Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Zweites Buch

Die Fremden

Die Fremden kamen an einem Frühlingsabend in Berlin an, und auf dem Anhalter Bahnhof erwartete sie Herr Grandidier.

»Da bist du, Matthias!« rief er, als der Zug hielt und die Tür des Coupés geöffnet ward und die breitschulterige Gestalt des Mannes sich zeigte, den er suchte. Dann half er ihm herab und zog ihn an sich und umarmte ihn, und Tränen traten ihm in die Augen. Der Kamerad seiner Jugend stand vor ihm. Niemals hatte er das Bedürfnis stärker empfunden, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen. »Ich danke dir wahrhaftig, daß du gekommen bist,« sagte er, »mein alter Matthias, mein Bruder.«

Der andere konnte wenig erwidern. Er war zu bewegt und fühlte sich zu fremd. Er war ein Mann wie ein Eichbaum, hoch, stark, stämmig gebaut, aber vom Leben geprüft und vor der Zeit gealtert. Er trug den Kopf ein wenig nach vorne, auf die Brust geneigt; es war in seiner Haltung etwas Gebeugtes, wie von einer Last, die er lange getragen, aber auch Widerstandskraft zeigte sie, die bereit schien, mehr auf sich zu nehmen.

»George,« sagte er zuletzt, in jenem Idiom, welches Herrn Grandidier zugleich fremdartig und heimatlich klang, »ich komme nicht allein –«

Der Ton seiner Stimme war beklommen; aber Herrn Grandidier tat es wohl, sie zu hören – diese Stimme aus ferner Zeit, die mit jenem auf irgendeine geheimnisvolle Weise selber wieder gekommen schien.

»Gott zum Gruß!« rief er in der alten Fröhlichkeit. »Ihr seid alle willkommen, tausendmal willkommen,« und er trat an den Wagen, aus welchem eben eine dunkel gekleidete, leichtverschleierte jugendliche Frauengestalt sich neigte. Er ging ihr entgegen und reichte ihr die Hand zum Aussteigen. Das unsichere Dämmerlicht der Halle war um sie. »Das ist 140 Madame Helene . . .« sagte er. Sie schlug den Schleier zurück und legte den Finger an die Lippe, als ob sie ihm bedeuten wolle, nicht mehr zu sagen. Es war ein bleiches, ovales Gesicht, ganz deutsch in seinem Ausdruck und seiner Färbung und seinen Zügen, sanft und blond, das Ebenbild des Vaters. Sie stützte sich auf den dargebotenen Arm, und Herr Grandidier hob die leichte Last heraus. In diesem Augenblick ward die gegenüberstehende Gaslaterne entzündet und ihr voller Schein fiel auf eine Mädchengestalt in der Türe des Wagens. Sie stand da wie in dem Rahmen eines Bildes, in voller Beleuchtung, und Herr Grandidier, als er sie zuerst wahrnahm, ward so erschreckt, daß er unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Sie war fast noch ein Kind von sechzehn oder siebzehn Jahren und machte, wiewohl für ihr zartes Alter ungewöhnlich entwickelt, einen kindlichen Eindruck. Ihre Gesichtsfarbe war die bräunliche des Südens, ihr Auge voll Feuer, ihre Gestalt fein, biegsam, überaus anmutig in der geringsten Bewegung. Man konnte sie, nach ihrem Aussehen, nur für eine Französin halten. Herr Grandidier wandte den Blick nicht von ihr ab. »Rose . . .« rief er leise, wie in einem Traum befangen. Glöcklin hatte ihn gehört. Er lächelte schmerzlich.

»Sie heißt Bärbel,« sagte er, »meine zweite Tochter.« Sie stieg aus und hinter ihr ließ sich ein munterer Knabe von fünf oder höchstens sechs Jahren sehen, nett gekleidet, wie ein kleiner Pariser, in einem Röckchen von violettem Samt, mit Knickerbockerhöschen, Strümpfen und Schuhen.

»Nous v'là, Maman?« fragte er, indem er die Händchen, die mit hübschen kleinen Handschuhen bedeckt waren, nach der älteren von den beiden Damen, der in Schwarz, ausstreckte.

»Sprich Deutsch,« ermahnte der Großvater ihn, »sprich Deutsch; wir sind jetzt in Berlin. – Oh,« wandte er sich hierauf an Herrn Grandidier, »er spricht recht gut Deutsch, unser kleiner George.«

»Deutsch,« rief Bärbel lachend, indem sie den kleinen Burschen aus dem Wagen hob. Es tat einem gut, sie lachen zu hören; und sie lachte gern und oft und zeigte jedesmal dabei ein paar Reihen allerliebster Zähne unter den leicht aufgeworfenen Lippen.

»Also du heißest George?« fragte Herr Grandidier, indem er sich zu dem Kleinen niederbeugte.

141 »George Grandidier,« gab dieser zur Antwort, mit dem echten Pariser Akzent.

In diesem Augenblick war es, als ob, in den Klang dieser beiden Worte zusammengepreßt, Herr Grandidier noch einmal durchlebe, was, durch viele Jahre getrennt, weit auseinander lag – vergangenes Leid und vergangene Lust, viele Schicksale, viel Glück, vielen Segen, vielen Gewinn, viele Gottesgaben aller Art und zuletzt wieder diesen dumpfen Schmerz, der alles in sich begrub, diesen Makel am Familiennamen, der anfangs nur aus der Ferne gedroht und nun so nahe gekommen war, in sein eigenes Haus und in sein eigenes Herz.

»Er heißt ganz wie du,« sagte Matthias mit jenem trüben Lächeln, das ihm eigentümlich war.

Zum Glück kam jetzt der alte Diener mit dem Hut in der Hand, um die Herrschaften zu begrüßen und ihr Gepäck in Empfang zu nehmen. Dann trat man hinaus auf den Perron, und Herrn Grandidiers schöner Wagen fuhr vor.

An einem solchen Frühlingsabend, einem Abend im Mai, machen die Straßen von Berlin einen sehr angenehmen Eindruck. Die Luft ist dann voll von dem Geruch des Flieders und überall durch das beginnende Dunkel leuchtet das junge Grün oder das Silber der frisch erblühten Kastanien. Der Blick die langen Straßenkolonnen hinunter hat etwas Imposantes, wenn die Dachfirste noch von leisem Abendrot glühen, dem letzten, warmen Scheidestrahl des Tages, wenn die Häuserspitzen mit Balustraden und Zieraten von weißem Stein sich gegen den Himmel abzeichnen, und die Fronten, mannigfach gestaltet, in blauen Duft getaucht, sich in einer malerischen Perspektive verlieren; wenn hier und dort, über Mauern und Bretterverschläge, die Laubfülle quillt, und selbst die Staubwolke, welche der warme Wind aufwirbelt, mit allem, was sich darin bewegt, durch die Glut des Abends in Purpur und Gold verwandelt wird.

