bereits von der Seite des Gegenteils gezeigt und hoffen unseren Lesern 211 noch mehr davon zu zeigen. Aber der Hof war Schnellpfeffers Revier und sein Verhältnis zu Friederike, der jungen Dame des Souterrains, eines jener eigentümlichen, an welche sich zuletzt alle gewöhnen, obwohl niemand sie mit dem rechten Namen zu nennen weiß. Es gibt Verhältnisse dieser Art auch in den höheren Regionen der Häuser und des Lebens, ohne ersichtlichen Zweck, mit einer angemaßten Tyrannei ausgeübt und ernsthaftere Bewerber abschreckend. Aber der fröhliche Karl war nicht der Mann, der sich abschrecken ließ, er benutzte vielmehr jede Gelegenheit, um seiner Schönen ansichtig zu werden, und sann fortwährend auf ein Mittel, um sie aus den Händen ihres Peinigers und seines Widersachers zu befreien. Denn es war ein ritterlicher Zug in dem fröhlichen Karl, und ordentlich herausfordernd setzt er den Hut auf die linke Seite seines Hauptes, indem er heute nur daran denkt. Vorsichtig tritt er in den Hof, denn nicht nur Schnellpfeffers Augen und Ohren, sondern auch die der Angeber sind zu fürchten. Nur kurz kann die Unterredung sein. Leise nähert er sich der Gegend des Gebäudes, wo vor einem offenen Fensterchen im Erdgeschoß einige blühende Geranien und Levkoien zu sehen sind. Er blickt sich um. Er bleibt stehen. Er spricht. Die Minuten sind gezählt. Zum Zögern und Sträuben und Nachgeben ist keine Zeit. Was gesagt werden soll, muß rasch gesagt sein. Wird sie ihn erhören? Wird sie ihm am nächsten Sonntagnachmittag hinter dem Rücken Schnellpfeffers ein Stelldichein in der Hasenheide gewähren?

Ihr, die ihr euch auf die Zeichen der Liebe versteht, seht ihn an und zweifelt noch!

Es fing bereits an zu dunkeln; aber obgleich die Dämmerung früh kam an diesem herbstlichen Abend, so war es doch noch schwül und dumpf in den Straßen der Stadt. Es war, als ob die Wärme des Sommers noch darin ruhe, gefangen gehalten von den hohen Mauern und steinernen Wänden. Der Himmel war ganz weiß von aufsteigenden Dünsten, in welche das Abendrot hier und dort ein grelles, unheimlich gelbes Licht warf, und unter welchen farblos und glanzlos die Stadt lag, ihre massenhaften Häuser und langen Straßen. Die Menschen saßen oder standen vor den Türen, sie kamen herauf aus den Tiefen der Kellerwohnungen und blickten herab aus den Dachkammern vier, fünf Treppen 212 hoch, um Luft zu schöpfen, soviel davon an jenem Abend und in jener Gegend zu haben war.

Ganz besonders lebhaft aber pflegt es um die geschilderte Zeit am Mühlendamm zu sein, einem Markt und Basar, welcher demjenigen, der hier vorüberkommt, die Nichtigkeit des Irdischen und die Vergänglichkeit aller Dinge recht klar vor die Seele stellt. Einst, in den Tagen des Großen Kurfürsten, war hier die Börse der Berliner Kaufmannschaft, aber den großen Kaufleuten sind die kleinen gefolgt, und die Kolonnaden auf beiden Seiten zeugen nur noch »von verschwundener Pracht«. Ein »Ankaufscomptoir«, wie es in der veredelnden Sprache des Mühlendammes genannt wird, reiht sich hier an das andere, und was darin angekauft wird, kann man sich denken, wenn man die getragenen Röcke, die roten Livreewesten und die russischen Reisepelze an den Türen hängen sieht – letztere namentlich an heißen Sommertagen ein erquicklicher Anblick. Doch ist das nicht alles. Es gibt auch Läden auf dem Mühlendamm, in welchen man hübschere Dinge haben kann: Spiegel und Bilder, Porzellan und Gedichte, Geburtstagswünsche und Kränze von papiernen Blumen. Der Reichtum und die Mannigfaltigkeit dieser Auslagen ist gar nicht zu beschreiben; da kann man, wenn man will, stundenlang die schönsten Werke der Kunst und Industrie bewundern, oder auch gratis die besten Balladen lesen, und vor einem solchen Laden mit der Aufschrift: »Bijouterie, Galanterie« blieb der fröhliche Karl stehen. Es ist nicht recht zu sagen, wie in einen solchen Laden Stiefel und Schuhe kommen; aber sie waren da zwischen Perlenkreuzen, Korallenschnüren und goldenen Broschen, was nämlich am Mühlendamm Gold, Korallen und Perlen sind. Aber alles das reizte den Jüngling nicht, welcher nach etwas suchte, »womit er seine Liebe schmückt«. Er erwog in seinem Geiste das Problem, wie er seiner Angebeteten am nächsten Sonntag ein Geschenk überreichen könne, welches zugleich nützlich sei und mit einem tieferen Sinne begabt – welches nur ihr allein, und nicht der Welt verrate, was er für sie fühle! Diese Bedingungen waren freilich schwer zu vereinbaren; allein was findet man nicht alles am Mühlendamm! Und er fand. Es waren ein Paar Holzpantoffeln, von der Art, die man in Berlin »Pantinen« nennt; aber keine gewöhnlichen. Die innere Seite dieses besonderen Paares war nämlich mit 213 Versen beschrieben, und zwar in goldenen Buchstaben; der Vers in einem lautete: »Einer tut es nicht allein,« und der Vers im anderen: »Es müssen immer zweie sein.« Wer es gesehen, der hätte wohl begriffen, wie das Paar in einen Bijouterieladen kam; es war ein Bijou von Holzpantöffelchen und nicht seine geringste Eigenschaft die, daß es für den Sinn der Verse gleichgültig sei, ob man sie nun am linken und rechten Fuße trage oder umgekehrt – es reimte sich immer und blieb immer dieselbe zarte Anspielung. Rasch ward er handelseinig, barg den Schatz sorgfältig in seiner Brusttasche und setzte hierauf seinen Weg fort, da die Glocke des Petriturmes mit acht Schlägen verkündete, daß es Zeit sei, sich zu Philipp Krohn zu begeben.

