Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Die Fahrt ins Elsaß

Endlich, an einem Septembertage, setzte der Eisenbahnzug, in welchem außer den Herren des Komitees auch Grandidier, Glöcklin und Fritz Scharf Platz gefunden hatten, sich in Bewegung. Es ging verhältnismäßig langsam, denn zahlreich waren die Hindernisse, und an vielen Stationen mußte gehalten werden. Man hatte sich einen der Wagen, einen Güterwagen, ganz wohnlich eingerichtet, um darin zu übernachten und die Tage zu verleben. Tische waren darin aufgestellt, Stühle standen umher, die Türen waren zu beiden Seiten aufgeschoben, und ein freundschaftliches, teilnehmendes Verhältnis bildete sich zwischen den Reisenden. Herr Grandidier war den meisten der Komiteemitglieder bekannt, 395 und es erfüllte ihn mit einer freudigen Genugtuung, sich wieder in einer guten Gemeinschaft mit anderen zu fühlen. Das Schicksal Glöcklins bekümmerte alle tief; seine Person und Gegenwart in ihrer Mitte war für sie eine immerwährende Erinnerung an Straßburg und eine beständige Mahnung zur Rücksicht und zur Güte.

Fritz Scharf war, wie überall, so auch hier, bald das Faktotum der kleinen wandernden Gesellschaft; er war der Beobachter, dem nichts entging, und der Sprecher, der alles kommentierte. Er hatte sich einen eigenen Liebesfonds von Zigarren mitgenommen und gewann unterwegs durch reichliche Verteilung die Herzen von Freund und Feind.

An einem späten Herbstmittage hielt der Zug bei Weimar. Der Zugführer sagte, daß man hier einen Aufenthalt von mehreren Stunden haben würde, und Fritz Scharf schlug vor, die Zeit zu einem Besuche der Stadt zu benützen. Das erste, was die Gesellschaft sah, war das Doppelstandbild unserer großen Dichter. Der warme goldene Schimmer der Abendsonne war über ihren Häuptern. Es war ein herrliches Licht in den Bäumen, die nicht weit davon stehen: ein Spielen und Zittern von tausend Funken in dem Laube, das selbst schon in allen Farben des Herbstes glühte. »Dem Dichterpaar Schiller und Goethe, das Vaterland«, las Fritz Scharf an dem Sockel des Monumentes, und niemals wohl hatte dies Wort »das Vaterland« die Herzen der hier Versammelten so mächtig ergriffen als in diesem Augenblick. An dem Dach von Schillers Haus war ein Fahnenstock befestigt, und an dem Dach von Goethes Haus war ein anderer; das Brünnlein gegenüber rieselte, wie es in den Tagen Goethes, wie es gerieselt haben mochte in den Tagen von Auerstädt und Jena. »Du stille Stadt,« sagte Fritz Scharf, »auch deine Heiligtümer haben wir gehütet und bewahrt und gerettet, indem wir siegten!«

Eine milde, sanfte Abendruhe war ausgegossen über den Häusern und den Gärten und den Hügeln ringsum, als der Zug Weimar wieder verließ. Man fuhr die ganze Nacht hindurch, und es war eine herrliche Nacht, und über den Bergen und Tälern Thüringens funkelte der Sternenhimmel.

Am anderen Morgen war man in einer kleinen hessischen Stadt. Ein langer Zug mit Verwundeten hielt auf dem provisorischen Bahnhof vor einem bretternen 396 Stationsgebäude, das nicht viel besser aussah als ein Schuppen. Die Kranken wurden hier gespeist, und viele Bürger aus der Stadt waren tätig, ihnen das Beste zu geben, was sie hatten. Aber doch war es ein trauriger Anblick und mehr noch ein betrübender. Von Frost geschüttelt, von ihren Wunden gequält saßen die einen halb aufgerichtet in ihren abgenutzten Uniformen, während die anderen auf Stroh lagen, mit ihren Soldatenmänteln bedeckt. Teilnahmlos ließen diese noch vor kurzem so kräftigen, jugendlichen Gestalten sich hängen, kaum mit einem Blick aus dem halberloschenen Auge dankend, wenn man ihr Lager zu verbessern oder ihnen sonst eine Freundlichkeit zu erweisen strebte.