»Ah! comme c'est beau!« rief der kleine George.

»Sprich Dytsch!« lachte Bärbel, indem sie den Knaben an beiden Armen schüttelte. »Du Hoßelodel, du Wußele! Gelt, du verstehst mich!«

Und sie lachte wieder, und er lachte mit. Es ward ihr schwer, die Würde der Tante zu bewahren; sie fiel immer wieder in die Rolle der Spielkameradin.

142 Auch Matthias schien angenehm überrascht.

»Du hättest dir wohl etwas Kälteres und weniger Ansprechendes von unserer norddeutschen Metropole gedacht?« fragte Herr Grandidier. »Ja, ja, man kennt Berlin im Auslande immer noch zu wenig.«

»Wenn ein Freund uns darin entgegenkommt wie du,« versetzte Matthias, »dann erscheint uns die Fremde weniger fremd. Es ist gut, wo gute Menschen wohnen.«

Helene senkte den Kopf und zog den Schleier, den der Wind gehoben, fester über das Gesicht.

Als man in die Leipziger Straße bog, war es dunkel geworden und eine schwülere, mit Staub vermischte Luft wehte aus dem Innern der Stadt. Schnellpfeffer ließ die Rosse traben; das steinerne Pflaster klang von ihren Hufen. Doch dicht vor der Friedrichstraße mußten sie Halt machen; eine dichte Menschenmenge sperrte den Weg. Trommeln und Pfeifen klangen und zuletzt kam Musik näher. Es war ein Regiment, das von den Frühjahrsübungen aus dem Tempelhofer Felde zurückkehrte. Die Soldaten marschierten vorüber, Mann an Mann, in festem Schritt und Reihe nach Reihe; dann kamen Reiter, und zuletzt Kanonen und Pulverwagen – alles mit voller Bespannung, von rauschender Musik begleitet und in Dämmerlicht gehüllt.

Nun war der kleine George nicht mehr zu halten. Er reckte sich in die Höhe, seine Wangen glühten. »Ce sont donc les Prussiens!« rief er jauchzend und klatschte vor Vergnügen in die Hände.

»Wenn sie dich welsche hören!« rief zwischen Ernst und Lachen Bärbel, indem sie versuchte, den Knaben auf den Polstersitz zurückzuziehen.

Inzwischen war alles vorüber; die Musik, der Marschtritt der Soldaten, das dumpfe Rasseln der Kanonen, und die Straße war wieder frei.

Die Straßenlaternen wurden angezündet, und wie mit einem Zauberschlage, weit hinunter und weit herauf, rechts und links und geradeaus zogen sich die flammenden Linien.

»N'est-ce pas maman, cela ressemble à Paris?« fragte George, indem er in die Lichter hineinwies.

Seine Mutter war nicht angenehm berührt von dem Vergleich. »Tais-toi enfin!« herrschte sie ihn an, so daß der Knabe ängstlich zusammenfuhr.

143 Doch nicht lange, so regte ihn ein neuer Anblick dermaßen an, daß er nicht schweigen konnte. Durch die Öffnung der Breiten Straße gesehen, an welcher der Wagen jetzt vorüberfuhr, erschien – halb von der Nacht beschattet und halb von großen Kandelabern bestrahlt – der mächtige Bau des Königsschlosses. George wollte etwas sagen, doch er besann sich und flüsterte seiner Freundin und Tante Barbara ins Ohr: »N'est-ce pas, c'est parfaitement comme le Louvre!«

Tante Barbara, zu Haus und im gewöhnlichen Leben Bärbel genannt, legte dem Knaben die Hand auf den Mund, und der kleine Schelm verfehlte die Gelegenheit nicht, den Druck derselben mit einem Kuß zu erwidern. Bärbel lachte, das gute Vernehmen war wieder hergestellt, und zwei Minuten später hielt der Wagen vor einem Hause nicht weit von dem des Herrn Grandidier.

Der erste Stock dieses Hauses war erleuchtet und die Fenster standen auf. Es war ein ziemlich kleines Haus, schmal, mit nicht viel mehr als Dachkammern über dem ersten Stock und mit einer Steintreppe, die von der Seite heraufführte, und einem eisernen Gitter von seltsamer Form und einer Steinbank und einer bejahrten Linde, mitten auf der Straße, vor der Türe.

»Es war für den Augenblick nichts Besseres zu finden,« sagte Herr Grandidier in einem Tone der Entschuldigung, nachdem er ausgestiegen war und seinen Gästen ihre künftige Wohnung zeigte. »Das Beste daran ist, daß es nicht dreißig Schritt von meinem Haus entfernt ist,« setzte er hinzu, indem er Matthias auf das große Gebäude der Brücke gegenüber aufmerksam machte, welches dunkel und verlassen und ungastlich aussah, wenn man es mit diesem kleinen verglich.

»Ich habe keinen anderen Wunsch,« erwiderte Matthias, »als in deiner Nähe zu sein und dir durch treue, dankbare Freundschaft zu vergelten, was du an mir und mehr noch an den Meinen getan.«

»Still, still,« unterbrach ihn Herr Grandidier.

»Es ist ein gar liebes Hüsli,« sagte Bärbel, indem sie das bescheidene Haus mit den immer lachenden Augen musterte. »Die Linde, das Wasser und die Bank – es ist, als ob man gar nicht in einer Stadt wäre.«

Der Klang ihrer Stimme hatte für Herrn Grandidier etwas, was ihn fast mehr als vorhin ihr erster Anblick 144 bewegte. »Das gute Mädchen,« sagte er; »ihr gefällt alles, sie ist mit allem zufrieden.«

»Sie wäre eine Undankbare, wenn es anders wäre,« erwiderte Matthias Glöcklin; »aber du hast recht, sie ist ein gutes Kind.«

Hand in Hand mit dem kleinen George stieg Bärbel zuerst die Steintreppe vor dem Haus und dann die Holztreppe im Haus empor, und hier konnte sie wieder nicht umhin, stehenzubleiben und sich zu freuen und ihrem Vater zuzurufen: »Schau, diese dicken Balken! Ist es nicht, als ob man hier daheim wäre?«

Sie hatte die Eigenschaft, auf den ersten Blick immer das zu sehen, was ihr angenehm und sympathisch war. Es war, als ob der Strahl ihrer Augen die Kraft besäße, den Dingen, auf die er fiel, das Licht und die Wärme und Heiterkeit ihrer eigenen Seele mitzuteilen.