Philipp Krohn war der Besitzer eines Bierhauses in der Nachbarschaft des Mühlendammes und nicht weit vom Molkenmarkt. Es war ein breites, mehrstöckiges Gebäude mit sehr niedrigen Fenstern und einer sehr niedrigen Tür, über welcher eben, in dem Augenblick, wo Karl anlangte, die rote Laterne, das Wahrzeichen des Berliner Wirtes, angezündet wurde. Doch nicht zu der alltäglichen Sorte gehörte Philipp Krohn. Er war vielmehr ein merkwürdiger Mann. Er konnte auf einem Stocke flöten und auf einem Kamme blasen. Er liebte die Schauspielkunst, die Kunst des Gesanges und alle anderen Künste insgemein, und sein Bierlokal gab die höchsten Proben davon. Außerdem war er ein echter deutscher Patriot und ging, wie Zeitungen und Bierwirte sollen, immer mit der öffentlichen Meinung. Alle paar Jahre hatte sein Bierhaus einen anderen Namen. Ältere Besucher aus den Märztagen von 1848 erinnerten sich noch wohl des Schildes mit der schwarzrotgoldenen Inschrift: »Demokratische Bierhalle«; später hatte es ein schwarzweißes Schild und den Namen: »Neue preußische Bierhalle«, und an dem Abend, an welchem der fröhliche Karl sich seiner gastlichen Pforte näherte, führte es die Bezeichnung: »Norddeutsche Bundeshalle«, prangte in den norddeutschen Farben und hatte außerdem noch Verse, die sich auf beiden Pfosten der Türe verteilt fanden. Wer es dem fröhlichen Karl und dem Verfasser dieser wahrhaften Geschichte nicht glauben will, daß der Mühlendamm das poetischste Quartier in Berlin ist, wo man die Verse sozusagen auf der Straße findet, an Ladenfenstern ausgehängt, auf Pantoffeln geschrieben und 214 an Türpfosten gemalt, der mag sich selber davon überzeugen.

Vor der Türe standen mehrere junge Männer, welche teils blauseidene, teils grünseidene Halstücher, in ungeheure Schleifen gebunden, trugen. Einer von ihnen, dessen Haar auffallend duftete, pfiff mit großer Kunstfertigkeit, während ein anderer, ein stämmiger, untersetzter Bursch mit einer Löwenmähne, die Bewegungen eines Mannes machte, der anfangen will zu tanzen, und ein dritter, der einen großkarierten Rock trug, wehmütig und betrübt folgendes Reimlein sang:

»In das Bergwerk hinein,
Wo die Bergleut' sein,
Und da graben sie das Gold,
Und da graben sie das Silber,
Und da graben sie das Gold und das Silber fein.«

Es war eine Reminiszenz aus seiner Heimat; denn er war ein Sachse, aus der Gegend von Annaberg in dem sächsischen Erzgebirge. Dieser Mann war aus der Art geschlagen. Alle seine Leute, Vater, Brüder und Verwandten, gehörten dem Bergmannsstand an; er aber war ein Tapezierer geworden und hatte sich nach Berlin gewandt. Kummervoll wiederholte er den Refrain: »Und da graben sie das Gold und das Silber fein,« als der fröhliche Karl unter die Versammelten trat.

»Ist Messing schon oben?« fragte er, indem er zur Begrüßung den Filzhut von dem linken Ohr auf das rechte rückte.

»Wenn ihn seine Frau fortgelassen hat!« erwiderte der Duftende.

»Du, Friseur!« warnte ihn der Fröhliche, »daß du mir hier keine Witze gegen verheiratete Männer machst!« Und dabei griff er in die Brusttasche, um sich zu vergewissern, daß die Pantinen noch darin steckten.

»Ei, sieh mal einer an!« lachte der Großkarierte; »so 'n Hutmachergesell ist doch egal verliebt.«

»Was geht dich das an, Sachse?« versetzte der fröhliche Karl. »Bekümmere du dich um deine Tapeten und nicht um Hutmachergesellen.«

»Freilich,« sagte der Löwenmähnige – seines Zeichens ein Kunstschlosser – in einem stark altbayerischen Dialekte, »der Abend fängt ja erst an.« Und wie zur Bekräftigung deutete er mit der Hand auf die beiden Zeilen an der Tür: 215 »Deutsche Brüder, wißt ihr's schon? Das beste Bier bei Philipp Krohn!«

Damit setzte sich die erlesene Gesellschaft in Bewegung, die schmale Holztreppe hinauf, dann wieder eine kleine Treppe hinab und durch verschiedene Türen in ein großes, tiefliegendes Gemach, aus welchem man abermals ein paar Stufen hinansteigen mußte, um in das Allerheiligste der Norddeutschen Bundeshalle zu gelangen. Es war ein langes flaches Bogenzimmer, mit Vorsprüngen und Nischen und Sofas darin, der hintere Teil desselben wieder um ein gut Stück tiefer als der vordere. Kurz, die Unebenheiten des Norddeutschen Bundes konnten nicht deutlicher ausgedrückt werden, als durch die Beschaffenheit dieses Lokals. Die Decke war blau mit goldenen Sternen. In einer Ecke stand eine Art von Orchester in Form einer Stalaktitenhöhle, die niederhängenden Tropfsteinzacken aus Pappe, vergoldet und versilbert, und im Hintergrunde war die blaue Grotte von Capri. Die Einfahrt zu derselben verstellte ein halbes Dutzend übereinander getürmter Stühle. Denn die Musikanten waren noch nicht da. Diese kamen erst in der eigentlichen Saison mit dem beginnenden Winter. Dagegen wallte jetzt schon und das ganze Jahr lang an der entgegengesetzten Wand eine schwarzweißrote Bundesfahne herab, unter deren mächtigen Falten das Bildnis des Königs Gambrinus mit Zepter, Krone, überschäumendem Bierglas und wohlgenährtem Gesicht fröhlich hervorschaute, während gegenüber in einer Nische das Hauptstück des Norddeutschen Bundestempels (wenigstens in dem gegenwärtigen Stadium desselben) zu sehen war.