»Wohin ist der Enthusiasmus, mit dem sie vor wenigen Wochen so fröhlich hinauszogen? Wohin wird er bei uns sein, wenn dieser Krieg noch lang dauert?« fragte Fritz Scharf, nachdem er mit einigen von diesen Leuten gesprochen. »Ach, nur das Pflichtgefühl wird uns dann noch aufrechthalten, in welchem nichts mehr ist von dem schönen, freudigen Aufwallen! Wer jemals auf einem der Schlachtfelder gewesen, der begreift wohl, was jener Krieg von dreißig Jahren aus unserem armen Vaterlande machen mußte. Denn der Krieg, wenn er unglücklich geführt wird, zerrüttet den Wohlstand, und wenn er glücklich geführt wird, gefährdet er die Sitten der Nation. Welch eine Erbschaft von Roheit hinterläßt er! Er entmenscht die Menschen. Und zu denken, daß dies der Kern und die Blüte unseres Volkes ist, daß die Blutarbeit Tag und Nacht nicht rastet, daß jedem Zug heimkehrender Kranken ein Zug neuer Kämpfer begegnet – und dies alles im vollen neunzehnten Jahrhundert. Mir ist zuweilen, als ob, wer das Antlitz des wirklichen Krieges gesehen, niemals mehr lachen könne.«

Sie kamen nach Frankfurt und dann nach Mainz. Hier sahen sie den Rhein, der in der Sonne eines neuen Morgens schillerte, so duftig und so schön wie nur an irgendeinem anderen sonnigen Herbstmorgen. Unfern der Stadt war das Lager der französischen Kriegsgefangenen. Es war wie eine Phantasmagorie – ein farbenprächtiges, gestaltenwimmelndes Wüstenbild, aber mit dem Hintergrund des Taunus, dem sanften Blau des Himmels und der Lieblichkeit des Herbstes. Landleute mit ihren Gespannen drängten durch die Tore der Festung ein und aus; die Wälle grünten, 397 die Bäume rauschten, und in den Gassen der Stadt, mit Schatten auf beiden Seiten und einem Streifen goldenen Lichtes oben, war eine geschäftige Bewegung. Als unsere Reisenden wieder hinauskamen und den Rhein sahen, wie er breit und friedlich dahinfloß, da sagte einer von ihnen: »Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein!«

Ihre Straße blieb nun immer dicht an den Ufern des Stromes, unter sonnigen Rebgeländen, in deren goldigem Grün manch eine Traube glühte. An freundlichen Städtchen fuhren sie vorüber, mit gesegneten Weingärten und Weinlauben bis dicht hinunter an den grünen Rhein. Hier, auf einem Felsen, stand ein Schloß in Trümmern, dort den Hügel krönte eine bemooste Kirche und zwischendurch unaufhörlich abwärts die Verwundeten, aufwärts die frischen Truppen.

Es war gegen Abend, als sie nach Worms kamen. Hier hatten sie wieder Aufenthalt; braunschweigische und hannöverische Artilleristen waren dort auf dem Perron, und Fritz Scharf machte gleich ihre Bekanntschaft und gab ihnen den Rest seiner Zigarren. In dem Augenblick, wo die Berliner sich in Bewegung setzten, lief der Zug aus dem Süden ein, den sie hier abgewartet hatten, und eine Kunde, die jener mitgebracht, verbreitete sich rasch auf dem Bahnhof. Die Reisenden bemerkten noch, daß sich in der Dämmerung die Menschen zusammendrängten wie bei einer Nachricht von großer Wichtigkeit. »Was ist es?« fragte Fritz Scharf, und der eine von den Artilleristen hatte gerade noch Zeit, ihm zuzurufen, indem er den Arm hoch in die Luft hob: »Straßburg ist unser!«

Mit diesem Worte fuhren sie in die Nacht hinaus und fuhren lange bis gen Mitternacht. Da plötzlich sahen sie den Himmel gerötet und unter dem Scheine desselben auf beiden Ufern des Rheines die Schwesterstädte Ludwigshafen und Mannheim. Feierlich klangen die Glocken hinüber und herüber, und in das Geläute der Glocken hinein tönte der Donner der Geschütze.