Jetzt waren sie oben, und aus der geöffneten Stubentüre strömte Helligkeit heraus und erleuchtete den Weg, und auf der Schwelle stand Frau Grandidier in einem braunseidenen Kleide mit einer dicken goldenen Kette über der Brust, um die Fremdlinge willkommen zu heißen an dem, was künftig ihr eigener Herd sein sollte. Sie war keine Frau, die mit fremden Leuten besonders redselig gewesen wäre – diese Gabe entwickelte sich erst bei näherer Bekanntschaft – und sie war außerdem nicht recht einig mit sich über den Punkt, ob die Fremden sie verstehen würden. Weswegen sie sich für den Anfang darauf beschränkte, tiefe Knickse zu machen und jedem Eintretenden der Reihe nach die Hand zu schütteln mit einer Herzlichkeit, welche in allen Sprachen dieselbe ist und in keiner der Worte bedarf. Doch sollte sie zu ihrer Freude nicht lange darüber in Ungewißheit bleiben.

»Luise Dorothea,« sagte Herr Grandidier mit einer gewissen Feierlichkeit, »dies ist mein ältester, mein bester und mein treuester Freund, Matthias Glöcklin, dies ist seine älteste Tochter, Madame Helene Grandidier, dies ist ihr Sohn, mein Namensvetter George – du siehst, Luise Dorothea,« setzte er etwas beklommen hinzu, »daß der Name seit zweihundert Jahren in der Familie fortgelebt hat – und dies –« sein Blick heiterte sich wieder auf, als er auf der lieblichen Mädchengestalt ruhte, »dies ist Bärbel, Mademoiselle Glöcklin, Mademoiselle Barbara Glöcklin und du kannst mit allen Deutsch reden.«

145 »Ja, liebe Mama,« rief Bärbel, indem sie, dem ersten Impulse folgend, sich an die Brust der gutmütigen, behäbigen Dame warf, »ich habe mein ganzes Leben lang kaum etwas anderes gesprochen.«

Das Wort »Mama« tat der braven Frau wohl und wehe; es stimmte sie weich und trübe und gab ihr, sie wußte selbst nicht welche frohe Hoffnung.

»Mein gutes Kind,« sagte sie, indem sie das Mädchen fest und liebevoll umschlang und ihr einen Kuß auf die Stirne drückte, welche von dem braunen Gelock wirr und kraus und üppig umspielt wurde.

Helene hatte sich in einen Sessel niedergelassen. Sie war bleich und angegriffen und müde. Man sah ihr ein tiefes körperliches und mehr noch seelisches Leiden an. Sie hatte den dunklen Schleier zurückgeworfen und sie glich nun, von dem Licht der Lampe voll bestrahlt, mit ihrem tadellos schönen, aber unaussprechlich kummervollen Gesicht, ihren blauen Augen, ihrem goldblonden, schlichten Haar und fast durchsichtigen Teint, mit dieser feingeformten Nase, diesem edlen Lippenpaar, um welches stumm und doch beredt die Linie des Schmerzes zuckte, einem jener Madonnenbilder, die mit dem höchsten Reiz der Erscheinung doch kein anderes Gefühl in dem Beschauer hervorrufen als das der Rührung. So war es im Zustande der äußeren Ruhe; doch merkwürdig war zu beobachten, wie die leiseste Bewegung es veränderte, wie jene sanften Züge der Trauer etwas Herbes, Hartes, fast Grausames annahmen, wie dann in den melancholischen Augen ein Feuer und Schein aufblitzte, der unheimlich war, gleich dem Flimmern eines Irrlichts. Ebenso rasch wie er gekommen, verschwand ein solcher Ausdruck, und dann überkam sie wieder jene Teilnahmlosigkeit, welche sie für die nächste Zeit zeigte und welche sie gleichgültig erscheinen ließ für alles um sie her.

Frau Luise Dorothea hatte sich die größte Mühe gegeben, die kleine Wohnung so hübsch herzurichten als nur möglich war. Sie hatte Möbel herüberschaffen lassen aus ihrem eigenen Hause, welches so groß und so weitläufig war, und einen Überfluß von Dingen besaß, weit über ihren Bedarf hinaus, Geschirr und Leinenzeug und Silberzeug und was alles man zu einer Wirtschaft gebraucht. Mit leeren Händen waren die Fremden gekommen, aber sie fanden hier eine 146 Fülle vor, die sie keinen Augenblick mehr empfinden ließ, daß sie Fremde seien. Der Tisch in der Mitte des Zimmers war gedeckt. Blumen standen darauf, hohe Fliedersträuße in Vasen von Porzellan. Eine Bronzeuhr von mächtigem Umfang und altmodischer Form stand auf einem Seitentisch unter dem Spiegel; sie war aufgezogen und zeigte die Zeit auf einem großen weißen Zifferblatt und schlug mit einem silbernen, freundlichen Klange, wenn es voll war, und tickte dann ruhig und friedlich weiter, die Menschen, welche sie hörten, gleichfalls zum Frieden ermahnend. Lampen von gewichtiger Masse und mit Profilen, die gleichfalls auf irgendeine ihnen eigentümliche Weise Zufriedenheit ausdrückten, verbreiteten eine klare Helligkeit durch das ganze Zimmer, in welchem ein Atem und Hauch der Behaglichkeit wehte, der in nicht langer Zeit noch durch einen besonders guten Geruch aus der Küche vermehrt wurde. Denn dort brodelten und schmorten und brieten in den Kasserollen und Töpfen gar angenehme Dinge für das Nachtessen, unter der Obhut einer perfekten Köchin, für welche die gute Frau Luise Dorothea auch gesorgt hatte. Sie war eine musterhafte Gattin und bereit, jeden Wunsch ihres Gemahls auf das genaueste zu erfüllen, jetzt noch mehr als je vorher. Ein dankbarer Blick Herrn Grandidiers belohnte sie reichlich für alle Sorgfalt und Mühe; sie hatte seit jenem unglücklichen Abend ihn nicht so froh gesehen, und sie pries Gott dafür in ihrem Herzen und hatte die Fremden darum noch einmal so lieb, besonders aber Bärbel.