Dieses Wandgemälde illustrierte das, was man damals die Mainlinie nannte, und hatte sich zum Text das zu der Zeit populär gewordene Wort eines Redners im Norddeutschen Parlament gewählt: daß sie nämlich für den Zug der deutschen Einheitsbestrebungen nur eine Haltestelle sei, um Kohlen einzunehmen. Demgemäß zeigte das Bild einen Eisenbahnzug mit mächtig qualmender Maschine, welche den Namen »Deutsche Einheit« zeigte; der Lokomotivführer, in dessen Kittel und Mütze man die gedrungene Figur Bismarcks erkannte, arbeitete aus Leibeskräften, um den mächtig weiterstrebenden, zornig schnaubenden Koloß zum Stehen zu bringen, während zur Seite desselben rußige 216 Männer mit den Gesichtern hervorragender Parlamentsmitglieder Kohlen einschaufelten. Unten aber floß der Main und auf dem jenseitigen Ufer, vor einem Wärterhäuschen, welches den Namen »Mainz« trug, stand Napoleon III. in der Gestalt eines Bahnwärters, welcher dem heranbrausenden Zug sein Fähnlein entgegenhielt mit der Inschrift: »Halt!«

Auf die so verzierte Nische steuerte der fröhliche Karl hin und hatte die Freude, an dem dort stationierten Tisch nicht nur Justus Haberecht, sondern auch den erwähnten Klempner zu finden, um dessentwillen er beinahe schon einen Strauß zu bestehen gehabt hatte. Die Begrüßung war von beiden Seiten die herzlichste; denn Karl hegte seit einiger Zeit eine ausgesprochene Sympathie für jung verheiratete Paare, und ich hoffe, daß dieser Umstand die Sympathie des Lesers für den Klempner nicht verringern wird. Er ist nämlich, wenn sie sich seiner gütigst erinnern wollen, ein alter Bekannter. Sie haben ihn, in einem früheren Kapitel dieser Geschichte, lustig hämmern und klopfen und aus voller Brust »Frei wie des Adlers mächtiges Gefieder« dazu singen hören in dem Erdgeschoß des kleinen Hauses in der Krausenstraße, der Kirche gegenüber. In den anderthalb Jahren, welche seitdem verflossen, hat er sich verheiratet, hat ein hübsches Weib, ein prächtiges Kind und ist glücklich über alle Maßen. Zwar singt er nicht mehr oder doch nur höchst selten bei der Arbeit; allein er entschädigt sich dafür, indem er jeden Abend, an dem es mit Schicklichkeit und unter irgendeinem Vorwand geschehen kann, sich vom Hause entfernt mit dem Versprechen, in höchstens einer Stunde wieder zurück zu sein. Gewöhnlich fügt es sich, daß die Geschäftswege, die er vorschützt, ihn an der »Norddeutschen Bundeshalle« vorbeiführen, welche er denn auch niemals anders betritt als mit dem festen Vorsatz, nur ein Glas zu trinken. Allein dann pflegt jedesmal in dem Augenblick, wo er aufstehen und nach Hause gehen will, der fröhliche Karl zu kommen und Gesellschaft mitzubringen. Und genau so war es auch heute.

»Schade,« sagt der Klempner, indem er seine Freunde hereintreten sieht, »sie kommen immer, wenn ich fort will!«

»Klempner!« ruft der fröhliche Karl, indem er ihm die biedere Rechte zum Gruße reicht, »du wirst doch nicht?«

»Ich muß,« erwidert dieser und macht Miene, sich zu erheben. Aber die befreundete Schar umringt ihn; sie beweist 217 ihm mit tausend Gründen – unter welchen der überzeugendste der, daß man ihn unter keiner Bedingung fortlassen werde – die Notwendigkeit zu bleiben, und der Vorschlag, »auf die Gesundheit der jungen Frau Meisterin in der Krausenstraße« anzustoßen, tut das übrige. Dieser Toast, von dem fröhlichen Karl vorgeschlagen und von den anderen mit Enthusiasmus aufgenommen, war eine außerordentliche Beruhigung für den Klempner, welcher mit dem unabänderlichen Entschluß, daß dies das letzte sein solle, das Glas an die Lippen setzte.

Da es sehr heiß im Zimmer war, so hatte man alle Fenster geöffnet, welche so niedrig über der Straße waren, daß die Omnibusse, welche vorüberfuhren, fast in gleicher Höhe gingen und die Leute, die darauf saßen, bequem in die »Norddeutsche Bundeshalle« hineinschauen konnten; was sie denn meistens auch taten.

Allein das genierte die muntere Gesellschaft nicht, welche im Gegenteil immer lustiger wurde und immer hartnäckiger darauf bestand, daß der Klempner, wenn er nun einmal so lange geblieben, auch noch länger bleiben könne. Zwar protestierte dieser ernstlich gegen jedes neue Glas, aber bald ward eine neue »Gesundheit« vorgeschlagen und bald ein frisches Faß angestochen – und der Klempner fing endlich an zu begreifen, daß er sich als Opfer der Verhältnisse betrachten und diesen Abend zu den verlorenen rechnen müsse. Jedoch in der Tiefe seiner Seele tat er eine Gelübde, daß er – wenn er nur erst einmal glücklich um diesen Abend herumgekommen – nie mehr, unter keiner Bedingung, wenn er es irgend hindern könne, Geschäftswege nach Dunkelwerden in diese Gegend der Stadt machen wolle; und nachdem er auf diese Weise – wie schon an manchem Abend vorher – sein Gewissen und die Sachlage miteinander ausgesöhnt, mischte er sich wieder in das Gespräch und Gelächter seiner Genossen.

