Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Der Oberst und die Seinen genießen die Gastfreundschaft des Hauses

»Nun müssen Sie aber auch Abendbrot mit uns essen,« sagte Herr Grandidier, als der Oberst Miene machte, sich zu verabschieden. »In der Tat, Sie müssen. In der Stimmung, in welche mich Ihre Nachrichten versetzt haben, würden Sie mir fehlen; bleiben Sie. Sie werden mich wirklich verbinden, wenn Sie Abendbrot mit uns essen wollten.«

Der Oberst hatte gegen ein Abendbrot nichts einzuwenden. Er war zwar ein mäßiger Mann, mäßig im Essen, mäßig im Trinken und mit wenigem zufrieden; aber auch ein mäßiger Mann muß Abendbrot essen.

»Ja,« sagte der Oberst, sich dem Fenster nähernd, »ich bin aber nicht allein.«

Und dabei warf er einen hausväterlichen Blick auf die Straße, wo sein Pferd, sein Hund und sein Diener noch einträchtiglich beisammenstanden, der Leutnant mit gesenktem Haupt und in tiefem Nachdenken, abwechselnd bald den rechten und bald den linken Vorderfuß vor sich auf das Pflaster setzend; der Korporal von Zeit zu Zeit melancholisch mit dem kurzen Schwänzchen wedelnd und der Major diesen Bewegungen seiner Untergebenen mit der größten Aufmerksamkeit folgend. Der neugierige Haufe hatte sich zerstreut; denn die Welt ist nun einmal so, daß auch das Interessanteste sie nur so lange fesselt, als es den Reiz der Neuheit hat; und außerdem fing es an dunkel zu werden. Nur noch einen Zuschauer hatte die Gruppe, nämlich den Kutscher Schnellpfeffer, der zur Abwechslung jetzt am Pfosten der Haustür lehnte, statt an dem der Stalltür, und sein Auge wohlgefällig auf den dreien ruhen ließ.

Herr Grandidier war in Sachen der Gastfreundschaft von einer höchst liberalen Gesinnung; aber er hegte einige 67 Zweifel darüber, wie sein Kutscher Schnellpfeffer den Fall beurteilen würde, und unschlüssig steckte er den Kopf zum Fenster hinaus.

Aber Schnellpfeffer hatte sein stilles Vergnügen an der armseligen Gesellschaft. Die drei traurigen Gestalten amüsierten ihn, und er lächelte vor sich hin, indem er den Rauch seines Pfeifchens behaglich in die Dämmerung blies.

»Dem Kracken da könnt' et ooch nich schaden, wenn er mal in unseren Stall röche,« sagte er in dem vollen Bewußtsein seiner Position, als Herr Grandidier sich oben zeigte.

»Meinen Sie?« erwiderte Herr Grandidier, über die Maßen erfreut, daß sein Kutscher in so guter Laune war. »Und die beiden anderen?«

»Na,« versetzte Schnellpfeffer, indem er sich aus seiner bequemen Stellung erhob, »die jehören doch wohl zusammen, un was der Himmel zusammenführt, det soll der Mensch nich trennen. Et wär' ooch schade drum; man könnte sie vor Jeld sehen lassen.«

Damit gab er dem Major einen Wink, worauf dieser den Leutnant losband, dem Korporal pfiff und mit beiden zusammen dem Kutscher folgte.

»Wie heeßt de denn eejentlich?« fragte Schnellpfeffer, nachdem er den Zug durch den dunkeln Hausflur nach dem Hof geführt hatte, er immer voran, die linke Hand in der Tasche seiner roten Weste.

»Eejentlich heeß' ick Bollermann. Der Herr sagt immer Major zu mir, aber du kannst mir Bollermann nennen.«

»Un der kleene Köter?«

»Der heeßt eejentlich Schrippe; denn, will ick dir sagen, er danzt immer vor Freuden, wenn er man bloß 'ne Schrippe zu sehen kriegt. Aber der Herr nennt ihn »Korporal«, un denn wird er immer melanchol'sch.«

»Et muß 'ne schöne Haushaltung sind,« meinte Schnellpfeffer, indem er mit einer herablassenden Bewegung seines Kopfes nach dem Stalle wies, in welchen Bollermann das geduldige Pferd hineinzog.