Der kleine George war, mit dem blonden Krauskopf im Schoße der Mutter, eingeschlummert; aber der Eintritt Knüppels, der für diesen Abend die Bedienung übernommen hatte, bis man nächsten Tags auch dafür Abhilfe geschafft haben würde, ermunterte ihn wieder; denn mit nicht geringen Erwartungen hatte er vorhin, und noch zwischen Schlaf und Wachen kämpfend, der Freude des Abendessens entgegengesehen. Augenblicks war er auf den Beinen. Es war eine Art von sensationeller Empfindung für ihn, zum erstenmal in Berlin zu Abend zu essen. Auch sollten seine Erwartungen nicht getäuscht werden. Es war für Berlin die Zeit der Spargel, und man kann sich wohl denken, daß es Frau Luise Dorothea nicht an einem tüchtigen Vorrat hatte fehlen lassen. Ein ganzer Berg der köstlichsten Stangen kam in einer 147 länglichen Schüssel auf den Tisch, und sie erweckten, ohne seinem Appetit deswegen im mindesten zu schaden, aufs neue heimatliche Erinnerungen in dem Knaben. Er war auf dem besten Wege zu finden, daß man, genau betrachtet, in Berlin ebensogut essen könne wie in Paris. Da jedoch bemerkte man in dem Gesicht seiner Mutter jene Veränderung, von welcher oben gesprochen worden, jene Bitterkeit in den Mienen, jenes irre Leuchten in den Augen. Die Wirkung auf George war unverkennbar, er verstummte plötzlich, und auch den übrigen teilte sich eine ähnliche Empfindung mit. Wenn nicht Frohsinn, so herrschte doch eine gewisse gedämpfte Heiterkeit in dem kleinen Kreise, welche durch die Gegenwart Helenens immer wieder unterbrochen ward. Ihre Nähe verscheuchte jede Regung der guten Laune, und selbst Bärbel hielt oft in ihrem unschuldigen Gelächter inne, wenn sie der Schwester gewahr ward. Mit kummervollem Blicke betrachtete sie zuweilen ihr Vater. Ihr Leid war ja das seine, doch selbst er wußte nicht und konnte nicht wissen, wie es unablässig an ihrer Seele nagte und welche Zerstörungen es darin anrichten sollte. Hier waren vier Herzen, alle vier tief getroffen vom Unglück. Aber die anderen hatten noch irgendeine Hoffnung, sie nicht. Um einen Toten zu trauern, der gestorben und begraben war, wäre minder schrecklich gewesen, als um einen, der für die anderen tot, doch für sie noch lebte – den sie noch liebte, den sie niemals aufhören konnte zu lieben – der zu den härtesten Qualen der Hölle verdammt und mit dem sie jeden Augenblick der Qual durchlebte.

Helene, welche sowohl am Mahl als am Gespräch nur kärglich teilgenommen, erhob sich, sobald es mit einigem Anstand geschehen konnte. Sie ging mit dem Knaben, und die Schwester begleitete sie und blieb bis zuletzt bei ihr. Dann kam sie wieder und eine Träne glänzte in ihrem Auge. Doch sie wollte nicht, daß der Vater es sehe, und ihre glücklich gestimmte Natur kam ihr bald zu Hilfe.

Nicht lange darauf sagte Frau Luise Dorothea, sie wolle noch einmal im Hause nachsehen, ob alles in der rechten Ordnung, und Bärbel war gleich wieder bereit, ihr auf diesem Gange zu folgen, der so recht nach ihres Herzens Neigung war. Denn ein wirtschaftlicher Zug war in ihr; er hatte sich aus der Liebe zu den Puppen und deren kleinen Haushaltsgegenständen fast unmerkbar entwickelt und auf die 148 Bedürfnisse des wirklichen Lebens übertragen, denen sie nun wiederum etwas von der leichten und spielenden fröhlichen Art jener Kinderwelt lieh. Sie wurde mit allem rasch fertig, und es stand ihr alles gut. Sie war äußerst beweglich, und es schien, als ob sie nimmer müde werden könnte. Sie strich sich die Ärmel in die Höhe, so daß man die zarten und doch kräftigen weißen Arme sah, sie schürzte das Kleid ein wenig herauf, und sie strich das etwas widerspenstige Haar über die Stirne zurück. Frau Luise Dorothea hatte recht ihre Freude daran; die beiden vergnügten sich überhaupt sehr miteinander, wie sie zusammen prüfend durch die Stuben gingen, dann in die Küche kamen und zuletzt in die Vorratskammer; sie fanden, daß sie sich zur Not zwar verstehen könnten, daß sie aber eigentlich fast für jedes Ding einen verschiedenen Namen gebrauchten, daß Bärbel zum Beispiel als »a Haf'n« ansprach, was Frau Grandidier Zeit ihres Lebens nur einen Topf genannt, und daß jene sich ihre »Zöpf'« festnestelte, als diese sie darauf aufmerksam machte, daß eine von ihren Haarflechten sich gelockert habe. Jeden Augenblick blieben sie stehen, und jeden Augenblick hatte sie sich über irgendein Wort oder einen Ausdruck zu verständigen, und zuweilen mit vieler Mühe oder überhaupt ohne Erfolg. Denn Frau Luise Dorothea hatte niemals einen Elsässer oder eine Elsässerin sprechen hören, und Bärbel, mit Ausnahme des Herrn Scharf, der nur wenige Tage in Straßburg gewesen, niemals einen Berliner. Wenn sie Französisch sprach, so war sie von der besten Pariserin nicht zu unterscheiden; aber ihr Deutsch war das Patois der Straßburger, nicht besser und nicht schlechter. Indessen gefiel der guten Hausfrau das fremdartige, gemütvoll klingende Geplauder des Mädchens, es machte, sie wußte selbst nicht warum, Eindruck auf ihr Herz, sie konnte sich nicht satt daran hören und sagte zuletzt, daß es ganz reizend sei; wogegen Bärbel aufrichtig genug war, zu bekennen, daß ihr Frau Luise Dorotheas Sprache wie »a narrechde Sprach« vorkäme; sie wolle sich aber schon rechte Mühe geben, sie zu lernen.