Das Gelächter galt größtenteils dem alten, braven Justus Haberecht, der allerdings ein wenig hinter seiner Zeit zurückgeblieben war. Er bekümmerte sich so gut wie gar nicht mehr um Politik. Vor zwanzig, einundzwanzig Jahren allerdings, in den Tagen des denkwürdigen März von 1848, als er selbst noch um so viel jünger, war er manchmal draußen bei den Zelten und nachmals auf der großen Heide bei Pankow gewesen und hatte die Volksredner gehört, welche dort unter 218 der einsamen Pappel vor einer Versammlung von Tausenden sprachen. Er hatte nicht besonders viel davon verstanden; aber er war hinausgegangen, weil alle anderen Gesellen es zu der Zeit auch taten. Und dann kam der 18. März, und an diesem Tage, durch einen unglücklichen Zufall, verlor er seine Schwester, das einzige Wesen, an dem er hing, für das er gesorgt und das er von ganzem Herzen geliebt hatte. Sie hatte vor dem plötzlich um eine Straßenbiegung herantobenden Kampf nicht rasch genug zurückweichen können und war, von einem Schuß getroffen, tot auf der Schwelle des Hauses niedergesunken, in welches sie sich eben hatte flüchten wollen. Woher war der Schuß gekommen? Aus den Reihen der Barrikadenkämpfer oder des Militärs? Niemand konnte es sagen. Sie ward mit den übrigen an dem abgeschiedenen Platze des Friedrichshains, dem Friedhof der Märzgefallenen, bestattet, und dorthin alle Jahr, immer am 18. März, ging der alte Justus, um das Grab der Schwester zu besuchen, dessen Hügel schon eingesunken und dessen inzwischen stark verwitterter Denkstein das Bild eines mit Moos fast überwachsenen Schmetterlings zeigte, nebst der beinahe unleserlichen Angabe ihres Namens und Alters. Sie hatte das neunzehnte Jahr noch nicht vollendet. Seitdem war der stille Mann – der damals schon in der Fabrik des Herrn Grandidier gearbeitet – noch stiller geworden, nahm wenig Anteil an den Angelegenheiten der Welt, hatte nur noch das Bedürfnis, irgend jemand zu bewundern, und tat demselben Genüge, indem er den fröhlichen Karl für das Muster eines patenten jungen Mannes hielt. Dieser erwiderte die uneigennützige Hingebung des alten Justus im allgemeinen etwas kühl; allein wo es darauf ankam, ihn gegen Spott oder Neckerei zu schützen, welche das Aussehen und Benehmen des schüchternen Mannes mit dem herausfordernden Namen nur gar zu billig machten, da zeigte Karl, was ein treues Herz und eine gesunde Faust wert sind. Er konnte wohl auch einmal in harmloser Weise mit einstimmen; allein wenn es ihm zu bunt ward, dann schlug er auf den Tisch und zumal, wenn die Anzüglichkeiten von demjenigen unter ihnen ausgingen, der sich durch sein stark frisiertes Haar und den entsprechenden Wohlgeruch auszeichnete.

»Hannoveraner!« rief er, »du weißt, daß ich kein 219 Spaßverderber bin. Aber alles muß seine Grenzen haben.« Und darauf erfolgte jener Schlag auf den Tisch, der die Feindseligkeiten zu eröffnen pflegte. Derjenige, den der fröhliche Karl als Hannoveraner bezeichnete, war seiner Profession nach ein Haarkünstler, in Hannover geboren und erzogen und sah auf die Jahre seines Lebens, die er dort verbracht hatte, als auf die goldenen zurück. Denn Hannover war eine gute Stadt für Friseure gewesen, und der unsere besaß Ehrgeiz. Ihm schwebte das Bild eines Mannes von seiner Profession vor, welcher es, durch eine besondere Verkettung von Umständen, so weit gebracht hatte, daß er nur noch ganz vornehme Personen frisierte und zuletzt, vom Geschäfte zurückgezogen, in einem schönen Hause, mitten in einem schönen Garten vor der Stadt ein stilles und angenehmes Dasein führte. Mit unverhohlenem Ingrimm daher sprach unser Hannoveraner von dem Umschwung der Dinge, welcher die alte, ehrwürdige Residenz von Kurfürsten und Königen ihres ehemaligen Glanzes beraubt und zu einer Provinzialstadt herabgedrückt hatte, in welcher Friseure fortan Menschen waren wie alle anderen. Er wäre daher am liebsten ausgewandert in ein fremdes Land und eine ferne Stadt, aber er kam nicht weiter als nach Berlin, und da es ihm hierselbst, im Lager des Feindes, nicht übel erging, da die Löhne höher und die Zukunft versprechender war, als sie jemals in Hannover gewesen, so wich er der Gewalt, wie er sagte, verdiente viel Geld, schimpfte auf Preußen und ließ sich's alleweg wohl sein.

»Himmel noch einmal!« rief er, »soll ich mir hier, bei meinem eigenen Glase Bier, das Wort verbieten lassen?«

»Ja, das sollst du,« versetzte der fröhliche Karl, »das sollst du und das mußt du, wenn du räsonnieren willst.« Und bei dieser Äußerung griff er in die Brusttasche nach den Pantinen, diesmal aber weniger aus Liebe als aus Haß.