Stumpf geworden gegen die Leiden des Lebens sowohl als gegen dessen Freuden, ergab sich das Tier mit Resignation in den Genuß des Hafers, welcher vom Tische des Überflusses gefallen war, und weder zutraulich noch schüchtern nahm es seinen Platz in einer gemessenen Entfernung von den beiden 68 anderen Gäulen, welche mit einem starken Gewieher an ihren Ketten rasselten und den Boden stampften.

»So,« sagte Schnellpfeffer hierauf mit dem Ton des Beschützers, »nu komm,« und er blieb vor dem Souterrain stehen, in welchem ein mächtiges Feuer hell loderte und auf dem Kochherd viele Töpfe lustig brodelten. »Rieke,« rief er hinunter, »wir haben Besuch bekommen, en Pferd, 'nen Hund und 'nen Mann in 'm Reitfrack.«

»So,« versetzte Friederike, das glühende Antlitz von ihrer Arbeit erhebend.

»Des Pferd haben wir im Stall unterjebracht, der Hund wird sich schon wat suchen, aber der Mann ist mein Jast. Un nu, Rieke, mußt du uns ooch wat Ordentliches uf 'n Tisch bringen – 'ne Suppe, die Courage hat, un nachher 'nen Kümmelkäse mit 'ner Weißen. Aber daß du mir nich wieder mit so 'ner abjestandenen kommst. So 'ne Weiße muß musizieren, wenn man sie uffmacht, sonst hat's keene Art.«

Bollermann gingen die Augen über, als er von all diesen guten Dingen reden hörte.

»Na,« rief er, »das muß man sagen, in so 'nem herrschaftlichen Hause! So 'n herrschaftlicher Herr Kutscher!«

Seinem großmütigen Patron tat es nicht wenig wohl, sich also bewundert zu sehen, wenngleich er eine Miene der äußersten Geringschätzung und Kaltblütigkeit annahm. Heimlich aber dachte er: »Na warte, dir will ick et zeigen,« entfernte sich auf einen Augenblick in sein Kämmerlein, welches dicht neben dem Stalle war, und kam kurze Zeit darauf in einem langen weißen Tuchrock mit roter Litze und einer großen weißen Mütze mit einer breiten Goldborde wieder zum Vorschein.

Schnellpfeffer hatte sich viel davon versprochen; aber Bollermanns Erstaunen übertraf noch seine Erwartungen.

Ordentlich blaß ward er unter seinem kurzen Schnurrbart, mit seinem zerknitterten Hut und fadenscheinigen Frack, als er seinen stattlichen Gastfreund erblickte.

Dieser aber, als ob er es nicht bemerke, lud ihn ein, mit in die Domestikenstube zu kommen, wobei ihm, indem er voranging, die Schöße seines langen weißen Kutscherrockes um die Beine schlotterten.

Auf der obersten Stufe des kleinen Treppchens blieb Bollermann stehen.

69 »Du,« rief er dem Voranschreitenden nach, welcher sich mit einer würdevollen Gemessenheit umkehrte, so daß man ihn noch einmal in seiner ganzen Herrlichkeit sah, »soll ick dir vielleicht lieber ›Sie‹ nennen?«

Worauf Schnellpfeffer, sich wieder zum Gehen wendend, erwiderte:

»Ins alljemeine heeß ick zwar ›Sie‹, doch du kannst mir immerhin ›Du‹ nennen.«

Unten angelangt – denn das Treppchen führte in die Domestikenstube hinunter – nahmen beide an der festlichen Tafel von weißgestrichenem Kienholz Platz, und Schnellpfeffer behielt zur Erhöhung der Feier die Mütze mit dem Goldstreifen auf dem Kopf.