»Es ist vorüber,« sagte Glöcklin, wie von einem, der nach langem Todeskampfe gestorben ist; und die Mitreisenden gaben sich stumm und bewegt die Hände. Ihnen allen war, als ob ein Angehöriger von seinen Leiden erlöst sei.

398 Man nahte sich bereits am anderen Tage der Grenze des Elsaß, als an einer der letzten pfälzischen Haltestellen ein junger Mann von äußerst beweglichem Wesen und mit äußerst anheimelndem Berliner Dialekt um die Erlaubnis bat, mitfahren zu dürfen. Er hatte neben sich auf dem Perron ein ganzes Bollwerk von Zigarrenkisten stehen, zusammengebunden mit allen möglichen Dingen, mit Stricken und Bindfaden, mit einem ledernen Gurt und zuletzt mit einer Zuavenschärpe. Das gab dem ganzen Dinge zugleich ein schmuckes und ein feldmäßiges Aussehen. »Straßburg ist über,« sagte er, indem er mit einem Stück Bindfaden zwischen den Zähnen an seinen Paketen schnürte, und ohne Bescheid abzuwarten, hatte er einen Teil seiner Güter im Wagen abgesetzt. »Alles für die Soldaten,« rief er, »wenn die Herren nichts dagegen haben – seit gestern nachmittag fünf Uhr weht die weiße Fahne von dem Münsterturm. Sie werden begreifen, daß man da Zigarren braucht« – und schon war eine zweite Ladung der ersten gefolgt – »alles für die Soldaten – und nun, mit Ihrer Erlaubnis, für die Herren Offiziere das Beste, was man hat, mit Ausnahme der Herren Exzellenzen Generalszigarren, und wenn Sie mir die Ehre antun wollen, so öffnen wir gleich davon ein Kistchen.« Hiermit, nachdem er die Offizierszigarren untergebracht und die Generalszigarren offeriert hatte, schwang er sich selbst in den Wagen und stand alsbald vor Fritz Scharf. »Joseph,« rief dieser, in höchster Verwunderung, »Joseph Fränkel, Sohn meines Freundes Samuel Fränkel in der Heiligengeiststraße! Nein, wie sich so ein Mensch in nicht mehr als zwei Monaten herausmachen kann! Wollen Sie wohl glauben, meine Herren, daß dieser junge Mann noch vor zwei Monaten nicht drei Worte zusammenhängend sprach, ohne rot zu werden, und nun sehen Sie sich ihn an!«

Der junge Mann kratzte sich hinter den Ohren. »Ja, ja,« sagte er, »das war im Frieden; aber jetzt haben wir Krieg. Und wie sagt Schiller? ›Auf sich selber steht er da ganz allein!‹«

Der junge Mann wußte übrigens außerordentlich gut Bescheid in der Gegend, die er sowohl zu Kriegs- als zu Friedenszwecken nach allen Richtungen durchstreift hatte. Das Hardtgebirge, die lachende Landschaft des Pfälzer Landes, das Tal mit Rebenpflanzungen ganz in Frühsonne 399 getaucht und in Tau gebadet, trat zurück, und hier war die Grenze. Noch forderten an dem Stationsgebäude Schilder in beiden Sprachen die Reisenden auf, auszusteigen und ihr Gepäck visitieren zu lassen. »Sie haben nicht nötig, sich zu inkommodieren, meine Herren,« sagte der junge Mann, indem er eine Dampfwolke fröhlich in die Morgenluft hinausblies, »wir brauchen jetzt unsere Zigarren nicht mehr zu versteuern, und hier sind wir im Elsaß.«

Der Zug ging durch eine breite Niederung von Wiesen und über ein schilfbewachsenes Flüßchen, so klein, daß man es unter seinen Büschen und Bäumen kaum erkennen mochte. »Das ist die Lauter,« sagte Joseph und, indem er an die Wagentür nach rechts trat und auf einen Hügel deutete, »das ist der Gaisberg, und dort sind die drei Pappeln.«

Der Bahnhof in Weißenburg war mit Militär besetzt. Bayern lagen hier, und alles ringsum starrte von Waffen. Aber der Ernst und die Furchtbarkeit des Krieges schienen durch die Nachricht von dem Falle Straßburgs gemildert; eine gewisse Sonntagsstimmung, wie vor dem Kirchgang, lag auf den Gesichtern der Soldaten, und in ihrem ganzen Betragen war zugleich etwas Gedämpftes und etwas Fröhliches. Sie sahen alle glücklich aus, aber sie waren nicht laut und lärmend dabei. Wie durch einen Trauerflor schimmerte ihre Freude.