»Allerdings,« gab der unerschrockene Friseur zurück, »das sieht euch ähnlich. Die Preußen machen's immer so. Wie heißt euer Sprüchlein? Macht geht vor Recht!«

»Soll's darauf hinaus?« rief Karl, indem er sich von seinem Stuhle halb erhob. »Dies hier ist mein Freund,« setzte er hinzu, indem er die Hand auf das Haupt des alten Justus legte, »und ich dulde nicht, daß man etwas Beleidigendes gegen denselben sage. Noch viel weniger aber werde ich's 220 mitanhören, wenn man etwas gegen die Preußen sagt. Hast du mich verstanden, Hannoveraner?«

»Hahaha!« lachte der Friseur; »das ist auch gar nicht nötig. Wer die Preußen sind, das weiß ohnedies die ganze Welt. Das braucht man nicht erst zu sagen. Da, frage hier, wen du willst – frag den Sachsen, frag den Bayern –«

»Na, was sollen die mir sagen?« entgegnete Karl.

Aber der Bayer begnügte sich damit, seine Löwenmähne zurückzustreifen, während der Sachse, der seinen Beruf verfehlt hatte, traurig vor sich hinsang: »Und da graben sie das Gold und da graben sie das Silber.«

»Da hörst du, was sie mir sagen,« höhnte Karl seinen Gegner.

Doch dieser, aufs äußerste gereizt, rief: »Wenn keiner von ihnen mit der Sprache heraus will, so sollst du's von mir erfahren. Bettelpreußen seid ihr, ein armes, verhungertes Volk, das von unserem Gelde lebt . . .«

Jetzt aber war der fröhliche und sonst immer so angenehme Karl aufgesprungen und jetzt ward er höchst mißvergnügt und unangenehm. »Von welchem Gelde leben wir?« rief er, indem er in die Tasche griff und die beiden Pantinen zum Vorschein brachte.

Dies aber war das Zeichen zum allgemeinen Ausbruch.

»Der Hannoveraner hat ganz recht,« sagte der löwenmähnige Bayer, »nichts als Hungersnot und Armut und die neunschwänzige Katze. Das hat unser Herr Pfarrer auch gesagt! Und daß sie unseren König in einen Vizekönig verwandeln und aus der Bavaria in München preußische Kanonen gießen wollen – das hat der Herr Pfarrer auch gesagt!«

»Bleib du mir mit deinem Pfaffen vom Leibe!« rief der Klempner, der, Weib und Kind und Haus vergessend, seinen Arm und seine Stimme drohend erhob.

»Beruhigt euch doch!« suchte der sächsische Tapezierer zu vermitteln; »egal an jedem Abend ist es dieselbe Geschichte . . .«

Doch Karl wollte keine Vermittlung mehr annehmen. »Von eurem Gelde leben wir?« rief er zornentbrannt dem Hannoveraner zu. – »Warte, ich will dir zeigen, von welchem Gelde wir leben,« und mit dem Verslein: »Einer tut es nicht allein« in der Linken, und dem Verslein: »Es müssen immer 221 zweie sein!« in der Rechten wollte er eben zuschlagen, als der Lärm so laut geworden war, daß ein Omnibus vor dem Hause stille hielt, um zu sehen, was es drinnen gäbe, während in demselben Augenblick die gegenüberliegende Türe sich auftat.

»Um Gottes willen!« stürzte Herr Philipp Krohn herbei, der bisher an einem entfernten Tische ganz friedsam gesessen; »ihr werdet mich zugrunde richten mit eurem Lärm! Bundesgenossen und Freunde! – Man wird mir das Lokal schließen, wenn ihr euch untereinander nicht besser vertragt! Die Polizei kommt . . .«

Die Mutmaßung schien nicht ganz unbegründet, denn der Skandal war, wie gesagt, groß und das Gebäude des Molkenmarktes, in welchem der Polizeipräsident von Berlin wohnt, nicht fern. Allein zum Glück für alle Parteien war es dieser nicht; obwohl der Mann, der jetzt in stramm militärischer Haltung hereintrat, ganz gut wenigstens ein Wachtmeister oder Leutnant hätte sein können. Allein er war mehr als das: es war der Oberst.

Als der Klempner ihn in der Türe stehen sah, bekam er einen Schreck, der nicht größer hätte sein können, wenn der Eintretende wirklich ein Schutzmann mit Helm, Nummer und Säbel gewesen wäre. Sein Gewissen erwachte aus dem künstlichen Schlummer, und ein Vorgefühl dessen überkam ihn, was ihn daheim erwarte, indem er den geehrten Mitbewohner seines Hauses erblickte. Diese bängliche Empfindung ward nicht vermindert, als der Oberst, auf der Schwelle stehen bleibend und ungewiß über die besondere Richtung, die er in diesem Tosen und Schwirren und Tabaksdunst einzuschlagen habe, sich gleichsam ins allgemeine wandte und mit erhobener Stimme, mehr im Tone des Kommandos als der Frage, rief: »Ist der Klempnermeister Messing aus der Krausenstraße hier im Lokal?«

Der Schuldige, der sich so genau signalisiert sah, daß an ein Verheimlichen nicht länger zu denken war, zog es vor, sich zu melden, um weiteres Aufsehen zu vermeiden, obwohl er lieber im Boden verschwunden wäre, wenn es nur auf irgendeine Weise möglich gewesen.

»Hier, Herr Scharf!« sagte er, indem er seine Hand von der Schulter des bayrischen Bruders entfernte und dem Obersten einige Schritte schüchtern entgegenging. Die Zuversicht, welche 222 soeben den Strauß mit Pfaffen und Feinden der deutschen Einheit beginnen wollte, hatte ihn gänzlich verlassen; er sank so tief in seiner eigenen Achtung, daß er keine Strafe zu groß fand für einen Mann, der, mit Weib und Kind zu Haus, nachts um elf Uhr sich noch in der »Norddeutschen Bundeshalle« befand – denn so spät war es mittlerweile geworden.

»Messing,« begann der Oberst, der, nachdem er das Lokal seiner ganzen Länge nach mit klirrenden Sporen und militärischem Taktschritt durchmessen hatte, vor dem Tisch der auserwählten Geister, der Mainlinie gegenüber, stehenblieb, »Eure Frau hat mir gesagt . . .«

»Ach,« fiel Messing, um weiteres Unheil durch offenes Geständnis abzuwenden, ihm in die Rede, »meine Frau hat recht. Meine Frau hat Gottesrecht, Herr Scharf . . .«

Aber dieser, ohne dem reuigen Gemüt Balsam zu spenden, bemerkte jetzt erst, in welch seltsame Versammlung er geraten war.