Dem armen Knüppel sollte es an diesem Abend nicht so wohl werden, denn die ganze Familie ward erwartet und kam, einer nach dem anderen, zuerst der Herr Kanzleirat mit Frau, dann Herr Süchier mit Frau, zuletzt auch Professor Bestvater, der gar nicht einmal eingeladen war. Aber wenn es etwas Gutes im Hause gab, so kam er, auch wenn er nicht eingeladen war, als ob er es durch ganz Berlin hin riechen könne. Der alte Knüppel war sonst ein gemütliches altes Haus, aber diesen Professor Bestvater haßte er von ganzer Seele. Er gönnte ihm nicht den Platz, auf dem er saß, und nicht den Bissen, den er in den Mund steckte. Nach seiner Ansicht war er nämlich ein Lump, der oben immer das große Wort führte und unten, wenn es ans Trinkgeld ging, immer sagte: »Knüppel, ich habe heute kein kleines Geld bei mir.« Einmal hatte er ihm eine blanke Münze in die Hand gedrückt, welche der alte, ehrliche Knüppel aber nicht annehmen wollte, weil er meinte, daß es ein Goldstück sei. Worauf der Professor gesagt hatte: »Behalt es nur, Knüppel, behalt es nur.« Und als er es bei Lichte besah, da war es ein blanker Dreier.

Inzwischen waren die Vorderzimmer erleuchtet worden, und nachdem es Schnellpfeffer seinem Gast bequem gemacht hatte, bat Herr Grandidier den seinen, gefälligst eintreten zu wollen.

Er öffnete die Tür zu einem großen Zimmer, welches sein Licht aus der halbgeöffneten Tür eines daranstoßenden empfing. Dieses erste Zimmer war die Putzstube, wie man in Berlin sagt; es war das schönste des Hauses und ward 70 daher nie oder so gut wie nie gebraucht. Es standen die schönsten Möbel darin, aber niemals hatte ein Mensch gesehen, von welcher Farbe, Form und Gestalt sie waren, und noch weniger hatte ein Mensch jemals in ihnen gesessen. Denn sie waren alle, Stühle, Sessel, Fauteuils, Puffs, Chaiselongues und Sofas, ja sogar die Rückenkissen und Fußbänke, mit einem weißen, steifen, ungemütlichen Leinenstoff überzogen. Man sah von allen Stücken nur die schwarzen Füße, welche mit einer Art von ungastlichem Trotz aus der weißen Umhüllung hervorstanden. Der Kronleuchter von Goldbronze war mit weißer Gaze bekleidet, die vergoldeten Spiegelrahmen mit weißem Tüll, die Platten der Tische mit braunem Wachstuch, und sogar der Fußboden selber, welcher mit einem Teppich bedeckt war, zeigte außerdem noch lange, schmale Leinwandstreifen, gleichsam die Straßen, auf welchen es allein erlaubt war, dieses Zimmer zu durchwandeln.

Über einen solchen Leinwandstreifen führte Herr Grandidier seinen Gast, dessen Sporengeklirr einen eigentümlichen Schall hervorrief in diesem großen und halbdunkeln Raum, und außerdem die übrigen Gäste, welche in dem Nebenzimmer versammelt waren, auf sein Nahen vorbereitete. Dennoch waren sie nicht wenig erstaunt, als sie zuerst Herrn Grandidier beide Flügel der Tür weit öffnen und dann, unter den lebhaftesten Freudenbezeugungen desselben, den Mann eintreten sahen, der vorhin so laut mit den Sporen geklirrt und dessen olivengrüner Reitfrack, braune Plüschweste, Schnurrbart und rote Nase nicht gerade den anmutigsten Eindruck machten, als er sich nun unter dem vollen Licht des Familienzimmers zeigte.

Frau Luise Dorothea Grandidier, als braves Weib gewöhnt, ihrem Gemahl immer auf halbem Wege entgegenzukommen, erhob sich von ihrem Sitz, einem bequemen Lehnstuhl von braunem Leder. Rechts und links von ihr saßen ihre beiden Töchter, zwei junge, hübsche, blühende Frauen, während deren Gatten, der Kanzleirat, eine ziemlich dürre, hagere Beamtenfigur, und Herr Süchier, ein mittelgroßer, wohlbeleibter, jovialer Geschäftsmann, mit dem Professor Bestvater, der sie von den fashionablen Neuigkeiten der Stadt Berlin unterhielt, im Gespräch standen.