»Gutes Kind,« sagte Frau Grandidier, ganz gerührt, aber vielleicht auch – in Erinnerung an frühere Differenzen ihres ehelichen Lebens – mit dem leisen Gefühl, daß dem Mädchen in dieser Hinsicht eine bessere Lehrerin zu wünschen sei.

So gingen sie miteinander, und je weiter sie sich von dem Zimmer entfernten, in welchem Herr Grandidier und 149 Matthias Glöcklin saßen, um so stiller ward es darin, und nur noch dann und wann ward das Lachen Bärbels gehört.

»Wie sie der Mutter gleicht,« sagte zuletzt Herr Grandidier, welcher, solange sie gegenwärtig gewesen, nicht aufgehört hatte, das Mädchen anzublicken, und dessen Gedanken, seitdem sie nicht mehr in der Stube war, sich nur mit ihr beschäftigt zu haben schienen.

»Sie ist alles,« erwiderte Matthias mit einem Seufzer, »was mir von Rose geblieben . . . sie und hier –« er legte die Hand auf das Herz, »der Schmerz um sie . . .«

»Rose,« sagte Herr Grandidier mit bewegter Stimme, »sie ist seit Jahren tot und ich habe es erst vor wenigen Wochen erfahren . . .«

»Sie starb,« fuhr Matthias fort und blickte zu Boden, »wie sie gelebt, treu, rein und gut – noch im Tode jenes sanfte Lächeln bewahrend, mit welchem sie Leid und Elend und Kummer getragen, ja verschönt hatte bis an ihr Ende. Dieses Lächeln zu sehen, war mein Glück und mein Trost – und nun ist es dahin . . .« Er sprach wie in einem Selbstgespräch und als ob die Dinge gestern erst geschehen wären. Dann aber besann er sich und wandte sich wieder an den Freund. »Und du hast in all der langen Zeit sie nicht vergessen?«

»Vergessen?« rief Herr Grandidier mit einem gewissen Vorwurf im Tone.

»Oft,« nahm Matthias das Wort, und es war, als ob er nicht von etwas lange Vergangenem, sondern von etwas Gegenwärtigem rede, von etwas, das noch zu geschehen habe, »oft habe ich bei mir gedacht, daß es besser gewesen, wenn es anders gekommen wäre, als es gekommen ist. Daß es besser gewesen, sie wäre nicht mit mir gegangen, daß es besser gewesen, sie wäre mit dir gegangen . . .«

»Matthias!« unterbrach ihn Herr Grandidier, »laß die Toten ruhen!«

»Ja,« versetzte Matthias leis, aber fest, »sie ist tot. Doch sie könnte leben, wenn sie nicht mit mir gegangen. sie würde leben . . . sie war noch so jung und so schön . . . o George, noch so schön wie an jenem ersten Tage, wo wir sie zusammen in dem Haus ihrer Eltern gesehen!« Er stützte die Arme auf den Tisch und sprach weiter, indem er die Stirn mit der Hand bedeckte, »das ist es, was an meinem Herzen zehrt. Das ist der Grund von allem – von allem, was mich betroffen!«

150 Es war ein schwerer Augenblick für Herrn Grandidier. Doch er nahm sich zusammen. »Es sollte so kommen,« sagte er, indem er die Schulter des Freundes leicht berührte. »Du hast keine Schuld, und ich habe keine Schuld, und wir alle haben keine Schuld. Es war Bestimmung.«

»Mein Gott, ja –« gab jener zurück, rascher als zuvor. »War es auch Bestimmung, daß der Freund dem Freunde den Weg vertrat? Daß er ihn verriet – daß er ihm das Liebste nahm?«

»Du hast es mir nicht genommen,« erwiderte Herr Grandidier, und ein trübes Lächeln flog über sein Gesicht, und in der lebhaften Erinnerung an der Jugend Leid und Lust schien etwas von der Jugend selber in die Züge des Alternden zurückzukehren. »Es war niemals mein.«

»Doch hättest du's gewinnen können,« fiel der andere ein, indem Ton und Wärme seiner Rede sich steigerten. »Du hattest sie vor mir gekannt, du hattest sie vor mir gesehen, du hattest sie vor mir geliebt. Du warst es, der von mir so viel zu loben und zu rühmen wußte, bis man auch mich freundlich empfing in dem kleinen Haus in der Rue du Marché Neuf; du brachtest mich dorthin in das Haus der Verwandten; du sagtest mir, daß du der kleinen Freuden und Zerstreuungen im traulichen Familienkreise nicht froh werden könntest, wenn du mich indessen allein und einsam in der großen, fremden Stadt wüßtest – so sehr übertriebest du die Dankbarkeit für etwas, was jeder andere Mann an meiner Stelle wohl auch getan haben würde – ja, nicht einmal an der Nähe des schönen und geliebten Mädchens wolltest du dich erfreuen ohne mich – so groß war deine Freundschaft und dein Vertrauen, das ich mißbraucht . . .«

»Aber dich hat sie geliebt!« unterbrach Herr Grandidier die heftige Selbstanklage des Freundes; und dieser schwieg eine Weile, versunken in die Bilder und Träume einer vergangenen Zeit.

»Weißt du noch,« begann er hierauf, »denkst du noch an jenen Sommerabend? Wir saßen draußen am Abhang des Hügels, nicht weit von den Feldern, Rose, ihr Bruder, du und ich. Es war ein Sonntagabend und die Luft balsamisch von dem Geruch des Jasmin, der dort in voller Blüte steht, und von tausend Blumen außerdem, die unter den Hecken wachsen. Der Wind, wenn er über die Wiesen wehte, brachte 151 eine angenehme Kühle mit sich, und die Glocken aus den Dörfern läuteten, und das Abendrot war über den Bergen. Du saßest neben Rose, und Rose hatte den ganzen Schoß voll Kornblumen, welche wir zusammen gepflückt, als wir den Weg von Sceaux gekommen, der durch die Felder führt. Sie flocht einen blauen Kranz daraus und setzte sich ihn, als er geschlossen war, ins dunkle Haar. Du schautest sie mit Entzücken an, und dann standet ihr auf und wir anderen standen auf, und wir gingen weiter, der Stadt entgegen, ihr beiden voran. Es tat mir weh – denn ich liebte damals das Mädchen schon, ich hatte es geliebt vom ersten Augenblick an, da ich sie gesehen – aber da wünschte ich, wünschte ich mit aller Kraft, die in mir war, daß du glücklich werden, daß du sie besitzen, daß du dich ihr erklären möchtest . . .«

»Ich tat's,« erwiderte Herr Grandidier. »Es war in jenem Heckengang, mit Weißdorn zu beiden Seiten. Ihr waret weit zurück und wir waren allein unter dem stillen, dunklen grünen Laub, das sich über uns dicht zusammenwölbte. Da war's, wo ich um ihr Herz warb und wo sie traurig stehenblieb und mich ansah und zur Antwort gab: ›Armer George, es ist zu spät!‹ . . . Weiter sagte sie nichts.«

»Und du?« drang Matthias in den Freund, als ob er von ihm irgendein Wort hören wolle, welches ihn vor sich selber entschuldigen möge.