»Was geht denn hier vor?« rief er, indem er die finsteren Gesichter und die noch immer geballten Fäuste rings um sich her erblickte.

»Das ist's ja, Herr Scharf,« sagte plötzlich der Klempner in einem ganz veränderten Tone und mit einem solchen Ausdruck von Ernst, als ob durch Erleuchtung von oben ihm jetzt erst auf einmal klar geworden sei, weswegen er sich eigentlich hier befinde. »Sagen Sie das meiner Frau, Herr Scharf; ich bitte Sie, sagen Sie das meiner Frau!« rief er.

Doch der Oberst hatte seines neu geweckten Mutes so wenig acht, als vorhin seiner Niedergeschlagenheit.

»Was habt ihr miteinander, ihr Leute?« wandte er sich an die Gruppe, als ob er jeden einzelnen von ihnen auf das genaueste kenne, wiewohl er in Wirklichkeit sie – mit Ausnahme des Klempners – heute zum erstenmal sah.

»Wär' ich denn sonst so lange hiergeblieben, Herr Scharf?« nahm der Klempnermeister wieder das Wort; »ich bitte Sie, Herr Scharf, sagen Sie das meiner Frau! Bin ich ein Nachtschwärmer oder Zechbruder? Bin ich ein Raufbold? Bin ich ein Gatte, der sein Weib, oder ein Vater, der sein Kind verleugnet? Herr Scharf – ich frage Sie, bin ich ein ehrbarer Mann oder nicht? Aber wer sich an meinem Vaterlande vergreift, der vergreift sich an mir, der vergreift sich an meiner Gattin, der vergreift sich an meinem unmündigen 223 Kinde – und das, so wahr ich Messing heiße! – das laß ich mir nicht gefallen – und deswegen bin ich hier!«

Der Oberst sah ganz verdutzt drein. – »Was soll das heißen, Messing!« rief er in einem barschen Tone, der gut genug gewesen wäre für einen Obersten bei den Herbstmanövern.

»Das soll heißen, Herr Scharf,« erwiderte Messing, dessen Zuversicht in gleichem Verhältnis mit seinem Zorne wuchs . . . »aber wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Scharf?« Und hierauf, an die übrigen gewandt, Widersacher und Parteigenossen, stellte er ihn vor: »Herr Scharf, ein Freund des Volkes, macht sich gerne gemein mit Handwerkern, Gesellen und anderen kleinen Leuten . . .«

»Ja, ja,« bestätigte der Oberst mit steifem Kopfnicken, »das bin ich, das tu' ich und das hab' ich bewiesen!«

»So ist es,« sagte der Klempner, der jetzt Turmuhren, Wanduhren und Taschenuhren schlagen und laufen ließ, was sie wollten, indem er mit einem Ausdruck großer Wichtigkeit fortfuhr, die Gesellschaft miteinander bekannt zu machen. »Dieser hier ist der Hutmachergeselle Karl, hat den Krieg von sechsundsechzig mitgemacht wie ich, ist dicht vor Wien gewesen wie ich, und jetzt zur Gardelandwehr entlassen wie ich. Wir waren immer gute Kameraden . . .«

»Allemal!« sagte Karl, indem er aus seiner trotzigen Reservestellung heranrückte.

»Und da will nun so ein . . .« rief Messing mit einem verächtlichen Blicke auf den Führer der Opposition. – »Aber erlauben Sie, Herr Scharf, dieser hier ist der Altgesell Justus, Justus Haberecht!« und dabei winkte er ihm, näher zu treten, mit den Worten: »Immer 'ran, Justus!«

Der Angerufene folgte zögernd.

»Sehen Sie sich den Mann an, Herr Scharf,« sagte Messing, indem er Justus an der Hand nahm. »Sieht er aus wie ein Mann, der Händel sucht, oder wie einer, der einem anderen etwas zuleide tut? Da meinen sie nun, weil sie drei gegen zwei sind, an dem könnten sie sich auslassen. Aber wir fürchten uns vor keiner Übermacht, wir Preußen, wir, das haben wir ihnen Anno sechsundsechzig gezeigt . . .«

»Und werden's ihnen noch einmal zeigen, wenn sie nicht genug haben,« ergänzte Karl, in die Brusttasche greifend, um im Falle der Not den Beweis seiner Kriegsbereitschaft mit den Pantinen zu führen.

224 Der Streit drohte wirklich aufs neue zu entbrennen. Aber der Oberst legte sich ins Mittel.

»Ruhe, Kinder!« gebot er. »Setzt euch. Schließt Frieden. Trinkt miteinander; heda Wirtschaft!«

»Sieben Gläser Bier für den Herrn Scharf,« interpretierte der Klempner die friedliche Absicht des Obersten; denn es erschien ihm nicht mehr als recht und billig gegen seine Gattin und sein unmündiges Kind, daß er für die Ehre Preußens trinke, nachdem er bereit gewesen, sich für dieselbe zu schlagen.

Der Oberst nahm, als etwas Selbstverständliches, den Präsidentenstuhl am oberen Ende des Tisches in Besitz und der rechte Flügel folgte, Justus Haberecht eingeschlossen. Dieser, als er dem Obersten so nahe gekommen, um ihn genauer erkennen zu können, seinen kurzen Rock, seine Plüschweste, seine enormen Vatermörder und seine rote Nase, fuhr sich unwillkürlich mit der Hand an die Stirne. Ihm war, als ob er ihn früher schon einmal irgendwo gesehen. Er konnte sich nicht besinnen, aber er verwandte keinen Blick mehr von der anziehenden Erscheinung.