Als der Oberst an der Hand des Herrn Grandidier sein Entree gemacht hatte, wandten sich alle Blicke nach ihm, und 71 die verschiedensten Empfindungen malten sich auf den Gesichtern.

»Sollte ich den nicht kennen?« flüsterte der Herr Kanzleirat, »diese Nase ist mir schon einmal begegnet, ich müßte mich sehr täuschen, oder dieser Mann ist ein Demokrat,« setzte er in einem etwas bedenklichen Ton hinzu.

»Ein Demagoge!« sagte der Professor, indem er sich ängstlich nach einer Rückzugslinie umsah, die ihm aber abgeschnitten war, denn er stand schon am Ofen, »und zwar von der allerschlimmsten Sorte.«

»Der Mann gefällt mir,« sagte Herr Süchier, »und ich kann es um so offener eingestehen, als er uns bei unseren Frauen nicht gefährlich werden wird.« Und er begleitete seine halbleise Äußerung mit einem gutmütigen Lachen.

»Sagen Sie das nicht, Herr Süchier,« rief der Professor in einem wehklagenden Tone, »dem Mann ist nichts heilig, ich kenne ihn, er ist ein Republikaner, ein Atheist und ein Don Juan . . . Er ist ein gefährliches Subjekt, und ich begreife nicht, wie Herr Grandidier . . .«

Herr Grandidier hatte seinen Gast bis in die Mitte des Zimmers geführt, und hier blieb er stehen.

»Diesen Mann seht euch an,« rief er in einer Anwandlung von guter Laune, wie man sie lange nicht mehr an ihm bemerkt hatte. Denn in der Tat, die Verstimmung, die sich aus dem Verhältnis zu seinem Sohn ergeben, hatte sich seiner je länger desto mehr bemeistert. Aber jetzt war er auf einmal wieder der alte, heitere, gesprächige Herr Grandidier, indem er dem Obersten vertraulich auf die Schulter klopfte und dabei ausrief: »Ein kapitaler Mann – Herr . . . Herr . . .« Er wollte ihn den Anwesenden vorstellen, aber da fiel ihm ein, daß er seinen Namen noch gar nicht wisse. »Herr . . . Herr . . .« wiederholte er und blickte ihn fragend an.

Mit einem Ausdruck großer Ungeniertheit, als ob er hier schon jahrelang ein und aus gegangen, hatte der Oberst sich im Zimmer umgesehen.

»Ach,« rief er, indem er sich der Frau Luise Dorothea nahte und ihr die Hand bot, »die würdige Gattin meines Freundes Grandidier!«

»Seien Sie mir herzlich willkommen,« sagte diese, ohne zu wissen, wen sie eigentlich so herzlich willkommen heiße.

»Und diese Damen hier sind die liebenswürdigen . . .«

72 »Meine älteste Tochter Lottchen, Frau Kanzleirat – meine zweite Tochter Berta, Frau Süchier,« stellte Frau Grandidier vor.

Es lag etwas in dieser steifen, unbeholfenen und doch zutraulichen Art des Obersten, was ihn nicht lange fremd bleiben ließ in irgendeinem neuen Kreise, nachdem er einmal in denselben eingetreten war. Herr Süchier, dessen ganzes Herz er gleich bei seinem ersten Erscheinen gewonnen, kam ihm ebenso ungeniert entgegen als jener sich bewegte, und rief, indem er ihm die Hand schüttelte:

»Bin sehr erfreut! Bin sehr erfreut!«

Der Herr Kanzleirat war von einer etwas vorsichtigeren Natur, was er ja wohl auch der Würde des preußischen Staates schuldig war, die er in diesem Hause vertrat.

Er machte eine sehr zeremoniöse Verbeugung, die jedoch der Oberst nicht gelten ließ.