Der Platz vor dem Bahnhof glich einem Biwak, und die Soldaten saßen auf umgestürzten Fässern oder auf roh gezimmerten Bänken in der Vormittagssonne. Doch auch hier waren sie still, und wenn sie von Straßburg sprachen, so geschah es immer in einem gewissen gemäßigten Ton und mit einem Ausdruck von Respekt. Einer von ihnen, ein Pionier, war heute morgen erst von dort hierhergekommen; er hatte den letzten Teil der Belagerung mitgemacht, und sein blauer Rock war vom Wetter und Pulverrauch arg mitgenommen. Aber dennoch und trotz des Helmes, den er trug, erkannte Fritz Scharf seinen Mann.

»Bayer!« sagte er, indem er vor ihn hintrat und ihm ins Gesicht schaute, »seid Ihr nicht einmal in Berlin gewesen?«

Der Pionier sagte: »Freilich!« Aber er konnte sich der Gelegenheit nicht entsinnen, wo der Herr ihn oder er den Herrn gesehen haben mochte. –

»Damals hattet Ihr ein schönes gelbes Haar, welches Euch lang über die Schulter herabhing.«

400 »Freilich,« erwiderte der Pionier, halb geschmeichelt und halb im Tone des Bedauerns, daß er sein schönes gelbes Haar auf dem Altare des Vaterlandes geopfert. »Aber es schadet nichts,« sagte er, »es wird schon wieder wachsen.«

»Das ist gesprochen, wie ein braver Patriot sprechen soll. Erinnert Ihr Euch nicht an jenen Abend bei Philipp Krohn?«

Der Name von Philipp Krohn lebte in gutem Gedächtnis bei dem Soldaten und brachte ihn sogleich auf die richtige Fährte. »Ja, freilich,« rief er, »jetzt fällt's mir ein. Sie sagten damals: ›Kinder, vertragt euch! Die Zeit wird kommen, wo Eintracht not tut!‹ Nun, sie ist gekommen; und wir sind jetzt wirklich alle gute Freunde – der Hutmacher, der damals zuerst auf mich losschlug, und der Klempner, der ihm beistand. Ach, wie manches Mal haben wir zusammengestanden in den Laufgräben, bei stockfinsterer Nacht und bis an die Knie im Wasser. Wenn dann so eine Kugel geflogen kam, dann scherzte der Klempner wohl noch und sagte: ›Kinder, wenn wir jetzt bei Philipp Krohn wären!‹ – ›Ja freilich,‹ sagte ich dann, ›ich komme um vor Durst.‹ – Hierauf, wenn die Kugel geplatzt und wir noch glücklich am Leben waren, zog der Hutmacher seine Feldflasche heraus und sagte: ›Da, Bayer! aber nicht wieder auf die Preußen schimpfen!‹ Worauf ich trank und sagte: ›Niemals wieder!‹«

»Und was wißt ihr von den übrigen?«

»Na, der Sachse, der Tapezierer – Sie wissen ja wohl, der immer den großkarierten Rock trug, der hat den Krieg auch von Anfang an mitgemacht. Ich habe gehört, daß er sich bei Beaumont und hernach bei Sedan gut geschlagen hat, und jetzt wird er ja wohl vor Paris stehen.«

»Da war auch ein Hannoveraner bei Euch, ein Friseur?«

Der Pionier schwieg, und statt der Antwort scharrte er mit der Spitze seines Fußes in dem zerstörten Rasenboden.