Dazwischen sah der Hannoveraner den Bayern unschlüssig an, ob sie die Einladung annehmen oder ablehnen sollten. Aber der Sachse ging mit guter Manier voran. »Es ist egal dieselbe Geschichte,« sagte er, »man mag es machen, wie man will, es kommt alles auf eins heraus!« Mit dieser tiefsinnigen Betrachtung kehrte er zu seinem alten Sitz zurück.

»So, nun ist die Reihe an Euch, Hannoveraner!« sagte der Oberst, indem er den immer noch Grollenden aufforderte, sich zu seiner Linken niederzulassen. »Mit mir dürft ihr dreist anstoßen. Ich bin einmal ein Kurhesse gewesen, und Hessen und Hannoveraner sind Leidensgefährten.«

»Da hat's bei Ihnen wohl auch geheißen: Muß!« spottete der Angeredete.

»Ja und nein, wie Ihr wollt. Ich hätte werden müssen, wenn ich nicht vorher schon aus freien Stücken geworden wäre, was ich bin. Es ist schon manch ein Jahr verflossen seitdem, aber dennoch verstehe ich besser als diese da, was Euch drückt, Hannoveraner! Meint Ihr denn, es sei mir gleichgültig gewesen, als man meinen alten Kurfürsten gefangen nach Stettin geführt hat? Ich werde den Tag nicht vergessen, es war ein Sonntag im Juni, als der Wagen, in welchem er saß, er und seine Tochter – eine so schöne, so 225 gute, so freundliche Dame, ich versichere Euch! – von dem Anhalter Bahnhof nach dem Stettiner Bahnhof fuhr. Der Mann hatte mir niemals etwas Gutes erzeigt; – ja, wenn ich die Wahrheit sagen soll, so waren er und sein Regiment der Grund, weswegen ich mein Vaterland verließ. Aber dennoch war er mit all meinen Kindheiterinnerungen verbunden, und als er so dahinging, so verlassen von allen, so einsam und so traurig, da tat mir das Herz weh, und mir war, als ob ein Stück meiner eigenen Jugend mit ihm dahinginge . . . und in mir summte immer ein altes Lied, welches wir dort in meiner Heimat oft gesungen: ›Und der Kurfürst von Hessen ist ein kreuzbraver Mann‹ . . . und bei Gott, ich mußte an mich halten, sonst hätte ich laut gerufen: ›Hier steht noch ein Kurhesse!‹ – und es regte sich in mir etwas, als ob ich die schwere Maschine, welche den Gefangenen über den Potsdamer Platz schleppte, hätte zum Stehen bringen und meinen Kurfürsten befreien sollen, und wär's auch nur gewesen, um ein dankbares Lächeln von seiner Gefährtin zu erhalten. Aber er ging, und keine Hand hat sich darum geregt und kein Hahn hat danach gekräht – und jetzt sitzen die preußischen Präfekten in seinen und seiner Väter Schlössern zu Kassel und Wilhelmshöhe . . .«

»Genau so wie in Hannover und Herrenhausen,« sagte der Friseur;»und da soll einem das bittere Leid nicht an der Seele zehren, Herr Scharf?«

»Ich verstehe Euch, Hannoveraner,« erwiderte dieser; »es ist eine gar schöne Stadt, Euer Hannover, mit alten Bäumen auf den Wällen, mit Wäldern ringsum und grünen Wiesen und den fernen blauen Gebirgen im Hintergrunde. Ja, ja – was Vaterlandsliebe, was Heimweh, was Sehnsucht ist, das weiß ich auch, Hannoveraner! Aber nun sagt mir einmal, Ihr seid gewiß ein Turner oder ein Sänger und wo nicht, so habt Ihr's doch in der Schule gelernt das schöne Lied: ›Was ist des Deutschen Vaterland‹?«

»Ja freilich,« versetzte der Gesell mit einem Seufzer, »wir haben's manch liebes Mal gesungen, in Feld und Wald und beim schäumenden Becher. Aber wer mag's jetzt noch singen? Wir haben ja kein Vaterland mehr.«

»Oho!« rief der Oberst, »jetzt seid Ihr auf der falschen Fährte. Gebt mir Bescheid auf eine Frage. Nicht wahr, Ihr seid ein guter Hannoveraner?«

226 »Und werd' es ewig bleiben!« beteuerte dieser.

»Aber, wofern Ihr es ehrlich gemeint habt mit jenem Liede, so seid Ihr auch ein guter Deutscher?«

»Ich sollt's meinen,« erwiderte der Gefragte.

»Nun, setzt den Fall, daß es plötzlich hieße: entweder oder! Entweder Hannoveraner oder Deutscher! Was würdet Ihr sagen?«

Der Friseur stutzte.

»Nehmt an, daß es Krieg gäbe, daß der Franzose an den Rhein rückte . . . Was würdet Ihr tun?«

»Der Franzose am Rhein!« rief der Hannoveraner mit einer Art von Triumph, »das wäre ja genau, was wir wünschen – es wäre das beste Mittel, um uns wieder zu unserem Rechte zu verhelfen!«

»Ja freilich, freilich,« stimmte der Bayer zu, »das hat unser Herr Pfarrer auch gesagt!«

»Schämt euch, ihr Männer!« fuhr der Oberst auf, »und ihr wollt Deutsche sein?«

»Lieber französisch als preußisch!« sagte der Hannoveraner.

»Es ist egal dieselbe Geschichte,« murmelte der Sachse.

»Ja, wenn ihr's so nehmt, lenkte der Oberst ein. »Aber das ist falsch. Preußisch sein heißt jetzt deutsch sein; und laßt nur den Krieg kommen – der Franzose wird's euch schon besorgen – dann gilt kein Preußen und kein Hannover und kein Sachsen und kein Bayern mehr – merk dir das, du blauweißgestreifter Grenzpfahl, du! – Dann gilt nur noch Deutschland, und dann heißt es hier und allerorten: Deutschland, Deutschland über alles!«

»Deutschland, Deutschland über alles – über alles in der Welt!« wollten der Klempner Messing und der Hutmachergesell eben anstimmen, indem sie laut mit den Gläsern zusammenklangen. Aber Philipp Krohn trat abermals herzu und bat, sie möchten sich doch um Gottes willen ein wenig mäßigen. Denn diesmal werde sie der Polizeipräsident ganz gewiß hören.