»Wir müssen uns schon einmal gesehen haben,« rief er mit der lauten Stimme, die ihm eigentümlich war. »Sind Sie nicht einmal Schreiber gewesen?«

»Kanzlist, bitte zu bemerken,« beeilte der Herr Rat ihn zu verbessern – »Geheimer Kanzlist . . .«

»Ja,« sagte der Oberst, »aber früher, früher, sind Sie da nicht Schreiber bei der siebten Deputation gewesen?«

Dem Herrn Kanzleirat fing es an kalt und warm zu werden; denn die siebte Deputation ist bekanntlich die Kriminalabteilung für politische Vergehen.

»Das ist aber schon lange her,« besann er sich, »ich war damals noch sehr jung, es war im Jahre achtundvierzig –«

»Ganz recht,« rief der Oberst in einem jubelnden Ton aus, »da hatten Sie mich schön in der Klemme . . .«

»Sie sind doch nicht . . .?« fragte der Herr Kanzleirat mit einer Anwandlung von Entsetzen, denn er kannte jetzt die rote Nase wieder, obwohl sie damals noch nicht ganz so rot, aber noch viel frecher gewesen war.

»Doch ich bin . . .«

»Sie haben . . .«

»Ich habe den Schutzmann . . .«

»Numero 104 an der Ecke der Oberwallstraße . . .«

»Diesen Burschen . . .«

»Bitte zu bemerken,« unterbrach ihn der Herr Kanzleirat indigniert.

73 »Der die Fahne der Universität,« fuhr der Oberst fort, ohne sich irremachen zu lassen, »nicht respektierte, als sie an ihm vorbeigetragen wurde, dem habe ich mit dieser Hand eine Ohrfeige gegeben.« Und triumphierend blickte er im Zimmer umher, um den Beifall zu ernten, welchen diese denkwürdige Tat nach seiner Ansicht für alle Zeiten verdiente.

Doch nur Herr Süchier lächelte ihm zu.

»Das hätte ich an Ihrer Stelle auch getan!« sagte er.

»Sie wurden damals in der schlimmen Zeit freigesprochen, weil zwar bewiesen ward, daß Sie gerufen, man solle dem Wächter des Gesetzes eine Ohrfeige geben, doch nicht bewiesen werden konnte, daß Sie es wirklich getan. Und dann kam ein wüster Haufe . . .«

»Das souveräne Volk stand hinter mir,« sagte der Oberst mit großer Kaltblütigkeit; »und ich hoffe, daß es immer hinter mir stehen wird!«

»Er hat mit der Ohrfeige nur renommiert,« sagte der Kanzleirat, indem er sich zum Professor umwandte, »er hat nur renommiert, verlassen Sie sich darauf. Der gibt einem Schutzmann keine Ohrfeige . . .«

»Aber er ist ein Hochverräter nichtsdestoweniger,« entgegnete der Professor, der bei jedem Fortschritt des Obersten in der Gesellschaft immer bleicher geworden war.

Denn wenn sonst niemand von den Anwesenden – er kannte den Obersten, er fürchtete sich vor ihm und verwünschte die Stunde, die ihn in dieses Haus geführt hatte.

Aber es half ihm nichts; die Reihe kam auch an ihn.

»Die Herren kennen sich wohl schon?« fragte Herr Grandidier.

»Habe nicht die Ehre,« stammelte der Professor.

»Erlauben Sie,« entgegnete der Oberst, »die Ehre, Sie nicht zu kennen, ist ganz auf meiner Seite. Sie sind der Professor und ich bin der Oberst – das wird zwischen uns beiden genügen.«

»Bitte zu bemerken,« redete der Kanzleirat dem Professor zu, »das geht aber nicht so! Wer sich unerlaubte Titel beilegt, für den gibt es doch noch einen Paragraphen im Strafgesetzbuch.« Und er zitierte den Paragraphen.

Aber dem Professor ward bänglich zumut.

»Lassen Sie,« sagte er, »lassen Sie!«

Mit heiterem Gesichte hatte sich hierauf der Oberst der Gesellschaft wieder zugekehrt.