»So ist er auch hinausgezogen mit der deutschen Armee?«

»Mit den Füsilieren des 39. Regiments unter dem Generalmajor von François.«

»Trotz seiner welfischen Gesinnung?«

»Ja, lieber Herr,« erwiderte der Bayer mit einem Seufzer, »da wird nach der Gesinnung nicht viel gefragt.«

»Und nun?«

»Nun ruht er schon seit manchem Tag, wo kein Mensch ihn mehr wecken kann.«

401 »Gefallen?« sagte Fritz Scharf, dem die Nachricht auch zu Herzen ging, »bei Spichern?«

»Am 6. August, nachmittags drei Uhr. Er war einer der ersten, welche den Fuß auf die Höhe setzten, und er fiel dicht hinter seinem General. Dort haben sie ihn am anderen Tage begraben, und dort schläft er mit seinen Kameraden – Preußen, Hannoveraner, Kurhessen und Westfalen – alle friedlich beieinander.«

Der warme Mittagssonnenschein lag auf der Stadt und dem Tal und den Anhöhen. Den deutschen Reisenden, als sie hier zuerst den elsässischen Boden betraten, als sie durch die Gassen der kleinen Stadt wandelten und die Leute vor ihren Türen sprechen hörten, war gar nicht, als seien sie in ein fremdes Land gekommen. Alles heimelte sie traulich an, die Landschaft, die Bauart der Häuser, die Sprache. Nur die Gesichter waren finster. Glöcklin sagte zu Grandidier: »Ich muß die Augen niederschlagen vor meinen Landsleuten. Ich glaube stets zu hören, wie sie rufen: »Judas! Judas!««

»Du mußt den Mut haben, es zu ertragen,« erwiderte Grandidier. »Du gehst durch eine schwere Prüfung. Aber du hast zu deiner Seite das Recht der alten Überzeugung. Du hast das Elsaß nicht in der Stunde der Not verlassen, du kehrst vielmehr zu ihm in dieser Stunde zurück. Die Geschenke des Zufalls und der Laune sind nicht für selbständige Naturen. Was diese ihr eigen nennen wollen, müssen sie sich erwerben in hartem Kampfe. Darum sei stark und halte fest!«

Der letzte Teil der Fahrt war wie ein Nachmittagstraum. Man kam durch Wälder, welche tief und mächtig rauschten; von stillen grünen Wiesenplätzen wehte Heugeruch, Dörfer mit weißen Häusern flogen vorüber. Dann wieder unabsehbarer Wald, mit aufgeschichteten Holzhaufen in den Lichtungen. Dort in jener Richtung hatte vor wenigen Wochen die große Schlacht getobt. Da konnte man hier den dumpfen Donner hören, wo jetzt der Wind durch die Wipfel strich und die Lerche ihr Abendlied sang.

Die Sonne sandte schon schräge Strahlen in das Tal, als der Zug sich Wendenheim nahte. Dies war die letzte Station. Der weitere Bahnkörper war zu militärischen Zwecken zerstört und noch nicht wiederhergestellt worden.

Welch ein Kontrast, als man aus den friedlichen 402 Waldregionen auftauchte und nun plötzlich das offene Feld bei Wendenheim vor sich sah – mit zerstampften Äckern, bunt von Uniformen – mit Hunderten von Bauernwagen, dicht zusammengeschoben, Rad an Rad – mit ungeheuren Feuerstellen, mit Werkstätten, mit Haufen von Bomben, mit Scharen von Arbeitern und mit Pulvermagazinen, welche durch einsame Posten bezeichnet waren. Darüber hinaus, in weiter Ferne, hatte man schon im Fahren ein mächtiges Bauwerk unterschieden, welches, über der Ebene emporragend und sie beherrschend, sich scharf gegen den südlichen Himmel abzeichnete. Ein Schrei entrang sich der Brust Glöcklins. »Das Münster von Straßburg!« riefen die Männer, die sich an der offenen Türe des Wagens zusammengedrängt hatten. Beim Rollen desselben hatte niemand von ihnen die Schmerzensäußerung Glöcklins vernommen, außer Grandidier. Der drückte ihm leise die Hand und sagte noch einmal: »Mut! Mut!«