Doch Herr Grandidier fuhr ruhig fort: »Ich schwieg. Schweigend gingen wir nebeneinander her, bis wir das Freie wieder erreicht, und da war es Nacht geworden und über uns, grad über uns im blauen Himmel stand der Abendstern.«

»Acht Tage später hattest du Paris verlassen . . .

»Was hätte ich Besseres tun können?«

»Aber ich, ich hätte mich deines Vertrauens nun würdig zeigen, ich hätte ein Mann sein und entsagen und da nicht besitzen sollen, wo der Freund – Gott weiß, unter welchen Schmerzen – entbehren mußte . . .«

»Doch Rose . . . denkst du nicht an Rose?« suchte Herr Grandidier ihn mit jenem Takt des Herzens zu beruhigen, welcher bei einem widerspruchsvollen Charakter, wie der dieses Mannes, vorhanden sein kann, auch wenn er sich nicht immer, ja nicht einmal oft auf der Oberfläche zeigt und welcher in diesem Momente noch obendrein von einem ehrlichen und wahren Gefühl unterstützt wurde.

152 Matthias Glöcklin erhob sich. »Wie sehr ich sie auch geliebt,« sagte er mit immer zunehmender Befangenheit, »wie glücklich ich auch mit ihr gewesen – der Gedanke an dich hat mich doch nie verlassen; immer wieder, an den Wendepunkten meines Geschicks, stand er vor mir. Er hielt mich ab, eine Verbindung mit dir wiederherzustellen oder zu suchen, die meine Seele doch wohl erleichtert und befreit haben würde, und er läßt mich auch jetzt nur tief beschämt eine Wohltat aus deiner Hand annehmen, die ich nicht zurückweisen kann . . .«

»Sprich nicht davon, Matthias,« wehrte Herr Grandidier ab, »sprich nicht davon. Es ist eine Wohltat für mich vielleicht mehr als für dich . . .« Er hatte mehr sagen wollen; aber er unterbrach sich, und ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust. Und die beiden Freunde sahen sich an, und erst jetzt schienen sie zu bemerken, indem der Blick des einen fest und teilnahmsvoll auf den Zügen des anderen ruhte, wie sehr sie sich verändert hatten. Sie hatten, ein jeder von ihnen, das Bild des anderen in der Erinnerung bewahrt, wie es vor beinahe dreißig Jahren gewesen. Inzwischen aber hatte die Zeit tiefe Furchen in die Gesichter gegraben, und nur noch ein gewisser allgemeiner Ausdruck der Ähnlichkeit, als ob der Mensch von heute der weitläufige Verwandte des Menschen von damals sei, war geblieben. Die blauen Augen des einen hatten ihre frohe Lebendigkeit verloren und die dunkelbraunen des anderen ihren Glanz; die blonden Haare Glöcklins waren spärlicher geworden, und die braunen Herrn Grandidiers gebleicht um die breite Stirn. Diese Dinge waren naturgemäß, langsam und unmerklich vor sich gegangen; aber jetzt bemerkte sie jeder mit Schrecken in der Erscheinung des anderen. Niemals war Herrn Grandidier das Bild der Jugend wieder so nahe getreten als in diesem Augenblick, wo Namen genannt worden, die er jahrelang nicht mehr gehört, und Szenen vor ihm erstanden mit einer Frische, wie wenn er sie noch einmal durchleben solle. Niemals aber auch ward dieses Bild hoffnungsloser zerstört als jetzt, wo er die gebeugte Gestalt und das von Jahren und Leiden hart mitgenommene Gesicht Glöcklins vor sich sah. Wehmut überkam ihn, Mitleid – wer hätte sagen mögen, ob mit dem anderen, ob mit sich selber? – als er die hagere, knochige Hand des ihm noch immer Gegenüberstehenden ergriff und mit unverkennbarer 153 Bewegung sagte: »Wir wollen ein neues Leben anfangen, Matthias, wir wollen im Alter Freundschaft halten, wie wir's einstmals in der Jugend getan, und wir wollen vergessen, was dazwischen liegt.«

»Vergessen!« entgegnete Glöcklin, »wer es könnte! Vergessen, daß ich ohne Vaterland bin, ein Heimatloser; vergessen, daß ich am Abend meines Lebens, anstatt der Ruhe zu genießen, die ich so gut verdient hätte wie irgendein anderer, noch einmal von vorne beginnen muß – daß ich diese Stirn, die ich rein bewahrt im Kampfe mit allen Geschicken und allen Versuchungen, daß ich diesen Blick nicht mehr frei erheben darf – vergessen, daß das Kind meiner Tochter, daß mein Enkel die Züge eines Verbrechers trägt . . .«

»Versteh mich doch,« beruhigte Herr Grandidier den Jugendfreund; »das alles liegt weit hinter dir. Hier bist du auf einem neuen Boden, der nichts von deiner schmerzlichen Vergangenheit weiß und dich nicht daran erinnert. Der Mensch vermag viel, wenn er nur ernstlich will; und es gibt gewisse Dinge, die man vergessen muß!«

»Du hast recht,« erwiderte Glöcklin; »aber du weißt nicht, wie schwer es ist! Du bist immer glücklich und des Glückes immer wert gewesen. Dir hat sich das Schicksal niemals in jener entsetzlichen Gestalt gezeigt, welche so furchtbar ist, daß man zuerst nicht einmal daran glauben kann. Aber es ist da – da steht es; du bewegst es nicht von der Stelle – sei fügsam oder trotzig, empöre dich oder trag' es in Geduld – du kannst ihm nicht ausweichen, es trifft dich mit ausgesuchter Grausamkeit da, wo es dir am wehesten tut – und nun sprich mir von menschlicher Kraft –« Glöcklin lachte bitter – »und nun sprich mir von dem Willen des Menschen!«

Das Gespräch hatte eine Wendung genommen, welche sichtbar auf Herrn Grandidier eine Wirkung ausübte, die Glöcklin weder beabsichtigt hatte, noch vermuten konnte. Doch es entging ihm nicht, daß während seiner letzten Worte der andere sehr blaß geworden.