»Mag er!« warf der Oberst hin, »wir werden's erleben, daß er noch mitsingt, er und der ganze Rest, wenn die Zeit gekommen ist.«

»Jetzt hab' ich's!« rief da mit einem Male, wie aus einem Traum emporfahrend, Justus Haberecht. Alle sahen nach ihm hin. Es war das erste Lebenszeichen, welches er an 227 diesem Abend gegeben. Aber unbekümmert um die Aufmerksamkeit, die er erregte und die ihm etwas sehr Fremdes war, fuhr er fort, zum Obersten gewandt: »Sind Sie nicht ein Achtundvierziger? Waren Sie nicht damals der rote Scharf?«

»Das war ich damals und das bin ich noch heut,« erwiderte der Oberst.

»Haben Sie nicht in den Volksversammlungen bei der einsamen Pappel geredet und gesagt: Unser Ziel ist das einige Deutschland und es gibt keinen anderen Weg, es zu erreichen, als die Revolution?«

»Das habe ich damals gesagt und das sage ich noch heute!« gab der Oberst zur Antwort; »und eben weil ich es erkannt und während meines ganzen Lebens daran festgehalten, habe ich mich auch an Preußen angeschlossen. Kinder, in diesem Preußen steckt ein revolutionärer Kern. Der Metternich und die anderen Herren, die haben wohl gewußt, was sie taten, als sie's auseinander reckten und rissen, und wiederum einklemmten und ihm lauter gute Freunde zu Nachbarn gaben, unter denen der Franzose noch der ehrlichste war. Aber wir sind auf gutem Wege, Kinder, wir sind auf gutem Wege! Die Herren haben – dem deutschen Gott im Himmel sei's gedankt – diesem Preußen keine andere Wahl gelassen; sie haben es wahrhaftig dazu gezwungen! Und was die Revolution begonnen, das wird die Revolution auch vollenden – darauf verlaßt euch, so wahr ich der rote Scharf war, bin und sein werde.«

Justus Haberecht, nachdem er sein Wort gesagt, versank wieder in sein voriges Schweigen. Nur ein- oder zweimal noch hörte man ihn vor sich hinmurmeln: »Akkurat so hat er geredet – damals – bei der einsamen Pappel.«

Aber der Oberst, von den Erinnerungen jener Zeit wie von mächtig emporlodernden Flammen umglüht, fuhr fort: »Was wir damals mit unzureichenden Mitteln, vielleicht mit falschen Mitteln versucht haben, das hat ein anderer nun in die Hand genommen, und wenn ihm das Werk gelingt, so wird die Revolution geschlossen; wir Deutsche werden das größte Volk der Erde und Deutschland das leitende Land der Welt sein.«

»Das soll wohl auf Bismarck gehen?« fragte leise der Hannoveraner.

»Das soll es,« bestätigte der Oberst. »Ich gehöre wahrhaftig nicht zu denen, die Anno zweiundsechzig einen 228 Gegenstand ihres Hasses aus ihm machten und Anno sechsundsechzig bewundernd auf den Knien vor ihm lagen. Ich habe niemals weder das eine noch das andere getan; ja nicht einmal so viel, als nur den Hut vor ihm abgenommen. Aber – dennoch, Kinder, wir verstehen uns: er ein Junker, und ich ein Roter; und als er neulich vor dem versammelten Reichstag sich rühmte, daß er es noch fertig bringen werde, die Roten zu gemäßigten Liberalen zu machen – Kinder! – ich will nicht der rote Scharf sein, wenn er dabei nicht an mich gedacht hat. Und als ich ihm heute nachmittag im Tiergarten begegnet bin, er hoch, kolossal, die Gestalt eines Recken, als ob die Verkörperung einer anderen Zeit, einer vergangenen oder einer zukünftigen, an mir vorüberwandle, da zuckte mir's ordentlich in den Fingern, um an den Hut zu fahren. Aber ich habe mich besonnen. So weit sind wir noch nicht miteinander, mein Herr von Bismarck, sagte ich zu mir selber. Und so sah ich ihn dahinschreiten in seinem Soldatenmantel, den Degen an der Seite, die weiße Mütze mit dem gelben Streif tief über den Kopf gezogen, von wenigen erkannt, einsam, aber aufrecht. Rings aus den Büschen und Waldwegen des Tiergartens stiegen Dunst und Nebel auf – aber er ging hindurch, ordentlich leuchtend, bis er endlich vor dem Tore seines Gartens in der Königgrätzer Straße stehenblieb. Hier zog er einen gewaltigen Schlüssel aus der Tasche, und wie er so dastand, mit dem Schwert an der Linken und dem Schlüssel in seiner Rechten, da dachte ich: St. Georg und der heilige Petrus. Und nun, ihr Männer, lasset uns aufbrechen! Es ist Mitternacht!«

In der Tat schlug es eben zwölf vom Turme der benachbarten Kirche.

»St. Georg und der heilige Petrus!« rief der Klempner, der sich erst in diesem Augenblick wieder an seine Gattin und sein Kind erinnerte. »Was wird das zu Hause geben!«

»Gut, daß Ihr mich darauf bringt,« sagte der Oberst; »ich war ja nur darum hergekommen, um Euch eine Botschaft von Eurer Frau zu überbringen.«

»Es ist doch nichts Böses?« fragte bänglich der Klempner, indem er dem Botschafter seiner Frau die Treppe hinab und auf die Straße folgte.

»Durchaus nicht,« versetzte jener, »im Gegenteil. Etwas sehr Gutes. Kommt nur, ich erzähl' es Euch unterwegs.« 229

 


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