Massen von Soldaten waren am Bahnhof in festlicher Erwartung versammelt, um den Zug aus Berlin zu empfangen; unter ihnen war auch der Gardelandwehrmann Karl, welcher von der Ankunft seines Fabrikherrn bereits in Kenntnis gesetzt worden war. Ein freudiges »Hurra!« begrüßte die Aussteigenden, welche bald von Freunden und Verwandten umringt waren. Sie kannten zuerst die bärtigen Gesichter kaum wieder, so sehr hatte das Lagerleben, der Wind und die Sonne sie verändert. Aber bald gab es ein Fragen nach der Heimat und ein Erzählen, ein Händeschütteln und zuweilen ein herzliches Lachen; ganz Fremde gesellten sich hinzu, bis alle sich verwandt und befreundet schienen. Bei solchen Anlässen ging Fritz Scharf immer mit gutem Beispiel voran; »Kinder,« sagte er, »wir bringen euch frischen Proviant,« und deutete dabei auf Josephs Kisten, von denen er eine sogleich öffnen ließ und den Umstehenden darbot. »Auf meine Rechnung, versteht sich,« raunte er dem jungen Fränkel leise zu. Doch dieser wollte davon nichts hören; »alles für die Soldaten!« rief er und lud sie ein, herzhaft zuzugreifen.

Auf einem freien Platze vor dem Dorfe, unter einer breitästigen Linde war ein Marketenderwagen aufgefahren, neben welchem ein munteres Weibchen stand; im Schatten des Baumes war ein Mann beschäftigt, ein eben 403 angekommenes Fäßchen Bier in die gehörige Lage zu bringen, und nicht weit davon, auf einem Acker, der zwischen tiefen Wagenspuren nur noch hier und dort einiges kümmerliche Grün zeigte, weidete ein Roß, welches offenbar an nichts Besseres gewöhnt war. Es ging ganz zufrieden daher, obwohl es so dürr war, daß die Sonne hätte hindurchscheinen können. Jetzt aber, als die fröhliche Schar vom Bahnhof nahte, hielt es plötzlich in seinem betrübten Tagewerk inne, blieb stehen, spitzte die Ohren und stieß etwas aus, was ein Gewieher sein sollte, trotzdem nur einer es dafür erkannte. Dieser eine war Fritz Scharf. »Es ist der Leutnant!« rief er. »Bei Gott, es ist der Leutnant! Ich höre seine Stimme.« Und dieser Tag, der an Wiedererkennungsszenen so reich war, hatte vielleicht noch keine rührendere gesehen. Er streichelte dem Rosse die Mähne, er klopfte ihm den Hals; und wenn Rosse lächeln könnten, dieses würde gelächelt haben. Es lehnte den Kopf an die Schulter seines ehemaligen Herrn, es schloß für einen Moment seine großen Augen, als ob es sich auf etwas besinnen wolle; und wiewohl es sonst nicht Fritz Scharfs Art war, jetzt hätte er sentimental werden können, wenn nicht zur rechten Zeit das muntere Weibchen dazwischen gekommen wäre. Dem war der Feldzug besser angeschlagen; der Aufenthalt in der freien Luft, der rege Verkehr und vor allem der Umstand, daß sie keine Miete zu zahlen brauchte, hatten entschieden belebend und sogar verschönernd auf sie gewirkt. Sie hatte sich endlich mit ihrem »Schicksal« ausgesöhnt. »Frau Brandt,« rief ihr alter Chambregarnist, indem er sie in ihrem hübschen, etwas koketten Anzug musterte, »das ist ja die wahre Tochter des Regiments!«

»Sagen Sie lieber die Mutter des Regiments,« entgegnete Frau Brandt lachend; »nicht wahr,« und dabei ließ sie ihre dunklen Augen fröhlich über die bärtigen Kriegergestalten gleiten, »ihr alle seid meine Jungens!«

Der schallende Zuruf: »Vivat unsere Mutter Brandt!« bestätigte, daß sie nicht zuviel gesagt.