»Verzeih,« rief er, »daß ich mich habe fortreißen lassen. Das Wiedersehen mit dir hat in meiner Brust noch einmal aufgewühlt, was ich besser darin hätte ruhen lassen. Es ist alles noch so frisch, und jede Berührung schmerzt. Aber ich bin deiner Teilnahme gewiß, Zeit und Arbeit werden mir helfen und die Betrachtung geordneter Zustände auch mich 154 in die rechte Bahn zurücklenken. Du hast zwei Töchter, die mit Ehrenmännern vermählt sind. Du hast einen Sohn, welcher . . .«

Immer mehr, während Glöcklin gesprochen, hatte sich das Antlitz Grandidiers verfinstert, bis jede Spur seiner natürlichen Freudigkeit daraus entwichen; und als jetzt der Name genannt worden, den zu hören er lange gefürchtet, da war etwas so Starres, Erbarmungsloses und Steinernes darin, daß jener es kaum wieder erkannte. Jetzt schien es ihm in der Tat ein anderes Gesicht zu sein. Doch noch immer war er ohne Ahnung des eigentlichen Grundes und er fuhr in dem früheren Tone fort: »Ich habe zwar deinen Sohn nicht gesehen; aber Herr Scharf, den er auf der Reise nach Paris bis Forbach begleitete, hat mir von ihm erzählt . . .«

»Was hat er dir erzählt?« unterbrach ihn Herr Grandidier.

»Daß dein Sohn sich nach Paris begeben habe, um sich dort zum Maler auszubilden,« war die Antwort.

»Hat Herr Scharf dir nichts weiter gesagt?«

Glöcklin verneinte.

»Er hätte besser getan, dich vorzubereiten. Du würdest dann vielleicht diesen Gegenstand nicht berührt haben.« Hierauf, mit einer Kälte, die Glöcklin durchschauerte, setzte Herr Grandidier hinzu: »Ich hatte einen Sohn, aber ich habe keinen Sohn mehr.«

»Um des Himmels willen!« rief Glöcklin, in der Seele bewegt, »es ist ihm doch unterwegs kein Unglück zugestoßen?«

»Laß!« erwiderte Herr Grandidier ablehnend, aber mit einer Ruhe, die der ehrliche Glöcklin noch weniger begriff. Das Herz des merkwürdigen Mannes, das so weich gewesen gegen die Schatten der Vergangenheit. schloß sich so hart und unerbittlich gegen die Wirklichkeiten des Lebens, die doch ein näheres Recht an dasselbe gehabt hätten, daß man nicht einmal etwas von der Pein gewahrte, die ein solcher Kampf verursachen muß. Die Erfahrung lehrt, daß man dergleichen zuweilen bei schwachen und selbstsüchtigen Naturen findet, die nicht recht lieben und nicht recht hassen können, und beides, Haß und Liebe, ohne besondere Schwierigkeit aufzugeben vermögen. Allein, wenn auch selbstsüchtig, schwach war Herr Grandidier nicht, und selbstsüchtig auch nur in einem gewissen Sinne. Denn er hatte den Sohn mehr noch geliebt als sich selbst.

155 Die Haltung Grandidiers schnitt jede Erklärung ab; und es würde auch nicht Zeit dazu gewesen sein, selbst wenn Glöcklin eine solche gewünscht hätte. Denn jetzt trat Frau Luise Dorothea mit Bärbel wieder zu den beiden Männern herein. Das Mädchen glühte vor Eifer und Freude.

»Du, Vater,« sagte sie, sich gleich beim Eintreten an diesen wendend, »es ist ein gar liebes, kleines Haus. Darin ist gewiß gut wohnen; und alles ist so dicht und heimlich beieinander, aus einer Stube geht man in die andere, und in einer, wo man in ein sauberes Gärtchen hinabschauen kann, ist die Lene mit dem George. Sie schlafen beide schon und wenn ich nichts weiter von dem Haus wüßt', ich hätt' es gern, weil die Lene hier endlich ihren Schlaf wiedergefunden. Wie lange hat sie die Augen nicht geschlossen! Aber das schönste von allem, das ist doch die Küche. Die solltest du sehen, Vater – wie das Feuer brennt auf dem Herde und wie der Herd mit Kacheln ausgelegt ist, und wie die Wände glänzen von Porzellan und Messing und Kupfer, von Tiegeln, Pfannen und Töpfen – Töpfen,« wiederholte sie mit Nachdruck, indem sie wie in verstohlenem Einverständnis Frau Luise Dorothea zunickte; »und spaßig ist's,« fuhr sie gleich weiter fort, »wie sie hier fast für jede Sach' einen anderen Namen haben. Weiß du noch, Vater, wie sie vor zwei Jahren bei uns daheim den Pfingstmontag aufgeführt – und Mademoiselle Böhm, die das Lissel und Mademoiselle Noiriel, die das Christinel spielte, ihre Not gehabt haben, den Herrn Mediziner Reinhold von Bremen zu verstehen – ich mein' natürlich im Stück, und wo eins immer nicht weiß, was das andere sagt, obgleich sie sich doch im Herzen recht sehr liebhaben? Genau so ist's!«

Bärbel schwieg. Eigentlich nur, um Atem zu schöpfen und alsbald wieder von vorne zu beginnen. Denn sie war noch lange nicht fertig mit der Aufzählung der Gegenstände, die ihre Bewunderung erregt und ihr Lob verdient hatten. Es war noch eine ganze Reihe davon übrig. Allein der Vater, der schon einige Male vergeblich versucht, den Redestrom seines Töchterleins zu hemmen, benutzte jetzt die Pause, um ein Wort einzulegen.