74 »Im übrigen,« sagte er mit seinem kurzen, trockenen Lachen, »heiße ich Scharf, Fritz Scharf, bin Referendarius außer Dienst, wohnhaft zu Berlin in der Krausenstraße und veranlagt in der Steuerrolle Numero 11 303 . . .

»Ein famoser Kerl,« kicherte Herr Süchier in der Freude seines Herzens, »ein ganz famoser Kerl! Nein!« rief er dann, indem er auf ihn zutrat und ihm die Hand bot, »ich werde Sie, wenn Sie erlauben, immer nur Herr Oberst nennen. Das ist ausgezeichnet.« Und er fing wiederum an zu kichern und zu lachen. »Kommen Sie, Sie müssen sich mit meiner Frau unterhalten, die versteht auch einen Spaß.«

Damit führte er ihn zu den Töchtern des Hauses zurück.

»Also das ist Frau Lottchen . . .«

»Bitte zu bemerken,« räusperte sich der Herr Kanzleirat in einer entfernten Ecke des Zimmers.

»Nein,« sagte der fröhliche Herr Süchier, der gar nicht aus dem Lachen herauskam. »Lottchen ist die gestrenge Frau Kanzleirat; meine Frau heißt Berta.«

In der Tat war ein Unterschied zwischen den beiden Schwestern. Die Frau Kanzleirat hatte etwas von der Würde ihres Mannes angenommen, während Frau Süchier mit ihren dunkelbraunen Augen unbefangen heiter in die Welt sah und so lebenslustig war wie ihr Gemahl.

Aber der tapfere Oberst nahm es mit allen Gemütsverfassungen auf.

»Frau Lottchen und Frau Berta!« sagte er, indem er an ihrer Seite Platz nahm, denn zu seinen anderen Eigentümlichkeiten gehörte auch diese, daß er die Damen seiner Bekanntschaft niemals bei ihren Familien-, sondern immer bei ihren Taufnamen nannte, und bald war er mit Frau Süchier in einer lebhaften Konversation, bei welcher selbst die rigorose Frau Kanzleirat nicht umhin konnte, zuweilen zu lächeln, aber allerdings unter Wahrung ihrer Würde.

Auch dieses Zimmer war mit einem Luxus ausgestattet, wie nur der solide Reichtum sich ihn erlauben kann: die Tischplatten von Palisander, die Gardinen und Vorhänge vom feinsten Stoff, die Sessel mit schweren blauen Damastbezügen, mit vielen Quasten, Troddeln und Gold, aber die meisten mit bedenklich geraden Lehnen und alle zum Schutz bei etwaiger Berührung mit weißen, viereckigen, gestrickten Deckchen versehen, die aus den Händen der unermüdlichen 75 Frau Luise Dorothea hervorgegangen waren. An den mit einer kostbaren Ledertapete bekleideten Wänden hingen in mächtigen Rahmen von einer ausgesucht reichen Vergoldung die Porträts der preußischen Regenten, vom großen Kurfürsten angefangen; und dieses Bild war durch einen Lorbeerkranz ausgezeichnet, welcher alle Jahre am neunundzwanzigsten Oktober mit einem frischen vertauscht ward.

Das Gespräch, nämlich das, welches der Oberst, Herr und Frau Süchier führten, war im besten Gang, als die Tür sich leise, fast zaghaft öffnete und Eduard hereinkam. Er war ein auffallend hübscher junger Mann geworden, aber gedrückt, eingeschüchtert, ohne den Schwung und das natürliche Feuer seiner Jahre, mit den Spuren vorzeitigen Kummers im Gesicht, welches dadurch vielleicht nur noch anziehender erschien, wenn es sich auch meist von den Dingen um ihn her teilnahmlos abwandte. Doch kaum hatte der Oberst ihn gesehen, als er sich auch schon rasch erhob und ihm entgegeneilte mit dem Ausruf: »Siehe da, mein vortrefflicher junger Freund!«

Eduard erschrak, dann ward er ganz rot, stammelte in seiner Verlegenheit einige Worte, suchte sich zu fassen und seine vorige Haltung wieder anzunehmen. Aber ein Sonnenstrahl wie von etwas Freudigem blieb dennoch auf seinem Gesichte.