»Es freut mich,« bemerkte Fritz Scharf, »daß ihr euch hier so nützlich macht. Es ist doch ein anderes Leben als das Lotterleben, welches ihr in Berlin geführt habt.«

»Und wer war schuld daran?«fiel ihm Frau Brandt ins Wort, indem sie zugleich eine verdächtige Bewegung mit der Schulter machen wollte. Doch Fritz Scharf hielt sie 404 zurück. »Bezichtigen Sie niemand anders und danken Sie Gott, daß es so gekommen ist. Ich sehe, daß Sie hier ein hübsches Geld verdienen, halten Sie's nur vernünftig zusammen, damit Sie, wenn Sie nach Berlin zurückkehren, eine neue Wirtschaft damit beginnen können. – Ist denn nicht auch unser ehemaliger Hausgenosse, der junge Klempnermeister, bei der Gardelandwehr?«

»Schade, schade,« versetzte Frau Brandt, »daß Sie nicht ein paar Stunden früher angekommen sind, dann hätten Sie ihn noch sehen können. Sein Bataillon hat bereits Marschorder bekommen. Alles, was sie hier sehen, Mannschaften und Pferde, Kanonen und Mörser, alles ist im Aufbruch nach Paris. ›Frau Brandt,‹ hat er gesagt, als er heute morgen hier in dem Zelte Abschied von mir nahm, ›ich ginge lieber nach Berlin als nach Paris.‹ Da habe ich, um ihn über die traurigen Gedanken hinwegzubringen, gescherzt: daß er sich dann aber erst seinen langen Bart abschneiden müsse, sonst werde sein kleiner Junge Furcht vor ihm haben und ihn nicht küssen wollen. Es half aber nichts, er ward noch trauriger. Endlich faßte er sich und sagte: ›Ja, ja, das ist es eben! Wir tun es für unsre Kinder. Das Vaterland soll Ruhe haben.« Und seine letzten Worte waren: ›Deswegen ziehen wir nach Paris!‹ – Nach Paris, nach Paris! . . .« wiederholte Frau Brandt, und ihre Augen funkelten. »Wie wird die sich ärgern, wenn sie hört, daß auch ich mitmache nach Paris!« Und wieder zuckte sie mit der Schulter; diesmal aber entging sie dem Vorwurfe Scharfs. Denn Herr Brandt war mit seinem Fäßchen in Ordnung und kam jetzt mit dem ersten frischgefüllten Glase zurück. Er sah nicht ganz so schläfrig aus als in dem dunkeln Flur des Hauses in der Krausenstraße; hatte auch weder Bettfedern noch Strohhalme mehr im Haar, und seine Gemahlin erteilte ihm das Lob, daß er gut auf den Dienst passe. Worüber er so vergnügt und zutraulich wurde, daß er das Glas dem Herrn Fritz Scharf kredenzte, welcher nicht weniger tun konnte, als es auf das Wohl der Brandtschen Eheleute zu leeren.

Das Abendrot begann schon über dem Dorfe zu strahlen, als unsere Reisenden demselben nahten. Sie wollten, wie während der ganzen Fahrt, auch diese letzte Nacht in einem von den Packwagen ihres Zuges verbringen; vorher jedoch 405 in Wendenheim Verabredungen für den folgenden Morgen treffen. Denn hier mußten Wagen genommen werden, um weiter nach Straßburg zu kommen. Es war die Zeit der Hopfenernte; und wenn man ins Dorf kam, so hätte man nicht glauben sollen, daß man sich im Kriege und auf einem dem Feinde jüngst erst abgenommenen Boden befinde. Die kleinen, malerischen Bauernhäuser, in der Art derjenigen des Schwarzwaldes gebaut, schimmerten noch von der Wärme des Tages; überall, an den Ecken und Stangen, den hölzernen Treppen und den Vordächern hingen starke Büschel Tabak, Maiskolben lagen zum Trocknen aus, und auf schrägen Brettern duftete der frisch heimgebrachte Hopfen. Vor den Türen, vermischt mit den Frauen und Mädchen des Dorfes, saßen badische Grenadiere, halfen ihnen beim Hopfenzupfen und sangen mit ihnen deutsche Volkslieder, welche sie hier auf der linken Seite des Rheins so gut kannten als drüben auf der rechten.

»Hier noch nicht,« flüsterte Karl seinem Herrn zu, welcher oftmals stehenblieb, sei es, um sich dieser lieblichen Bilder zu erfreuen, sei es, weil sein Herz schwer war. »Wir müssen noch ein halbes Stündchen weiter bis zum nächsten Dorfe.«

 


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