»Endlich!« rief er in einem verweisenden Tone; »du siehst doch, Bärbel, daß wir nicht allein sind!«

Bärbel geriet in Verwirrung. Sie sah hin, sie sah her, 156 dann strich sie das Haar hinauf – denn ihr Haar oder wenigstens ein Löckchen ihres Haars hatte immer die Neigung, mochte sie's ihm wehren, soviel sie wollte, auf ihrer Stirn zu tanzen – warf die Flechten zurück – denn auch diese zeigten ein besonderes Vergnügen, dem Mädchen zum Trotz immer da zu sein, wo sie nicht sein sollten – und dann, ein wenig ärgerlich – denn welches Mädchen wäre nicht ärgerlich über so ein rebellisches Haar und solch eigensinnige Flechten! – ein wenig verlegen, ein wenig schüchtern und scheu näherte sie sich Herrn Grandidier und sagte: »Ich bitt' um Verzeihung, wenn ich's verfehlt hab'; ich habe nur sagen wollen, daß alles so schön ist und daß mir alles so gut gefällt, und daß ich Ihnen so dankbar dafür bin, Herr Grandidier, so dankbar!«

Errötend, das zierliche Köpfchen geneigt und von den braunen Flechten umrahmt, welche genau wußten, wie sie dem hübschen Mädchen am besten zu Gesicht saßen und demgemäß verfuhren – so stand sie vor ihm; und es war merkwürdig, den Eindruck zu beobachten, den sie auf Herrn Grandidier machte. Langsam, als ob ein dunkles Gewölk verziehe, heiterten seine Mienen sich auf, und man konnte verfolgen, wie sie hell und warm wurden von einer Zärtlichkeit, die gleichsam von innen herausstrahlte. Mit leisem Druck ergriff er die feingeformte Hand des Mädchens und ging mit ihr zu seiner Frau.

»Liebes Kind,« sagte er dann, »bei dieser mußt du dich bedanken. Sie hat alles getan, was dich so sehr erfreut; und sie hat es getan, weil sie wußte, daß sie zugleich mich damit erfreuen würde. Habe sie recht lieb, mein liebes Kind, denn sie verdient es . . .« Nur mit Mühe sprach Herr Grandidier weiter, denn seine seltsame Rührung bemächtigte sich seiner, wie er sie nie zuvor empfunden und die er nur schwer niederkämpfte. »Sie hat viel um mich gelitten, ohne daß jemals ein Wort des Vorwurfs oder der Klage über ihre Lippen gekommen wäre. Still und treu und geduldig hat sie Nachsicht mit mir geübt, wenn ich ungerecht gegen sie gewesen; und ich fürchte, daß es nur allzu oft geschehen ist. Es hat lange gedauert, bis wir uns so recht zueinander gefunden, aber ich traue zu Gott, daß wir uns auf Erden nicht mehr verlieren werden, und auch dann nur, um für immer vereinigt zu sein draußen vor dem Oranienburger Tor.«

157 Er hatte die Hand des Mädchens losgelassen und zog jetzt seine Frau fest an sich, welche zuerst mit Staunen, dann aber, wiewohl schon in den Fünfzigen, mit einer Art von bräutlicher Scham das Geständnis des Mannes vernahm, auf welches sie so wenig vorbereitet gewesen. Sie fühlte, wie seine Brust sich stärker als sonst hob und senkte, sie hörte, wie er das Schluchzen gewaltsam bekämpfte, und obwohl sie den Zusammenhang nicht ahnte, so hätte sie doch keine Frau und am allerwenigsten die gute Frau Luise Dorothea sein müssen, um nicht aus voller Seele mit ihm zu sympathisieren. Das Weinen war nicht ihre Gewohnheit und sie gab sich auch heute keine besondere Mühe darum, aber ihr ward wohl und wehe – sie wußte nicht, was von beiden mehr. »Schorse!« rief sie – dieses Wort stammte noch aus der Zeit ihrer ungebildeten Jugend und es kam ihr in solchen Momenten der Selbstvergessenheit immer wieder in den Mund, aber der mannigfachen Vorwürfe gedenkend, die sie darüber schon von ihrem Manne geerntet, verbesserte sie sich rasch und sagte »George!« Sie hätte gerade jetzt ihm nicht gern einen Grund zur Unzufriedenheit geben mögen. Allein so milde gestimmt war das Herz des Herrn Grandidier, daß nicht einmal ein Verstoß gegen die Sprache seiner Väter ihn erzürnte, und das war für Frau Luise Dorothea ein Zeichen, wie sie es bisher noch nicht erlebt. Mit großer Sicherheit beschloß sie daher ihren angefangenen Satz, indem sie sagte: »George, du übertreibst. Es ist niemals so schlimm gewesen, es hätte noch viel schlimmer sein können.«

Es war nicht das gescheiteste, was unter solchen Umständen gesagt werden mochte, allein Frau Luise Dorothea fiel nichts Gescheiteres ein, und Herr Grandidier war damit zufrieden. Er wurde sogar noch ganz lustig und meinte, Bärbel soll ja sehen, daß sie einen schönen Traum habe, denn was man in der ersten Nacht unter einem neuen Dache träume, das gehe gewöhnlich in Erfüllung.

»Ich wüßt' schon einen Traum, den ich haben möcht',« versetzte sie darauf, und als man in sie drang, zu sagen, was es sei, gab sie zur Antwort: »Nein, das behalt' ich für mich.« Auf der Treppe, als Herr Grandidier und seine Frau im Fortgehen begriffen waren, rief sie ihnen nach: »Vielleicht erfahrt ihr's doch noch einmal,« und so trennte man sich nach den ernsten, zum Teil erschütternden Gesprächen, die dieser 158 Abend mit sich gebracht, in guter Laune. Das alternde Ehepaar schritt Arm in Arm dahin. Durch die kleine Linde vor der Tür, am Wasser, wehte der lauliche Maiwind, ein Licht nach dem anderen erlosch rings um das Ufer, zuerst von einem Turm und dann vom anderen, jetzt näher, jetzt ferner schlug es elf, und jetzt klang sanft durch die Nacht heran aus der Klosterstraße das Glockenspiel von der Kirche. Herr Grandidier blieb eine Weile stehen, und seine Frau sandte stumm, aber aus tiefstem Herzen ein Gebet hinauf zu Gott für einen, dessen Namen sie nicht mehr nennen durfte, aber ohne den es doch kein Glück hienieden gab, weder für sie, noch für den Mann an ihrem Arm. Dann setzten sie still ihren Weg fort und betraten heiterer, als seit lange geschehen, ihr Haus. Aber als sie durch die weiten, hallenden Räume gingen, deren Wände jeden ihrer Fußtritte zurückgaben und sonst nichts, da warf sich Herr Grandidier in einen Sessel und fast in dem alten harten Tone rief er aus: »Ich halt's nicht mehr aus in diesen Zimmern!«

 


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