»Nun, mein junger Freund, wie geht es mit der Malerei?« fragte der Oberst in seiner lautesten Stimme.

Dieses Wort in diesem Hause schlug wie ein Blitz nieder, und sämtliche Anwesenden fühlten sich in der einen oder anderen Weise davon getroffen.

Der Oberst beendete das peinliche Schweigen.

»Ich will nicht hoffen, daß Sie die Sache aufgegeben haben!« rief er fast drohend. »Hören Sie, Herr Grandidier,« und dabei nahm er die Miene des feierlichen Ernstes an, »ich bin kein ganz schlechter Kenner, ich verstehe mich etwas auf die Sache, aber das sag' ich Ihnen: in diesem jungen Manne steckt ein Künstler ersten Ranges – allerersten Ranges.«

Da jedoch loderte das Feuer auch in Herrn Grandidier wieder auf. »Dieser junge Mann ist ein Fabrikant,« sagte er, »und ich will von einem Künstler absolut nichts hören.«

Aber der Oberst fürchtete sich vor Herrn Grandidier ebensowenig als vor irgend jemand auf der Welt. »Warum denn nicht?« entgegnete er. »Und ob Sie nun wollen oder nicht. Sie haben es doch nicht mehr in der Hand.«

76 »Ich habe es nicht mehr in der Hand?« brauste Herr Grandidier auf.

»Nein, lieber Mann,« entgegnete der Oberst sehr gelassen, »der ist Ihnen entwachsen.«

»Und woher kennen Sie ihn denn überhaupt?«

»Sollte ich den nicht kennen, meinen jungen, talentvollen, nein, mehr als das, genialen Freund! Hab' ich ihn nicht im Hause von Samuel Fränkel oft genug gesehen?«

»Samuel Fränkel?« rief Herr Grandidier entrüstet, »ist das nicht der Trödler vom köllnischen Fischmarkt? Wie kommt mein Sohn in das Haus dieses Trödlers?«

»Erlauben Sie, Herr Grandidier,« wandte der Oberst ein, »Samuel Fränkel ist durchaus kein Trödler, er ist ein Kaufmann mit einem sehr wohlassortierten Lager und seit Jahren schon mein Lieferant für Hüte, Reitfräcke, Plüschwesten, mit einem Wort für alles, was ich an mir trage.«

»Das sieht man wohl!« sagte Herr Grandidier, indem er einen verächtlichen Blick auf die Garderobe des Obersten warf. »Das hätte ich mir gleich denken können!«

Aber wenn es schwer war, den Obersten aus der Fassung zu bringen, so war es noch schwerer, ihn zu beleidigen. Er nahm nichts übel, und wenn er wirklich einmal etwas übelgenommen hatte, so vergaß er es bald wieder.

»Beleidigen Sie meinen Freund Samuel Fränkel nicht!« fuhr er fort. »Und wie der junge Mann dort zu Samuel Fränkel gekommen ist? Nichts einfacher als das: er hat in dem Hause desselben gemalt.«

»Aber Samuel ist doch, soviel ich weiß, ein Geschäftsmann und kein Maler.«

»Nein, das nicht; aber in seinem Hause wohnt ein Maler und bei dem nahm Ihr Sohn Unterricht.«

»Was!« schrie Herr Grandidier. »Er hat mich hintergangen! Hinter meinem Rücken hat er Malunterricht genommen?«

»Vater!« sagte Eduard in einem bittenden Ton, indem er beide Hände über der Brust zusammendrückte, »verzeih mir! Ich habe nur meine Freistunden dazu benutzt!«

Aber mit einem durchbohrenden Blicke sah ihn der Vater an, er erhob die Hand, und es ist nicht zu sagen, zu welchem Äußersten ihn seine Erregung hingerissen hätte, wenn nicht eben der alte Knüppel eingetreten wäre mit der Meldung:

»Das Essen ist auf dem Tische!« 77

 


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